Der Tagesspiegel, 17. November 2010
Auf einmal wird öffentlich darüber gesprochen: Schüler mit Migrationshintergrund mobben andere Schüler. Deutschenfeindlichkeit heißt das Reizwort. Viele Berliner Lehrer plagen nun Sorgen: Ist das nicht ein Kampfbegriff der Rechten?
Das Problem hockt mitten im Weg. Rückt nicht zur Seite, macht kein bisschen Platz. Man kommt dran vorbei. Irgendwie. Aber es stört. Sonst wäre es ja auch kein Problem.
Im Herbst letzten Jahres bekam der Berliner Lehrer Gundacker vom Berliner Lehrer Meyer ein beschriebenes Stück Papier in die Hand gedrückt. Er las sehr schnell, denn er las sich durch vertrautes Terrain. „Das Problem ist nicht neu“, sagte er. „Neu ist nur, dass mal einer offen drüber spricht.“
Im Folgenden geht es um den fortwährenden Versuch, Missstände zu beseitigen. Um die aktuellen Nachrichten vom Mobbing an Berliner Schulen. Um die Gefahr, schon in der Debatte ums Problem am Problem zu scheitern.
Als er ein kleiner Junge war, wollte Norbert Gundacker Chemiker werden. Doch während seiner Schulzeit in Bayern zogen knorrige Pauker autoritären Unterricht durch. Das Gymnasium war ein unwirtliches Gerüst aus Hierarchien. Er stellte fest: Viel mehr als Aufbau, Verhalten und Umwandlung von Stoffen interessierten ihn Aufbau, Verhalten und Umwandlung von Schulen. Er hatte jetzt eine Vision.
Anfang der 80er Jahre sah er sich in Berlin um. In so genannten Problemkiezen. An so genannten Restschulen, wo so genannte lernschwache Arbeiterkinder landeten. Genau denen wollte er Bildungserfolge verschaffen. Jahrzehntelang hat Gundacker an der Hauptschule unterrichtet. Er gehört zu jenen Berliner Lehrern, die demnächst zu Tausenden verschwinden. Seine Generation erreicht das Rentenalter. Und zwar ziemlich erschöpft. Er ist 58 Jahre alt. Die Haare, zur Meckifrisur gestutzt, werden grau. Dicht vor den eng stehenden Augen klemmt die kleine, runde Brille. Er sieht aus wie der Igel, der den Hasen beim Wettlauf besiegt, aber niemals wirklich gewinnt.
Die Schule hat er bereits verlassen. Er ist stellvertretender Vorsitzender der Berliner Lehrergewerkschaft GEW. Es bleibt ihm noch eine Wahlperiode, um Spuren im Bildungssystem zu hinterlassen. Den Text von Lehrer Meyer ließ er damals in der GEW-Zeitung abdrucken. Seitdem führt eine Fährte zum Problem. Gundacker hat sie nicht selbst gelegt. Er hat sozusagen das Licht im Wald angeknipst, damit jeder sie sieht.
Kaum war der Text in der Novemberausgabe 2009 erschienen, wurde es ungemütlich auf dem Gundacker eigentlich so vertrauten Terrain. Es hagelte zornige Briefe. E-Mails überschwemmten Postfächer. Die Mitglieder warfen mit Meinungen wie mit Granaten.
Lehrer Meyer hatte nichts Gutes über Berliner Schulen geschrieben: Lernen ist dort kaum möglich, Leistungen sind verpönt, die meisten Schüler hindern andere am Arbeiten, Lehrer bestimmen längst nicht mehr, wo's langgeht, werden ebenso beschimpft und attackiert. Meyer sprach von Schulen an „sozialen Brennpunkten“, die vom Nachwuchs „bildungsferner“ Elternhäuser besucht werden. Von Kindern aus armen, prekären Verhältnissen, deren Familien von Transferleistungen leben. Von Vorurteilen und Verachtung, die diese Kinder aushalten. Davon, dass sie sich behaupten, indem sie andere erniedrigen.
Auch Meyers Berufsleben ist bald zu Ende, er hat nichts mehr zu verlieren. Hat er sich deshalb getraut, das alles aufzuschreiben? Oder kann er den Gedanken nicht ertragen, ein Problem zu hinterlassen, das er schon als junger Lehrer vorfand? In Wedding, in Neukölln, in Kreuzberg sammeln sich Schüler, die nicht motiviert sind zu lernen, weil sie nur gesellschaftliches Abseits kennen. Im Dilemma der Arbeiterkinder, denen sich Hauptschullehrer Gundacker einst zu widmen begann, stecken heute Kinder mit Migrationshintergrund. Ganz fest, irgendwo zwischen Herkunft und Fremdbleiben. Das Problem der Berliner Schule heißt: Es gibt immer einen Verlierer. Das Problem ist größer und größer geworden. Es hat die Hauptschule gesprengt. Es hockt nun auch an anderen Schulformen im Weg.
Lehrer Meyer unterrichtet nicht nur. Er engagiert sich im Landesausschuss für Multikulturelle Angelegenheiten der GEW. Dort geht's so oft um die von ihm beschriebenen Schulen, dass man das Problem praktischerweise abkürzt. Man sagt „ndH“ für „nicht deutschsprachige Herkunft“. Mancherorts beträgt der Anteil an ndH-Schülern über 90 Prozent. „Wir sprechen dann von Schulen zweiter Wahl“, sagt Norbert Gundacker. Meyer schrieb in der Zeitung: Schüler mit Migrationshintergrund unterdrücken die deutsche Minderheit. Vielleicht ist ihm beim Schreiben aufgefallen, wie fatal undefiniert das große Problem obendrein ist. Er konnte es nicht erklären. Erwähnte den Islam. Ein Wort schien passend, bereitete ihm aber Unbehagen: Deutschenfeindlichkeit. Er setzte es in Anführungsstriche. Hielt die Bombe nur hoch, ohne zu zünden. Auf die Problemdiskussion wirkte das Wort trotzdem wie ein Selbstmordattentat.
Im Oktober 2010 sitzt Gerhard Weil auf einem Podium. Er moderiert. Er muss mit wichtigen Fragen so jonglieren, dass keine hinten runterfällt: Wo liegen die Ursachen? Ist der Islam schuld? Wie sinnvoll ist es, das Wort Deutschenfeindlichkeit zu verwenden? Weil ist ein großer Mann. Ein Ganzkörperredner, der fuchtelt, schaukelt, wippt und zumindest schon mal das Mobiliar zum Wackeln bringt. Auch seine Haare, genauer gesagt sein Kinnbart, sind grau. Auch er hat sein ganzes Berufsleben mit dem Problem verbracht.
Er gehörte zu den sechs Prozent eines Jahrgangs, die Mitte der 60er in Berlin die Schule mit Abitur verließen. Er hätte jedes lukrative Studium bekommen. Anfang der 70er fing er als Grundschullehrer an. In Kreuzberg, wo kaum ein Kollege hin wollte, ebenso wenig wie nach Wedding und Neukölln. Griechische und türkische Schüler nannte man „Ausländeranteil“. Nach fünf Jahren ging er vom Unterricht in die Politik. Wurde Referent des Schulsenators. Mittlerweile sagte man: „Ausländerproblem“.
Gerhard Weil sorgte für Integrationsklassen und Vorbereitungsunterricht für Ausländerkinder. Er arbeitete im Ausländerreferat, leitete ein Lehrerfortbildungsinstitut, ist zweiter Sprecher des Landesausschusses für multikulturelle Angelegenheiten. Die Berliner Schule hat sich während seiner Zeit verändert. Sie weiß, was Integration ist. Das Schulgesetz legt Wert auf interkulturelle Erziehung. Immer mehr Schüler nichtdeutscher Herkunft machen Abitur. Die Berliner Schule ist aber auch geblieben, wie sie war. Sie nennt Ausländer jetzt Migranten. Sie geht davon aus: Der Hintergrund, vor dem Migranten leben, ist weit weg. Mancher Lehrer macht Ferien in der Türkei, um etwas über seine Schüler zu erfahren. Dabei leben die in Neukölln. Unsicherer Aufenthaltsstatus, Jobcenter, Aldi, in der kleinen Wohnung viele Geschwister, draußen schlechtes Gerede: über das Herkunftsland der Familie, den Habitus des Vaters, das Kopftuch der Mutter, die gemeinsame Religion. Nach wie vor berücksichtige der Rahmenlehrplan nicht, dass Deutsch für viele Berliner Schüler keine Muttersprache ist, sagt Weil. Ebenso wenig, dass es noch andere weltbewegende Ereignisse gab als die der europäischen Geschichte.
Neben Weil auf dem Podium sitzt Mechthild Unverzagt. Die blonde Lehrerin unterrichtet an einer Neuköllner Gesamtschule, ist Personalrätin. Er spürt, dass sie aufgeregt ist. Er hört sie atmen. Ein Jahr hat die GEW gebraucht, um einen Raum im eigenen Haus zu sichern und die Diskussionsveranstaltung mit Pädagogen, Sozialarbeitern, Wissenschaftlern auf die Beine zu stellen. Außer der blonden Frau da oben, die ihrem Namen alle Ehre macht, hat sich kein weiterer Berliner Kollege gefunden, der bereit ist, Lehrer Meyers Zeitungsbericht aus dem Schulalltag mit eigenen Erfahrungen zu bestätigen. Schon bevor sie richtig in Gang kommen kann, läuft die Debatte nicht rund.
Auch Lehrerin Unverzagt wagt keine Erklärungen. Sie berichtet aus dem Alltag: An ihrer Schule wird jeder drangsaliert, der anders ist. Wegen Herkunft, Religion, guten Leistungen oder weil er sich an Regeln hält. Probleme zu machen bringt Schülern Anerkennung, die ihnen im Unterricht nicht zuteil wird. Es agiert Mehrheit gegen Minderheit. Auch Lehrer werden angegriffen, deutsche Schüler bitten drum, in der Pause nicht auf den Hof zu müssen.
„Man muss ihr dankbar dafür sein, dass sie gesprochen hat“, sagt Gerhard Weil nach der Veranstaltung. Norbert Gundacker hat die ganze Zeit gebangt. „Nestbeschmutzerin wird so eine von Kollegen gern genannt“, sagt er. „Es gibt die Tendenz, die Probleme nicht zu benennen, um den Ruf der Schule nicht zu beschädigen.“ Weil fügt hinzu: „Das System Schule funktioniert mit Abmahnungen und Disziplinarverfahren. Im Beamtentum gibt's keine Demokratie.“ Gundacker hat gehört, wie die Stimme der Lehrerin zitterte, als sie bemerkt hat, dass anwesende Journalisten jedes ihrer Worte notieren.
Die GEW hat die Presse zur Veranstaltung eingeladen. Vor ein paar Jahren, an der Rütli-Schule, deren Brandbrief Norbert Gundacker höchstpersönlich lancierte, hat die Öffentlichkeit Berlins Schulpolitiker gezwungen, sich ins Zeug zu legen. Aber bauen sich jetzt etwa wieder, wie einst vor Rütli, alle möglichen Fernsehsender vor Schulhöfen auf und zahlen Geld dafür, dass Schüler vor der Kamera Rabatz machen? Die GEW hat der Veranstaltung den Titel gegeben: „Der Streit um die sogenannte Deutschenfeindlichkeit“. Das verhängnisvolle Wort, abermals verwendet, sollte Publikum anziehen. Jetzt fürchtet Gundacker die Geister, die er abermals rief. Er hätte gern nur „die ernsthaft interessierte Öffentlichkeit“.
Über eine andere Rednerin steht in den Tagen nach der Veranstaltung nicht so viel in den Zeitungen. Die Politikwissenschaftlerin Pinar Cetin wurde vor knapp 30 Jahren als Tochter türkischer Gastarbeiter in Deutschland geboren. Als Berliner Schülerin begriff sie vor allem dies: Ihre Lehrer hatten keine Ahnung von Herkunft und Religion der Schüler. „Alle wurden über einen Kamm geschoren, wer aus dem arabischen oder türkischen Kulturkreis kommt, gilt als Muslim“, sagt sie. Im Unterricht sollte sie das griechisch-türkische Verhältnis erklären. Die Zypernkrise. „Ich wusste nicht mehr drüber als deutsche Kinder, ich war ja auch immer hier.“ Wenn in irgendeinem muslimischen Land Gewalt gegen Frauen verübt wurde, war ihr, als sollte sie sich rechtfertigen. Mit 16 entschied sie sich für den deutschen Pass und dafür, fortan Kopftuch zu tragen. „Ich sagte mir: Dann zeige ich mich eben so, wie andere mich sehen.“
Dieses Jahr hat Pinar Cetin ihre Diplomarbeit vorgelegt. Das Thema: Islamophobie an Neuköllner Schulen. Leute im Schuldienst berichten, wie im Schulalltag aus Vorurteilen und Unwissenheit Intoleranz und Feindschaft entstehen. Das Unvermögen der Lehrer, die Lebenswelt der Schüler zu verstehen, schreibt Cetin, bringe Kinder dazu, Integration zu verweigern und sich aufs vermeintliche Anderssein zurückzuziehen. Sie arbeitet in Workshops mit Neuköllner Schülern. „Es ist so still in der Klasse, wenn Sie drin sind“, wundern sich die Kollegen. „Die Schüler melden sich ja zu Wort!“ Mädchen erzählen ihr, was Lehrer zu ihnen sagen: Du brauchst nicht zu lernen, du heiratest bald. „Ich nähere mich den Kindern über die Religion. Ich sage: Das hat euer Kalif gesagt! Das akzeptieren sie“, sagt Pinar Cetin.
In ihrem Diskussionsbeitrag vom Podium spricht sie den Lehrern die Opferrolle ab, in der sie sich sehen. „Der Islam ist nicht das Problem, sondern ein Teil der Lösung. Durch die Art, wie man Kinder betrachtet, verändern sie sich.“ Durch die Art, wie man ein Problem betrachtet, wird es ein anderes. Die Berliner Schulen stehen sich selbst im Lösungsweg.
Cetin führt Schüler durch die Moschee, fährt in Teams aus Muslimen, Christen und Juden auf Schuleinsätze, arbeitet für ein Projekt der Bundeszentrale politische Bildung, macht Lehrerfortbildung, Diversitytraining, bietet Workshops zum Nahostkonflikt an, Studientage. Viele Schulen lassen sie wissen: Wir brauchen keine Muslime, die uns einweisen. Der Verdacht liegt nahe: Das Wort von der Deutschenfeindlichkeit wurde nicht fahrlässig ins Spiel gebracht, sondern präzise ausgewählt. Sogar die Bundesfamilienministerin greift es flugs auf und behauptet im schnellen Statement fürs Fernsehen, es habe religiöse Motive. Die „FAZ“ titelte: „Das Gift der muslimischen Intoleranz“. Pinar Cetin sagt: „Das Wort spricht anderen ab, Deutsche zu sein.“
Die GEW hat die Debatte, die sie angezettelt hat, noch nicht aufgegeben. In der nächsten Ausgabe ihrer Monatszeitschrift kann jeder nachlesen, was Pinar Cetin, Mechthild Unverzagt und andere Teilnehmer der Podiumsdiskussion im Oktober zum Thema Deutschenfeindlichkeit gesagt haben. Und dann soll das anrüchige Wort verschwinden. Die Landesdelegiertenkonferenz Anfang November hat entschieden, dass die Gewerkschaft mit ihm nichts mehr zu tun haben will. Basta. Oder doch nicht basta?
Wieder war die Diskussion kontrovers. Man einigte sich darauf, in einem Antrag den „wachsenden antimuslimischen Rassismus“ zu verurteilen. Das Wort von der Deutschenfeindlichkeit andererseits sei von Rechtspopulisten erfunden worden. Als Kampfbegriff gegen das Wort Ausländerfeindlichkeit. Um die Stimmung zu verderben und Fronten aufzumachen.
Norbert Gundacker war sich nicht mit den anderen einig. Er will das Wort nicht den Rechten überlassen. „Ich hätte diesen Antrag nicht verabschiedet, weil ich finde: Die GEW ist klar gegen Rassismus positioniert. Deshalb ist der Antrag überflüssig und lenkt von den Problemen an bestimmten Schulen ab.“
Nadja Klinger