Der Tagesspiegel, April 2009
„Bitte schön, hier haben Sie Ihr Leben zurück.“ Das denkt Silvia Oberhack jedes Mal, wenn sie Menschen ihre Stasiakten überreicht. Sie arbeitet bei der Birthlerbehörde. Mehr als 1,6 Millionen wollten bisher ihre Akten lesen. Das sind 1,6 Millionen Entscheidungen gegen das Vergessen und das Nichtwissenwollen.
Silvia Oberhack geht rückwärts zur Arbeit. Sie macht sich morgens auf in den neuen Tag und kommt in der Vergangenheit an.
Die Vergangenheit ist ein Ort aus Asphalt und Beton. Klobige Häuserblocks hocken beieinander, versperren den Blick, machen Wege zu Sackgassen. Einst waren sie das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR. 1950 im alten Finanzamt von Berlin Lichtenberg eingerichtet, wuchs es wie ein Geschwür, bis es sich 19 Hektar Stadt einverleibt hatte.
Silvia Oberhack wurde 1954 geboren. Die Stasi war die bösartige Krankheit, die ihrem Leben in der DDR innewohnte. Sie hat sie überlebt. 1992 entschied sie, nicht mehr als Lehrerin in der Erwachsenenbildung zu arbeiten, sondern in der Stasiunterlagenbehörde (BStU). Sie ging nach Lichtenberg, wo die alten Dienstgebäude des MfS Schatten warfen. Oberhack hat Akten gelesen, Fotos und Filme gesehen, Tondokumente gehört, die der Geheimdienst anfertigte. Sie blickt hinter Kulissen, in denen sie 35 Jahre lang selbst gelebt hat. „Da stinkt es so fürchterlich, dass einem schlecht wird“, sagt sie. „Fröhlich macht das nicht. Aber ist man fröhlicher, wenn man nicht weiß, was wirklich passiert ist?“ Silvia Oberhack geht gern rückwärts zur Arbeit.
So lange, wie sie das tut, wird im Osten und Westen unseres Landes mit der BStU gehadert. Man will sie abschaffen. Im Sommer 2008 beschloss das Bundeskabinett, dass über die Zukunft der Behörde erst in der nächsten Wahlperiode entschieden wird. Das klingt nach Galgenfrist. Irgendwie gnädig. Viel zu nüchtern. Denn die Stasiunterlagenbehörde gehört zum Besten, was die wiedervereinigten Deutschen hervorgebracht haben.
Als tausende DDR-Bürger am 15. Januar 1990 vor dem MfS demonstrierten, saß der 24-jährige Theologiestudent David Gill mit seiner Freundin in einem Restaurant in Mitte. Tags darauf sah er im Fernsehen, dass die Menschen das Gelände in Lichtenberg besetzt hatten. Er fuhr hin, weil sie jeden Mann brauchten, um zu verhindern, dass Akten vernichtet wurden. Tage später war er kein Student mehr, sondern Koordinator des Bürgerkomitees zur Stasiauflösung. Es begann die Zeit, durch die der schmale Pfarrerssohn aus der Oberlausitz mit einem Lada der MfS-Hauptabteilung Terrorbekämpfung raste und die er in einem Presseinterview als „rauschhaft“ bezeichnete.
Während Gill die Hinterlassenschaften der Stasi einsammelte, bündelte und bewachte, wollte man sie in Ost und West bereits vernichten. „Vergangenheit ruhen lassen“ nannte man das, warnte vorm „Sprengstoff“ in den Akten. Zwar beschloss die Volkskammer der DDR, die Akten zu sichern und zu öffnen, doch wollte der Westen das so nicht im Einigungsvertrag haben. Weil die Volkskammer geschlossen protestierte, weil Bürgerrechtler erneut das Stasigelände besetzten und in Hungerstreik traten, hat am Ende der rauschhaften Zeit, im Dezember 1991, der Bundestag das Stasiunterlagengesetz (StUG) verabschiedet.
So etwas wie das StUG gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Es ermöglicht Menschen, Akten zu sehen, die ein Geheimdienst über sie anfertigte. Zugleich beschützt es sie, da es Dritten den Einblick verwehrt. Es gewährt Opfern Rechtsanspruch auf Täterunterlagen. Es gestattet Auskunft über Politiker, Amtsinhaber, Beamte, Richter, sogenannte Personen der Zeitgeschichte. Aufklärung ist dem StUG wichtiger als persönliches Interesse. Es ist die Lehre, die das wiedervereinigte Deutschland aus der dürftigen Aufarbeitung der NS-Hinterlassenschaften gezogen hat. Das StUG ist Geschichtsbewusstsein in Gesetzesform.
Der ehemalige Pastor und DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck wurde Chef der Behörde. Im Berliner Hauptsitz und den Außenstellen suchte die Behörde nach Akten. Sie half, die Angestellten in ostdeutschen Ämtern zu überprüfen. Informelle Mitarbeiter (IM) wurden enttarnt, ein vertrauenswürdiger Öffentlicher Dienst entstand. „Uns schlug Wohlwollen von allen Seiten entgegen“, erinnert sich David Gill, der als Pressesprecher an Gaucks Seite war.
Als in Brandenburg massenhaft Lehrer aufflogen, war die ehemalige Bürgerrechtlerin Marianne Birthler dort Bildungsministerin. Wenn die heutige Bundesbeauftragte, die 2000 das Amt von Gauck übernahm, nach den Akten gefragt wird, erzählt sie, wie die Brandenburger damals miteinander über ihre Verstrickungen in die Vergangenheit sprachen. Wie sie gemäß dem StUG um Antwort auf die Frage rangen, wie jeder einzelne Fall zu bewerten ist. Marianne Birthler erzählt, dass nach tagelangen Gesprächen nur die Hälfte der Brandenburger Lehrer entlassen wurde. Vielleicht erinnert sie sich so gern, weil es einst schien, als könnte Gesetzeskraft konstruktive Gespräche erzeugen. ?Ich habe nie erwartet, dass die Behörde das Offenlegen von Fakten in anderen gesellschaftlichen Bereichen auslöst“, sagt David Gill. „Man hat sich einfach an der Stasi abgearbeitet.“ Er hat die BStU 1992 verlassen und Jura studiert. Er trägt Anzug und Krawatte, arbeitet als Stellvertreter des Bevollmächtigten des Rates der EKD in einem hellen Büro am Gendarmenmarkt. „Rauschhafte Zeit, hab ich das wirklich gesagt?“, fragt er.
Schon als Gill die BStU verließ, hatte das Volk ihr den Namen des Chefs gegeben. Gauckbehörde, später Birthlerbehörde, das klang nicht mehr nach gemeinsamem Willen. Die Folgen der Überprüfungen, die Jagd nach Akteninformationen, die auf dem Medienmarkt einen hohen Wert besaßen, Schlagzeilen sowie die scheinbare Präzision, mit der zur „richtigen“ Zeit die „richtigen“ Leute zu Fall gebracht wurden, verursachten landesweit eine fiese Atmosphäre, die der Behörde angelastet wurde. Sie war mitten in der Gesellschaft angekommen, entfernte sich zugleich mehr und mehr von ihr. Erst kürzlich gab es Vorwürfe, die Behörde habe Akten von Bundestagsabgeordneten aus politischen Gründen zurückgehalten.
Mit der ersten Akte, die sie las, begann Silvia Oberhack sich zu wundern: über das beträchtliche Stück DDR-Wirklichkeit, das ihr entgangen war. Über mangelnde Reflexion, über all die Fragen, die sie sich nicht gestellt hatte. Die Lehrerin mit dem rötlichen Schimmer in der dunklen Kurzhaarfrisur, die nie in einer Partei war, dafür von Herzen aufrichtig, wollte in der BStU ihren Beitrag zur Wende zu leisten. Nun saß sie in einem ehemaligen Stasibüro und stellte sich selbst infrage. Sie sagt: „Das Wundern hat bis heute nicht aufgehört.“ Sie hat vielen Menschen ihre Akten überreicht. Stets hatte sie einen Satz im Kopf: Bitte schön, hier haben Sie Ihr Leben zurück!
Bis Mitte 2008 hat die BStU weit über sechs Millionen Auskünfte erteilt, Einsichten gewährt, Informationen herausgegeben. Die Behörde geht davon aus, dass 1,6 Millionen Menschen ihre Stasiakten gelesen haben. Marianne Birthler sagt: „Das sind 1,6 Millionen Entscheidungen gegen das Schweigen und Nichtwissenwollen. Für Aufarbeitung.“
So mancher Aufarbeiter erklärte Silvia Oberhack nach dem Lesen, warum er IM gewesen war. Sie sagte: „Das ist Ihre Sache.“ Opfer erzählten Horrorgeschichten. Sie sagte: ?Ich glaube Ihnen.“ Das StUG nennt sie „Schtug“ und hält sich dran wie die Fromme an die Bibel. Verteilt Adressen von Beratungs- und Rechtsstellen. Sagt: „Den Rest müssen Sie selber tun.“ In der Behörde lagert die Vergangenheit. Wer einen Blick drauf geworfen hat, kann die autonome Entscheidung fällen, sie hier hinter sich zu lassen.
„Ich gebe Informationen raus. Die Gesellschaft muss selbst wissen, wie sie damit umgeht“, sagt Silvia Oberhack, die heute ein Ressort leitet, das Fotos, Filme, Daten- und Tonträger des MfS auswertet. Sie beobachtet, was mit ihren Informationen geschieht. Mehr nicht. „Wenn man anfängt, das moralische Unrecht draußen zu bedenken, hat man hier drinnen schon verloren.“
Weil sie Gerechtigkeitsfanatikerin ist, hat Karin Kopka 1992 in der BStU angefangen - für die Hälfte des Geldes, das die 43-jährige Lebensmitteltechnologin vorher in der Industrieforschung verdient hatte. Ohne Computer, mit Zetteln, Karteikarten, Kästchen hat sie die Behörde mit aufgebaut. Jetzt sitzt sie in dem hellen, renovierten Gebäude in Mitte, leitet ein Ressort, das Auskünfte an Forscher und Presse erteilt. Auch sie hat bei der BStU dazugelernt. Etwas, das sie eigentlich wusste: „Dass es Gerechtigkeit nur vom jeweiligen Standpunkt aus gibt.“
Mithilfe ihrer Aktenrecherchen sind wertvolle Bücher, gute Filme, viele wissenschaftliche Dokumentationen entstanden. Mitunter recherchiert sie über Jahre hinweg. „Es geht mir ums Nichtvergessen“, sagt sie, „darum, Denkmäler zu setzen.“ Zu bestimmten Anlässen, historischen Gedenktagen, häufen sich die Anträge. Die Presse wünscht Auskunft zu Politikern, Amtsträgern, Prominenten, meist dringend. Mitunter rufen Justiziare aus Redaktionen an. „Es ist gut, dass Medien die Fälle unterschiedlich bewerten“, sagt Karin Kopka, „das ist Meinungsfreiheit.“
Aber Absolution für das, was aus den Akten veröffentlicht wird, gibt sie nicht. Sondern verteilt das Gesetz. Ein Auszug aus dem StUG hängt an jeder Kopie, die sie aushändigt. Das Gesetz schützt Menschen, die sich als Befehlsabhängige mit der Stasi eingelassen haben. Menschen, die minderjährig waren. Es befiehlt, Gegendarstellungen in die Akten aufzunehmen. In Hochzeiten der Enttarnungen hat sich außerhalb der Behörde kaum jemand an das Gesetz gehalten. „Die rituelle Form der medialen Auseinandersetzung, in der parteipolitisch, vorurteilsvoll, zweckmäßig abgeurteilt wurde, hat den entscheidenden Prozess, den die Behörde in Gang setzt, immer wieder gebremst“, sagt der Historiker Jens Gieseke, der kurz nach Karin Kopka in die BStU kam und dort bis 2008 in der Forschungsabteilung arbeitete. „Das Entscheidende ist das persönliche Erleben in den Minuten, in denen jeder mit seiner Akte allein ist.“
Alle zwei Jahre muss die Behörde dem Parlament berichten. Im letzten Tätigkeitsbericht steht: „Entgegen weit verbreiteter Meinungen wurden Überprüfungen nicht vom bzw. von der Bundesbeauftragten veranlasst und durchgeführt.“ Obgleich die Zeit der ständigen Enthüllungen, Überraschungen und Enttäuschungen vorbei ist, obgleich sich Marianne Birthler daran erfreut, dass zunehmend junge Wissenschaftler, Studenten und Schüler der Behörde andere Fragen stellen als die Alten, weniger nach Tätern suchen als vielmehr nach dem Warum und Weshalb, hat die BStU immer noch einen schlechten Ruf. Eiserner Besen, Rachegöttin sind Titulierungen, die Marianne Birthler auf die Frage, wie die Menschen über sie denken, anführt. Keiner nennt sie so. Sie hält Vorträge, wird gern als Gesprächspartnerin geladen, aber aus den netten Worten am Ende der Veranstaltungen hört sie die Vorurteile heraus: „Wir danken Ihnen für die sachlichen Informationen“, sagen die Leute.
In Leipzig, wo einst die Wende eingeleitet wurde, wo der Sturm auf die Stasi begann, hat Renate Kranz' Leben einen Verlauf genommen, der dem der Behörde ähnelt. Die kleine 58-jährige Chemikerin mit der Brille und den kurzen Haaren arbeitete im Gummiwerk, bis es nach der Wende liquidiert wurde, war dann im Außendienst für eine Nürnberger Firma. Weil sie sich in Leipzig nützlich machen wollte, ist sie 1993 zur BStU-Außenstelle im ehemaligen Stasigebäude am Dittrichring gegangen. Sie war zehn Jahre in der privaten Akteneinsicht. Hat erlebt, wie aufgeregt die Menschen kamen. Hat ehemalige IM sagen hören: Zum Glück ist das alles vorbei. Hat bemerkt, dass Arbeitslose die Akten schwerer verkraften als Menschen, denen es gut geht. Dass Leute missmutig abzogen, weil ihre Akten nicht dick waren.
Und dann hat Renate Kranz die Akten verlassen. Jetzt bearbeitet sie Forschungsanträge, organisiert Informationsveranstaltungen und empfängt Besucher. Manchmal vier Leute, manchmal 240. „Der Herbst 89“, hebt sie zu ihrem Vortrag an, „ist den Älteren unter Ihnen vielleicht noch ein Begriff.“ Dann führt sie die Menschen in Räume voller Archivmaterial. Erzählt den Leipzigern, wie die Stasi mit ihrer Post umging, Telefone abhörte, Wohnungen durchsuchte. Dabei hat sie ein kleines Lächeln auf den Lippen. ?Ich will, dass die Leute nicht so betroffen rausgehen“, sagt sie. Bei ihren Führungen mutet die Behörde nicht mehr wie ein Sprengstofflager an, sondern wie ein Museum. Nüchterne Zahlen rücken in den Mittelpunkt: 112 Kilometer Schriftstücke hat die Stasi in Ostdeutschland hinterlassen, 39 Millionen Karteikarten, 1,4 Millionen Fotos, 2747 Filme und Videos, etwa 35 000 Tondokumente, 15500 Säcke zerrissenes Material. „Für Besucher, die es wünschen“, sagt Renate Kranz, „hab' ich genügend traurige Geschichten parat.“
Zu den traurigen Geschichten gehört eine, die Marianne Birthler immer wieder erlebt: Sie bittet die Menschen, zu schätzen, wie viele 1989 für die Stasi gearbeitet haben. Man nennt zweistellige Prozentzahlen. Das Überwachungsgefühl, das vom MfS ausging, wirkt noch immer. „Es waren knapp zwei Prozent. Die Akten beweisen, dass die überwiegende Mehrheit der DDR-Bürger anständig geblieben ist“, sagt sie dann. Und im Osten glaubt sie zu sehen, dass das Publikum plötzlich aufrechter steht.
Da die wenigen Bürgerrechtler 1989 so etwas wie das gute Gewissen der DDR waren, hat sich das Land in der Vergangenheit von ihnen helfen lassen. Marianne Birthler wollte das so machen: alle Schränke und Türen öffnen und jedermann in die Stasigebäude lassen. Aber Moment mal, haben Westdeutsche, Menschen mit juristischem Sachverstand, gefragt: Schon mal was von Datenschutz gehört, vom Persönlichkeitsrecht? Dass die Akten auf den Rechtsstaat trafen, Betroffene auf Nichtbetroffene, Ost auf West, hat die Stasiunterlagenbehörde erst möglich gemacht. Ausgerechnet im Osten, wo offenes Reden nicht gerade Kulturgut war, ist eine einzigartige Kommunikation entstanden. „Die Ostdeutschen sollten stolz sein auf diese Behörde“, sagt Marianne Birthler.
Nadja Klinger