GEO SPECIAL "Syrien und Jordanien", 1/2011
Der Tag, der ihr glücklichster sein soll, ist gleichzeitig ihr traurigster: Eine Braut, die vom Golan nach Syrien heiratet, darf nie mehr in ihre israelisch besetzte Heimat zurückkehren. Die Geschichte eines Familiendramas im langen Schatten des Nahostkonflikts.
Vielleicht hat Nihal in den letzten zwei Jahren Gefallen daran gefunden, im Straßencafé zu sitzen und eiskalten Mangosaft zu trinken. Oder sie hat die Abende genutzt, um sich mit Damaskus, ihrer neuen Heimat, anzufreunden, wenn der Wind aufkam, den Wüstensand wegwehte und endlich die Farben zum Vorschein brachte. Vielleicht streift sie mit Rabie durch die Gassen, wo alte Männer auf Plastikstühlen vor den Haustüren sitzen und Wasserpfeifen rauchen. Dunkel sind diese Gassen, gerade und lang, an den Enden blinkern die ganze Nacht die Fenster der teuren Villen am Quasyun-Berg. Vielleicht gehen Nihal und Rabie Hand in Hand. Sie sind Cousine und Cousin. Sie tragen Eheringe. Sie sind ein ganz besonderes Paar. Sie vom Golan, er aus Syrien. Und heute ist der 27. September 2010, ihr zweiter Hochzeitstag.
Vor zwei Jahren sind sie die rund 60 Kilometer vom Golan in bis Damaskus mit dem Auto gefahren. Die Mitarbeiter des Komitees vom Roten Kreuz, die das Brautpaar von Israel weg durchs entmilitarisierte Niemandsland geführt hatten, verloren es auf syrischem Boden aus den Augen. Die Mission war erfüllt. Trotzdem haben sie uns nun geholfen, die Nihal und Rabie ausfindig zu machen. In der Stadt, in der rund 1,7 Millionen Menschen leben und täglich dreimal so viele unterwegs sind, wo kaum jemand eine Adresse hat, da es keine Postleitzahlen und selten Hausnummern gibt. Sie haben uns geholfen, denn was wir uns fragen, fragen sich die Rotkreuz-Mitarbeiter auch: Finden zwei, die an der Front zusammenkommen, ihren Frieden? Ihr Glück?
Eine Telefonnummer in einer Wohngegend am Stadtrand, Nihal ist am Apparat. Wir laden sie zum Essen ein. Sie zögert. Rabie soll entscheiden. Er überlegt. Dann sagt er zu. Aber. Nur wenn das Rote Kreuz dabei ist.
Im modernen Stadtzentrum wird das Abenddunkel von den Schaufenstern der Geschäfte erhellt. Aus ramponierten gelben Taxis krauchen Menschen, zupfen an ihren Frisuren, streichen mit den Handflächen über ihre Kleider, entschwinden zum Einkaufen oder zum Essen. Plötzlich sind Nihal und Rabie da. Beide breit lachend. Hand in Hand. Der Kellner im Restaurant serviert den Mangosaft in bauchigen Gläsern und mit bunten Strohhalmen. Wir stoßen an. Unser Geschenk befindet sich in einer Schachtel. Nihal knüpft das Schleifenband auf. Sie hebt den Deckel an, späht hinein und lässt den Deckel sofort wieder los. Lächelt den Kellner an. Der reicht ihr die Speisekarte.
Nihal liest nicht in der Karte und schmeckt das Essen nicht, das Rabie für sie bestellt. Wie so oft, seit sie in Damaskus angekommen ist, rauben die Erinnerungen ihr die Sinne. Sie holt den Stapel Fotografien aus der Schachtel und packt ihn auf den Tisch. Nimmt ein Bild nach dem anderen. Fotos von ihrer Hochzeit. Sie lacht. Verzieht dann urplötzlich ihr Gesicht. Legt die Hände an die Wangen, als könnte sie ihre Gefühle so in den Griff bekommen. Reibt sich die Augen, klammert sich an ihren Mann, holt tief Luft, lässt los - und taucht in die Vergangenheit.
Golanhöhen, Israel, 25. September 2008. Die Braut ist schön. Ein Mädchen in reinem Weiß. Eine Frau, unter deren Bewegungen der Tüll rauscht. Die dunklen Augen mit schwarzem Strich gerahmt. Die hohen Wangenknochen zartrot gepudert. Auf den Lippen kussechter Glanz. Nihal Arin Safadi, 24 Jahre alt, sieht aus wie eine Barbiepuppe. Wie ein Wunsch. Nicht echt.
Bald wird Rabie auf sie zugelaufen kommen. Schon aus der Ferne wird sein Blick sie umarmen. Wenige Schritte vor ihr jedoch wird er innehalten. Zunächst sollen sich ihre Väter begrüßen, dann hat sich der Bräutigam dem Schwiegervater zuzuwenden. Die Braut wird abseits stehen und zusehen, wie Rabie sich an die Regeln hält. Der Wind wird um ihr dunkles Haar streifen, das zu einer prächtigen, mehrere Kilo schweren Frisur aufgesteckt worden ist.
Aber noch ist es nicht so weit. Noch bleiben Nihal ein paar Stunden. Sie will nicht dran denken. Sie versucht, ein passendes Gesicht zu machen zu einem Tag, für den sie eigentlich zwei Gesichter bräuchte. Es misslingt. Während sie an der Fassade arbeitet, meutern die Emotionen in ihr. Papiertaschentücher stoppen ihre Tränen, ehe sie die schwarze Wimpernfarbe über die rosigen Wangen spülen. Heute ist Nihals Hochzeit. Und es ist Krieg. In den Steinchen ihres Diadems funkelt die kräftige Septembersonne des Nahen Ostens.
Der mehrere Hundert Dollar teure Frisör, der ihr Frisur und Make-up verpasst hat, ist der beste auf dem Golan. Heute Morgen um fünf ist sie mit ihren Freundinnen zu ihm in den Laden nach Majdal Shams gefahren. Um acht haben sie die Journalisten rein gelassen, die sich für die ungewöhnliche Hochzeit interessieren. Wie eine Diva hat Nihal in Kameras gelächelt und in Mikrofone gesprochen. Sie begann: „Ich bin glücklich und traurig zugleich.“
Sie hat ihren Text aufgesagt, der davon handelt, dass ein Mensch sein Leben beendet, um weiter zu leben. Mutter und Vater, die beiden Brüder und die Schwester, Onkel, Tanten, der Lieblingsneffe und die Freundinnen sind durch diesen Text gegeistert und haben an Nihals Nerven gezerrt. Es ist der Text der Golanbräute, jener Drusinnen, die in ihrem Dorf heiraten, sondern oben auf der holprigen, von Stacheldraht gesäumten Straße. Umgeben von Radaranlagen, Wachtürmen und Postenhäuschen. An der Waffenstillstandslinie zwischen Israel und Syrien. Wo Presseleute Kriegsberichterstatter sind, Soldaten der Vereinten Nationen und Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) die Hochzeit überwachen. Wo die Braut ihr Zuhause im Rücken hat, wenn sie dem Bräutigam in Richtung Syrien folgt. Auf die Zukunft zu, während israelische Soldaten hinter ihr das Tor zur Vergangenheit schließen. Wo es kein Zurück mehr gibt.
Wenn Nihal beim Reden plötzlich geweint, wenn sie sich gar schluchzend an seine Schulter geworfen hat, hat der Friseur zu Haarspray und Schminke gegriffen und nachgebessert.
Der Golan, ein 25 Kilometer breites Basaltplateau zwischen Syrien, Israel und dem Libanon, erhebt sich auf einer Länge von 60 Kilometern nach Norden bis 1200 Meter übers flache Land. Die Tage hier sind sonnig und trocken, die Abende kühl. Von karg bewachsenen Hängen rinnen Bäche, im Frühling sind die hohen Ebenen mit Blumen übersät, im Sommer und Herbst reifen Kirschen, Beeren, Äpfel und Wein. An der Westseite der Golanhöhen befinden sich die Wasserressourcen Israels. Dort fließt der Jordan, dort liegt der See Genezareth. Im Norden thront das knapp 3000 Meter hohe libanesisch-syrische Hermongebirge, nach Osten fällt das Land bis Damaskus ab.
Im Sechs-Tage-Krieg 1967 eroberte Israel den Golan. Die Araber, die hier wohnten, flohen nach Syrien. Nur eine kleine Religionsgemeinschaft blieb: die Drusen, die den Koran auf ihre Weise interpretieren und der Erde unter den Füßen mehr verbunden sind als einem Staat. Sie leben im Libanon, in Syrien, im israelischen Karmel-Gebirge und halten zusammen, indem sie nur untereinander, oft innerhalb der Großfamilien heiraten. Rund 18 000 Drusen verharren auf dem Golan. Ihre Häuser sind eckig, farb- und schmucklos und stehen da wie an den Hang gewürfelt. Zwei Generationen von Golandrusen kennen nur das Leben mit israelischen Soldaten, die von Wachtürmen auf sie herabsehen und sie an Checkpoints kontrollieren. Majdal Shams, das größte Drusendorf, ist durch die israelische Annektierung geteilt.
Mit einem Überraschungsangriff eroberte Syrien im Oktober 1973 Teile des Hochplateaus zurück. Israel wehrte sich, ein Waffenstillstandsabkommen stoppte den Krieg. Seither kontrollieren Soldaten der Vereinten Nationen eine entmilitarisierte Pufferzone an der Ostseite des Golan. Die Einhaltung der Vierten Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegsgebieten überwacht das IKRK.
Gegensätzliche Informationen vom Leben auf dem Golan spiegeln den Krieg. Es heißt, anders als im Westjordanland, spüre man hier die Besatzung nicht. Die rund 18 000 jüdischen Siedler seien den Drusen gute Nachbarn. Am Hermon, wo sich jährlich bis zu 350 000 Besucher einfinden, würde man ungeachtet der Herkunft und der Religion gemeinsam Ski fahren. Lediglich ältere Drusen warteten drauf, wieder Syrer zu sein, die jüngeren jedoch wollten die Vorteile der offenen israelischen Gesellschaft nicht missen.
Es heißt aber auch, die Besatzung sei allgegenwärtig. Golanhänge sind mit Minen übersät. Gelbe Schilder warnen, hin und wieder rollt Munition auf Straßen oder Terrassen, verletzt Menschen. Nihal beklagt, dass die Eltern Wasser, das im Boden unterm Dorf reichlich vorhanden ist, von den Israelis kaufen. Dass sie Hebräisch lernen und selbst fürs Skifahren israelische Erlaubnis einholen musste. Sie erzählt: Als sie nach Jordanien gereist ist, um sich mit ihren Cousin Rabia zu verloben, hätten die Israelis sie an der Grenze ein Formular für israelische Hundebesitzer ausfüllen lassen. Wo nach dem Namen des Hundes gefragt war, musste sie den ihren eintragen, bei Herrchen und Frauchen die ihrer Eltern. Nihal sagt, Golandrusen verweigerten israelische Pässe. Wer einen besitze, sei gezwungen worden.
Es gibt keinen Grenzverkehr zwischen Israel und Syrien. Einzig auf dem Golan wird die Waffenstillstandslinie hin und wieder passiert. Wenn Drusen, die in Damaskus studieren, für die Sommerferien heimkehren, sind UN-Soldaten und das IKRK dabei; auch wenn einmal im Jahr Gläubige vom Golan zu den Syrischen Pilgerstätten ziehen.
Dass der Golantransit, der als Akt der menschlichen Vernunft daherkommt, sich eher wie Kriegswahn ausnimmt, sieht man an - den Äpfeln. Sie werden im April, Mai am israelischen Tor verladen: auf einen Lastkraftwagen mit weißer Plane, rotem Kreuz und Schweizer Kennzeichen. Ewig haben Israelis, die hinter dem Lenkrad keinen Araber haben wollten, und Syrer, die keinen Westeuropäer duldeten, um die Nationalität des Fahrers gestritten. Nun reist jedes Jahr zur Erntezeit ein Mann aus Kenia an. Seine Fahrstrecke durchs Niemandsland beträgt 200 Meter. Er steht bei den UN-Soldaten, wenn das Obst am syrischen Tor abermals umgeladen wird: in neutrale Kisten, da Syrien kein hebräisches Schriftzeichen ins Land lässt. Für Tausende Tonnen Golanäpfel fährt der Kenianer mehrere Wochen hin und her.
Schließlich übertreten seit 20 Jahren Bräute die Waffenstillstandslinie, etwa einmal im Jahr, ab und zu kommen sich zwei entgegen. Stets rücken Journalisten aus aller Welt an. Mit Hilfe des IKRK setzen die Drusen die Tradition, innerhalb der Gemeinschaft zu heiraten, fort. Sie behaupten sich, indem sie zusammenhalten, zugleich sie sich der Unmöglichkeit aus, einander je wieder zu sehen.
Vom Friseur zurück, drängt Nihal durch einen Menschenauflauf ins Elternhaus. Das ganze Dorf ist gekommen. Eine Freundin versperrt hinter ihr die Tür: „Lasst sie allein!“ Nach einer halben Stunde ist die Braut wieder da. Die Augen wässrig und gerötet.
Einer Woche zuvor haben Rotkreuzmitarbeiter in Jerusalem von der israelischen Militärbehörde erfahren, dass am 25. September eine Braut nach Syrien gehen kann. Sie haben die Kollegen in Damaskus informiert, dann Nihal. Sie haben Papiere besorgt, sich um den Zeitplan gekümmert, darum, wie viel Kilo Gepäck der Braut gestattet ist, wie viele Personen sie ins Niemandsland begleiten dürfen.
Für eine drusische Familie ist die Zahl 30 klein. Tagelang ist in Nihals Haus diskutiert und gestritten worden. Missgunst hat die gütige Verwandtschaft befallen. Es ist nicht um eine Hochzeitsfeier gegangen, sondern um die eine Stunde, in der für die in zwei Teile gerissene Familie Unmögliches möglich sein wird: die Begegnung von Brüdern und Schwestern, Eltern, Kindern, Großeltern, Enkeln. Der Vater hat die Entscheidung auf sich genommen. Auf seine Tochter hat er keine Rücksicht nehmen können. Ihr Lieblingsneffe wird nicht unter ihren Gästen sein.
„Nihal heiratet!“ Die Nachricht ist rasch durchs Dorf getragen worden. Während die Braut durch die Straßen streifte, an der Schule und den Plätzen der Kindheit vorbei, haben ihre Tanten gekocht und gebacken. Seit drei Tagen belagern Verwandte und Freunde das Elternhaus. Im Männerzimmer wird die Wartezeit abgesessen und zerredet. Die Frauen schauen Nihal beim Packen zu, empfangen den Schmuckverkäufer suchen und das Gold aus, das jede drusische Braut mitbekommt. Seit drei Tagen wird im Haus Kummer geschluckt, zusammen mit Gemüse, Fleischbällchen, Nüssen, Gebäck, kandierten Pistazien, süßem Kaffee, Cola, Fanta, Sprite. Dutzende Schachteln Papiertücher werden herum gereicht. Seit drei Tagen wird bei Nihal daheim geweint.
In den Nächten, die zu diesen Tagen gehörten, hat Nihal im Bett gelegen und auf die dunklen Schatten im Zimmer gestarrt: Koffer, Taschen, Kisten. Wie ein brutaler Einbrecher hat der Gepäckstapel vorm Bett gestanden, abreisebereit. Sobald ihr jemand guten Tag gewünscht hat, ist Nihal in Tränen ausgebrochen. Sie hat Geborgenheit gesucht, dann wieder das Weite. Weil kein Kind eine traurige Mutter erträgt. Wie hypnotisiert hat sie auf einer wilden Abschiedsparty mit ihren Freunden getanzt.
Nun schenkt einer ihrer Brüder den Menschen vorm Haus Kaffee ein. Er ist gegen die Hochzeit. Den Ort, den seine Schwester verlässt, nennt er Heimat. "Sie wird es bereuen!", sagt er laut. Nihal gefällt das nicht. Sie beschwert sich bei den Eltern. Aber auf den Bruder, den man verliert, kann man nicht wütend sein. Sie greift nach seiner Hand, küsst ihn auf die Wange, küsst ihn wieder und wieder. Der zweite Bruder kommt hinzu. Sie führen die Braut zum Auto. Der Weg ist wenige Meter lang. Endlos.
Ein Nachbar filmt, was geschieht. Seine Kamera stolpert die Ereignisse. Alte Frauen unter weißen Kopftüchern stimmen Klagelieder an. Ein Schritt, jemand will sich verabschieden, die Braut hängt sich an ihn. Ein Schritt, die Braut wirft sich dem Nächsten an den Hals. Lautes Schluchzen. Sie zerrt an ihrem Lieblingsneffen. Sie lässt ihn verzweifelt los. Ein Schritt, der Junge hat sich fest geklammert. Ein Schritt, die kleine Tochter der Freundin wirft sich heulend in den Tüllrock.
Dann hängt die Braut am Vater. Der alte Mann sackt über der Tochter zusammen. Kameras und Fotoapparate rücken näher. Der Zeitplan drängt. Die beiden lassen voneinander ab. Ein Schritt. Noch einer. Jammernd stürzt sich die Tochter wieder auf den Mann. Sanft schiebt er sie weg, wendet sich ab, zieht am Bildrand sein großes, feuchtes Taschentuch aus der Jacke, schnäuzt.
Als Nihal ins Auto steigt, hat sie den Schleier vorm Gesicht. Sie sitzt starr. Brüder und Freundinnen bemühen sich, den Tüllrock vollständig ins Fahrzeug zu stopfen, ehe sie die Tür zuschlagen. Der Konvoi nimmt die Serpentinen in einem fort hupend, so wie Hochzeitskolonnen überall auf der Welt.
An der Waffenstillstandslinie erklärt das IKRK den Ablauf. Es geht um Formalitäten, Zeiten, Schritte. Um die zwei gelben Gittertore, die passiert werden müssen. Um Posten, Wachtürme, Antennen und Radaranlagen, die das Gelände markieren, das nicht betreten werden darf. Um Israelis in Tarnanzügen und UN-Soldaten mit blauen Mützen. Die Drusen dürfen im Niemandsland keinen Ärger machen. Ausgerüstet mit Kühlboxen und Plastikbeuteln voller Essen, mit Kaffeekannen, Geschirr und Besteck, hören Nihals Verwandte zu. Hinter ihnen liegt der einwöchige Abschiedsmarathon. Vor ihnen eine Stunde Familientreffen. Sie sind dem Schicksal ergeben und erschöpft. Einfach harmlos. Der israelische Wachmann lächelt. Nach den 30 zugelassenen Gästen winkt er weitere durch. Das erste Tor. Das zweite. Zusammen mit der Mutter verlässt Nihal als Letzte das Land.
Hier ein Minenfeld, dort ein Minenfeld, Stacheldraht. Nihal hält inne. Dreht sich um. Kameramänner und Fotografen, die alle nicht weiter dürfen, bedrängen Zaun und Posten. Am rechten Handgelenk trägt Nihal eine weiße Kette. Beim Winken legen sich die Perlen in den Wind. Die Braut ist so schön traurig. So schön hoffnungsvoll. Ein Star.
Und sie geht weiter. Mit großen Schritten über staubigen, holprigen Boden. Der Tüllrock schleift. Den weißen Brautstrauß hat sie fest im Griff. Sie hält ihn nicht wie ein Blumenbouquet, sondern wie ein Licht. Wie der Fackelträger das Olympische Feuer. Vor ihr liegt die Hoffnung, dass alles gut wird. Hinter ihr: die Grenzstation. Die Aufschrift: Welcome to Israel. Die Fotoapparate rattern wie Maschinengewehre.
Auf der syrischen Seite geht die Schranke hoch, Verwandte kommen angerannt. Eine Frau mit Säugling, allen voran, gerät fast ins Stolpern. Gekreische, Gesänge, Freudentänze, wieder Tränen. Wie Wellen schlagen zwei Teile einer Familie ineinander, über Nihal und Rabie hinweg. Der Bräutigam trägt Anzug und Krawatte. Er küsst nicht, er reißt seine zukünftige Frau nicht an sich, er umarmt sie mit einem tröstlichen Blick.
Am Holztisch im IKRK-Häuschen, genau in der Mitte zwischen israelischen und syrischen Grenzanlagen. werden Nihal und Rabie von einem syrischen Geistlichen getraut. Derweil wird draußen das Buffet errichtet und es wird hastig gegessen. Niemand setzt sich, niemand schweigt beim Kauen. Nach 60 Minuten schüttelt ein Rotkreuzmann die Glocke.
Nihals leben auf dem Golan endet jetzt. Der Abschied läuft nicht reibungslos ab. Emotionen sind nicht folgsam. Die Drusen werden gebeten, ermahnt, angetrieben. Sie gehen nach zwei Seiten ab. "Ich rufe dich immer an!", schreit die beste Freundin. Das Versprechen ist alles, was Nihal bleibt. Von Syrien aus führt keine Telefonnummer nach Israel, nur umgekehrt kann man anrufen.
Handover, heißt das Papier, auf dem vermerkt ist, was heute geschah: „Israel übergibt eine Bürgerin des Golan an Syrien.“ Wie Stückgut gerät die Braut in ihr neues Leben. Es ist der 25. September 2008. Weitere Bräute warten, aber sie bekommen keine Erlaubnis mehr. Bis heute.
Vom Golan aus wurde die Braut einst zur Tante gebracht. Sie blieb zwei Nächte, dann haben die Männer der Familie, so ist es drusische Tradition, sie zur Hochzeitsfeier geholt. Rabie zog den Ring ab, den Nihal seit Jordanien an der rechten Hand trug, und steckte ihn auf die linke. Der Hochzeitskuchen hatte sieben Etagen. Sie mussten den schweren Säbel gemeinsam halten, um anzuschneiden. Fast 600 Gäste waren da, viele Drusen, die es vom Golan nach Syrien verschlagen hatte. Nicht die Heirat im Niemandsland, sondern die Feier zwei Tage später in Damaskus nennen Nihal und Rabie ihren Hochzeitstag.
Am Morgen nachdem sich das Ereignis zum zweiten Mal gejährt hat, sehen wir uns bei Nihal zu Hause die Fotos, die damals bei der Feier in Damaskus entstanden sind. 16 Stunden hat es gedauert, bis jeder Gast mit der Braut abgelichtet war. Von halb neun am Morgen bis nach Mitternacht hat sie in die Kamera gelächelt. Sie kannte kaum jemanden von denen, die mit ihr posierten. Sie war allein wie nie. Schließlich bat sie der Fotograf, sich vors Sofa zu setzen. Er drapierte das Brautkleid, bis der Steinfußboden vollständig vom Rock bedeckt war. Auf dem Bild sieht es aus, als stecke Nihal bis zur Hüfte im Meer. Als würde sie im Tüll ertrinken.
Rabies ganze Großfamilie wohnt mit dem Paar unter einem Dach. Im kleinen Wohnzimmer des Paares steht ein Sofa, ein Tisch, ein Regal mit Deckchen, Fotoalben, Fernseher, Hochzeitsbild. Das Fenster führt in einen vergitterten und überdachten Vorhof. Es gibt nur künstliches Licht. Es gibt Chams. Das Mädchen mit den großen, dunklen Augen und dem schwarzen Haar ist neun Monate alt. Chams heißt Sonne. Die Sonne wurde mit zwei Löchern im Herzen geboren. „Das war nicht leicht“, sagt die Mutter. „So ohne meine Eltern.“
Bald nach der Hochzeit verließ Rabie wieder täglich das Haus, um im Familienunternehmen Haushaltswaren und Möbel zu verkaufen. Kam er abends heim, saß seine Frau mit Fotos vom Golan da und weinte. Kommunikationsportale wie Facebook sind in Syrien verboten, für Internetanrufe ist die Verbindung im Haus zu langsam. Nihal kann nur hoffen, dass ihr Telefon klingelt. Manchmal ist der Bruder dran. „Heul nicht!“, sagt er. „Ich hab dich gewarnt.“
Rabie sagt: „Sie ist immer noch fremd hier. Sie hat noch keine richtigen Freunde.“ Nihal versucht zurechtzukommen. Der Verkehr verstopft die Straßen, es gibt weder Fahrspuren noch Regeln, es gab Hupverbot ab vier Uhr nachmittags. Die Damaszener hielten sich dran, benutzten dafür Trillerpfeifen und schlugen mit Stöcken auf Kühlerhauben ein. Schwer hängen die Abgase über der Stadt, die Atemluft kratzt im Hals. Nihal mag die Altstadt, die ist eng, schattig, still und von einer Mauer umgeben. „Richtige Freunde findet man nur in der Kindheit“, fügt sie hinzu. „Nur zu Hause.“
Rabie legt den Film ein, den der Nachbar einst auf dem Golan beim Verabschieden gedreht hat. Kann Besatzung Zuhause sein? Nihal sagt nichts, schaut ihren Mann an, der nie in ihrem Dorf war. Es klingt nicht gut, wie er über Israel, über das frühere Leben seiner Frau redet. Im Fernseher krümmt sich die Braut unter Tränen. Sind sie glücklich, ein Ehepaar zu sein? Wieder schaut Nihal zu Rabie. Er sagt: „Es war allen wichtig, dass wir heiraten. Seit unserer Hochzeit telefoniert die Familie mehr miteinander als vorher.“
Braucht Rabie die Geschichte vom großen Plan, um vor sich selbst zu rechtfertigen, was seine Frau geopfert hat? Die beiden benehmen sich, als ginge es drum, nichts falsch zu machen.
Rabies Handy klingelt. Er geht vor die Tür. Als er das Gespräch beendet, ist er blass. Leise redet er mit Nihal, sie reißt die Augen auf. Eine Tante ist schwer erkrankt, sagt Rabie, sie müssten sofort ins Hospital. Wieder winkt Nihal zum Abschied, so wie einst im Niemandsland.
Tags darauf erfahren wir: Die kranke Tante ist eine Notlüge gewesen. Wir sehen Nihal nicht wieder. Sie kommt vom Golan, sie ist ein Stück Nahostkonflikt und wir sind ausländische Journalisten. Wir forschen nach, versuchen zu ergründen, was vorgefallen ist. Und finden keine andere Erklärung als die: Der syrische Geheimdienst muss Nihal und Rabie verboten haben, uns weiter zu treffen.
Wir streifen durch die Altstadt, Männer verfolgen und fotografieren uns. Auf dem Gewürzmarkt hängen wir sie ab, bald sind andere an uns dran. Im Hotel funktionieren plötzlich die Zimmerkarten nicht mehr. Wir zerreißen Gesprächsnotizen, verteilen Schnipsel auf die Papierkörbe der Rue Al-Hamra-Straße. An einer übersichtlichen Stelle im Park Zenobia wählen wir Rabies Nummer, er geht nicht ans Telefon.
Einmal noch erreichen ihn die Mitarbeiter des IKRK. Er sagt, es sei viel Trubel um ihn herum, er könne nichts verstehen, rufe zurück. Aber er tut es nicht.
„Ich bin glücklich und traurig zugleich“, hat Nihal einst beim Frisör gesagt. Aber Glück ist wohl doch ein Zustand, den Kriegsopfer nie wirklich annehmen können.
Nadja Klinger