Bitte klicken Sie für eine Leseprobe auf das Cover des jeweiligen Buches.
Wichern-Verlag, Berlin 2014
Der Bestand an Kindheitserinnerungen ist zweigeteilt. Eine Hälfte hängt an einem Straßendorf bei Marienburg in Westpreußen, umfasst die Zeit von 1937, ihrem Geburtsjahr, bis 1945, und besteht aus Stimmen, Farben, Licht, Geruch und Geschmack, die die feste Konsistenz der Heimat haben: der von Bäumen gesäumte am Weg zum elterlichen Gut und der kalte Atem der Brunnenanlage im Hof; das schaukelnde Vorwärtskommen auf dem Rücken der Stute mit dem rötlichen Haar, die Furcht in Anbetracht des Bullen, der im Stall in der ersten Reihe stand, sowie vor dem Moment, da der Truthahn sich aufblähte. Das Gewicht des Eimerchens, nachdem die Kuh gemolken war. „Wenn sie dich mit dem Schwanz trifft, tut es weh. Aber sie meint nicht dich, sie ist durch die Fliegen gestört.“ Der Vater, der oft auch einfach nur mit den Augen sprach, die ihr zeigten, was es zu ackern und zu füttern gab, und die er weit aufriss, so weit, dass sie zusammenzuckte, um ihr etwa dies zu bedeuten: Gib acht da oben auf der Dreschmaschine, denk dran, was mit Max und Moriz geschah, die reingefallen sind!
Wie die Fuhrwerke, die durchs Dorf kamen, bepackt waren! Hausrat, Stoffe, Mobiliar, Tiere. Von Stricken zusammengehalten, zogen die Leben vieler Flüchtlinge an ihr vorüber, Straßentheater, bis da eines Tages auf einem Karren dieser Junge saß: blaugraue Haut, starrer Blick, der Körper wackelte mit dem Gefährt, er lebte nicht mehr, aber fuhr mit, der Tod als Hab und Gut, und nicht im Alter, wie sie es vom Hof und aus dem Dorf kannte, sondern am Beginn des Lebens. Die Mutter schuf Platz, der Vater stellte die Maschinen an die Luft, im Haus und auf dem Speicher übernachteten Flüchtlinge, auch Tante Else traf mit drei Kindern ein, weil es von hier nicht mehr so weit war bis zum Wasser. Und während eine Kuh die Wiese hinterm Dorf, wo die Flak postiert war, mit ihren Fladen verteidigte, sahen sie am Himmel den Großangriff auf Danzig.
Am 8. April 1945 telefonierte die Familie mit dem Vater, den man zur Gendarmerie zitiert hatte, um an der Heimatfront zu dienen. „Ich komme nach“, sagte er zu ihr, der Achtjährigen, seiner Ältesten: „Kümmere dich um deine Geschwister.“ Am 9. kam kein Telefonat mehr zustande, am 10. hieß es, bald würden alle Brücken gesprengt. Sie machten sich auf den Weg. Menschenmassen vorm riesigen Rumpf eines Schiffes im Ostseehafen, die Mutter trug den Dreijährigen und ein Köfferchen mit Papieren und Silberbesteck, die Schwestern, viele Kleidungsstücke übereinander, Tornister auf den Rücken. Wehrmachtssoldaten, die Gepäck aussortierten: „Bleibt hier, bis ihr wiederkommt!“ Doch sie sahen es beim Auslaufen: wie an Land Federbetten zerrissen wurden, wie die rote Stute zurück nach Hause trabte, und dass Menschen, denen schon jetzt die Heimat zu weit weg war, über die Reling ins eiskalte Wasser sprangen.
Dann beginnt der Teil von Traute Peters' Erinnerungen, der aus Bildern und Szenen besteht, die flüchtig sind, weil das Kind deren Bedeutung nicht kannte, weil sie sich an nichts festmachen ließen, weil etwas darin nicht vorkam: Heimat. Stattdessen das Vermissen: den Vater, die Mutter, ein Zuhause.
Das Loch in der Schiffswand, in dem dicke Seile hingen und durch das sie die Möwen sehen konnten; die Halbinsel, von der sie ein noch größeres Schiff wegbrachte, das sich unterm Gewicht der Passagiere bedrohlich zu der Seite neigte, auf der plötzlich Land zu sehen war; die Stille an Bord, als jemand rief: „Das ist nicht die Danziger Bucht, das ist Kopenhagen!“ Was Traute Peters verstand und wiederum nicht: Fortan würde sie in der Fremde sein.
Im Laufschritt an Land, die Geschwister jetzt an ihren Händen, Rempeln und Drängen, plötzlich war die Mutter weg; ein Flugzeughangar, Strohballen für die Nacht, stundenlanges Warten im Stehen, die Tante, die plötzlich in einer der Schlangen stand, eine geräumte Schule, Lager 72, das musste man sich merken. Und dann Ereignisse, die Traute Peters' Leben prägen sollten: die Begegnung mit Menschen, die halfen. Rotkreuzschwestern suchten die Mutter und fanden sie. Die Milizposten gaben Brote her – Scheiben, die so dünn waren wie die Wurst, die drauf lag, und die sie teilten, damit zwei Kinder etwas davon hatten.
Mai 1945, drüben in Deutschland die Kapitulation. Stehen, geimpft und registriert werden, Tee bekommen ... Leute kippten aus den Reihen, Tod durch Erschöpfung, Schilfkränze zur letzten Ruhe, auf dem Friedhof hinter der Schule stand das Grundwasser so hoch, dass die Leichen in den Gräbern schaukelten.
Diese Nacht, in der die Mutter sie weckte. Bauchschmerzen. Hatte schon auf dem Meer geklagt, war tagelang im Schiffslazarett gewesen, nun stand die Tochter vor der Toilettentür, es konnte länger dauern, das wusste sie, hatte ja selbst oft grüne Äpfel gegessen, und so ein Durchfall war unangenehm. Sie hörte die Mutter stöhnen und weinen, und als sie endlich rauskam, lief sie gebeugt. Am nächsten Tag gab sie das Silber weg, um an einen Arzt zu kommen.
Wenn das Leben aus seinen gewohnten Zusammenhängen gerät, muss man versuchen, wenigstens im eigenen Kopf Ordnung zu halten. Mühsam hat Traute Peters als Kind sortiert, und als sie fast 60 war, musste sie erfahren, dass sie nur eine einzige Chance hatte zu verstehen. Als sie Anfang April 1945 von Marienburg aufgebrochen waren, so erfuhr sie nun von Tante Else, hatten die Eltern ein Kind erwartet; und nachts auf der Toilette in Dänemark hatte die Mutter es verloren. Im Krankenhaus hatte man versucht, sie davon zu heilen, rastlos nach diesem Kind zu suchen. Sie war vorerst in den Händen der Ärzte geblieben, während Töchter und Sohn mit den Flüchtlingszügen weiter mussten – das hat ihre Wahnvorstellungen noch verstärkt. Die Mutter erkrankte am Verlust ihrer Kinder, die indes mussten glauben, sie hätte sie aufgegeben.
1952 hat sich Traute Peters in Stuttgart beim Roten Kreuz gemeldet, um ihren Vater suchen zu lassen. Man fand einen Peters, der ebenfalls die Familie vermisste und seine Daten hinterlassen hatte: Landwirt irgendwo bei Danzig, vier Kinder. „Leider nein“, hat Traute Peters gesagt, „wir waren nur drei.“ Sie war 15, konnte nicht wissen, dass dies ihre Chance war, hat sie verpasst und den Vater nie wiedergesehen.
Alexander Fest Verlag 1997
Meine Großmutter Ella will, wenn sie gestorben ist, nicht so lange unentdeckt in ihrer Wohnung liegen. Sie dreht langsam ihren Kopf zu Seite. Das dicke Kissen, auf dem sie liegt, macht ein Geräusch, als hätte sie es durch die unerwartete Bewegung aufgeweckt. Ella schließt die Augen. Sie öffnet leicht den Mund und hält den Atem an. Sie hat noch nie eine Leiche gesehen.
Früher hätte sie an Schneewittchen gedacht. Schneewittchen hatte lange, schwarze Haare, Hände, so zart wie weißer Schnee und Lippen, so rot wie Blut. Wie einst Ella.
Der Tod war für sie damit verbunden, dass jemand trauert. Je schöner sie am Tag ihres Todes sein würde, desto mehr würde man trauern. Doch überall da, wo einst ihre Schönheit war, hat sie nun Schmerzen. Die zarten Füße sind jetzt zu klein, um sicher zu gehen, die früher schlanken Beine dürr und krumm. Die schmalen Hüften tragen nichts mehr, der gerade Rücken biegt sich. Die kleinen Hände zittern und können nichts mehr sicher halten. Die roten Lippen sind verblasst, die Wangen eingefallen, die Augen ziehen sich in die Höhlen zurück. Ella lebt schon zu lange, ihre Schönheit ist vor ihr gegangen. Niemand wird groß trauern, denkt sie.
Ella redet längst nicht mehr davon, dass sie die nächste sein wird. Sie kann überhaupt nicht in ein Telefon reden. Wenn es klingelt, schrickt sie hoch und wundert sich, was das eben für ein Geräusch war. Schließlich hebt sie den Hörer an, ihre Hand zittert, sie lässt ihn wieder fallen. Dann wartet sie. Der Moment des Wartens ist ein feierlicher Moment, denn Ella weiß, was kommt. Sie kann sich einmal sicher sein: In der nächsten Minute wird es wieder klingeln. Sie ist ein bisschen glücklich. Schneewittchen fällt ihr ein. Wie gern würde sie in der nächsten Minute sterben.
Der Wunsch ist ihr so lange nicht erfüllt worden, dass sie ihn nicht mehr ausspricht. Sie hält den Telefonhörer ans Ohr und hört sich an, was sie tun soll: viel essen, viel schlafen, frische Luft zum Fenster hereinlassen, ruhig mal einen ganzen Tag fernsehen. Und sich freuen, dass sie ein so schönes Alter hat.
Ella lebt von Konserven, die ihr Verbrauchsdatum schon in der DDR überschritten haben. Sie rückt sich den Schemel an den Herd. Von hier aus kann sie ihr schönes Alter überblicken: vom muffigen Besenschrank, in dem die klebrigen Schachteln mit zu Klumpen geballten Reinigungsmitteln stehen, über das Waschbecken mit dem verkalkten Wasserhahn bis hin zur Chaiselongue, die sich unter den Jahren biegt wie Ellas Rücken, und den staubschweren Gardinen, die die Sonnenstrahlen gefangen nehmen und in Kopfschmerzen verwandeln.
Ella geht nicht mehr vor die Tür. Sie will die Zeitung abbestellen, weil sie keinen einzigen Buchstaben mehr erkennen kann. „Überleg dir das gut“, rate ich ihr am Telefon aus der Ferne, „das ist die einzige Verbindung zur Welt, die du hast.“
In ihrer Wohnung halten sie die Abführmittel, die sie nimmt, in Bewegung. Donnerstags kommt der Zivi, um für sie einzukaufen. Sie hat den Zettel mit den Einkaufswünschen tief in der Schürzentasche versteckt und bittet den jungen Mann herein. Sie ekelt ihn mit ihren Geschichten über die Schmerzen, die sei auf den Klo ertragen muss, und vertreibt ihn mit ihren Blähungen.
Nachts schläft sie mit offenen Augen. Ihr Leben zieht an ihr vorbei. „Da war nicht viel“, sagt Ella. Deshalb kann sie in einer Nacht ihr Leben mehrmals von vorn bis hinten sehen.
Der einzige Blick, den Ella noch nach vorn richtet, ist der Blick darauf, wie sie wohl aussehen mag, falls man sie erst findet, wenn sei schon eine Weiler tot ist. Und weil man sich nichts für die Vergangenheit, sondern nur etwas für die Zukunft wünschen kann, möchte Ella, wenn sie gestorben ist, nicht so lange unentdeckt in ihrer Wohnung liegen. Ale meine Mutter und ich zu Besuch sind, streicht sie die Kuchenkrümel vom Schoß und spricht den Wunsch aus. Ansonsten redet sie nicht mehr groß vom Tod, sie stirbt einfach. Aber es gelingt ihr nicht, damit zum Ende zu kommen.
Rowohlt Berlin 2006
Als das Handy klingelt, versucht Walter Edler gerade, drei von Monikas Hunden loszuwerden. Er fuchtelt mit den Händen. Monika steht im grünen Anorak in den kahlen Büschen und ruft. Es klingt schrill. Edler setzt ein paar Schritte in ihre Richtung, als wolle er zu ihr. Unter seinen Sohlen knirscht die gefrorene Wiese. Die kleinen, kurzbeinigen Tiere trollen neben ihm her, aber sobald er innehält, sobald er kehrtmacht, um den Park zu verlassen, bleiben sie stehen. Sie trauen ihm nicht. Es sind Hunde mit Vergangenheit. Hunde, die keiner mehr wollte, bevor Monika sie zu sich in die kleine Zweizimmerwohnung nahm. Mittlerweile sechs an der Zahl. Es ist eng, wenn sie zu siebt auf dem Sofa sitzen. Manchmal schneit dann noch Edler rein. Auch für ihn brauchen die Hunde nicht aufzustehen. Er ist Monikas bester Freund, tut alles für sie, aber die Hunde sind Monikas Ein und Alles. Ihre Aufgabe. Um warm zu werden mit dem Leben, muss der Mensch Gutes tun. „Ohne die Hunde gäbe es mich schon nicht mehr“, sagt sie.
Walter Edler fischt das klingelnde Handy aus der Jackentasche und geht ran. „Ich bin noch mitten bei der Arbeit!“, brüllt er. Er kann nicht leise reden. Was unterscheidet den Menschen im Park von den Hunden im Park? Er kann sich äußern. Manchmal ist das fast der einzige Unterschied. Deshalb lässt Walter Edler seine Stimme auftrumpfen. Er redet gegen den Lärm der Straße an. Er wedelt mit der Hand, damit die Hunde kapieren, dass sie ihm von der Pelle sollen, ab zu Monika in die Büsche, weil er mal los will. „Ich meld mich später!“, brüllt er ins Telefon. „Hab noch zu arbeiten!“
Immer wieder klingelt es, während er unterwegs ist. Im U-Bahn-Tunnel von Wandsbek, wo sich alte Bekannte wärmen. Am Ufer bei den Anglerfreunden. Sie haben gerade einen mageren Hecht aus dem Alsterkanal gezogen. Der Fisch hat den Haken so tief geschluckt, dass die Männer das Todesurteil vollstrecken. Das Telefon klingelt auch im kleinen Park nahe dem Kanal, wo Edler Tag für Tag mit den Drogensüchtigen gelungert hat, bis die Polizei das Gelände umstellte und die Stadt Hamburg einen Spielplatz baute. Er sagt den Anrufern nicht, dass es gerade nicht passt, weil in diesem Moment ein Fisch umgebracht wird. Er sagt nicht, dass er gerade mit Freude beobachtet, wie in den Bäumen im Park immer noch diese prächtigen Habichte lauern, die sich die Krähen im Sturzflug aus der Luft holen, um sie zu verspeisen. Er sagt: „Ich habe noch zu arbeiten.“
Er sagt, was andere Menschen sagen. Menschen, die früh aus dem Haus gehen und abends heimkehren. Er spielt Normalität: ein Handy haben, keine Zeit, Rückruf bei der nächstbesten Gelegenheit. Dabei wissen die Anrufer, wie es um ihn steht.
Er spielt für sich selbst. Um warm zu bleiben. Einsatzbereit.
Rowohlt Berlin 2010
Wir setzen uns an den Hang, die Sonne steht schon unter uns, aber eine ganze Menge tröstliches Licht springt noch raus, ehe sie verschwindet. Jeden Wanderer, der sich Juf nähert, nehmen wir beim Anmarsch ins Visier. Es gibt nur ein Kriterium, das er zu erfüllen hat: Wollen wir mit ihm die Nacht im Matratzenquartier verbringen? Dafür, dass wir uns am oberen Ende der Bettenwelt befinden, herrscht ein rechter Zustrom an zerzausten Bärten, speckigen Hüten, komischen Kniehosen, in Wollmuster verpackten Waden. Bisher sind alle Wanderer durchgefallen.
„Das müssen Sie doch sagen!“
Mach ich doch.
„Ja, aber eher!“
Es geht schon wieder ums Vegetarische. Diesmal beichte ich meine Essbehinderung bereits am Nachmittag. Das Fleisch kann noch nicht im Topf sein. Scheinbar haben sie hier in den Bergen grundsätzlich ein Problem damit, wenn jemand eigene Ansprüche formuliert. Bin ich unalpin? Stets geht's um Regeln. Sie stehen nirgendwo geschrieben, man muss sie kennen.
Zum Beispiel die Regel, dass eine Nacht im Massenlager so spartanisch und ungesund wie möglich sein sollte. Die dunklen Matratzen sind allesamt fleckig. Auf den blau-weiß karierten Kissen erkennt man sogar im Mondlicht gelbliche Flüssigkeitsränder. Die Decken kratzen nicht nur, sie riechen. In Begleitung unserer Reiseschnapsflasche suchen wir nach den erträglichsten Modellen, besser gesagt, wir lassen uns von Farben täuschen. Wir halten Rot für besser als Grau und bevorzugen letztlich Orange, weil es nur in kleiner Stückzahl vorhanden ist.
Den Diskussionen der Alpenvereine um alpine Sitten fielen zu Anfang des letzten Jahrhunderts auch die Schlafräume für Damen zum Opfer. Zwar existierten Vorschriften, die Geschlechter in den Bergen zu trennen. Vor allem bei jugendlichen Wanderern. Aber der allgemeine Trend, sich wieder auf Einfachheit zu besinnen, war vielen Hüttenwirten ein willkommener Vorwand, sich nicht weiter drum zu scheren, wie trotz Platzmangels so etwas wie Übernachtungskomfort geschaffen werden könnte. Bergsteigerinnen beschwerten sich. Sie fanden im Massenquartier keine Möglichkeit, sich umzuziehen. Alpenwandern ist männlich. Schon vor hundert Jahren fiel den Frauen im Gebirge auf: Männer zögern nicht, vor breitem Publikum ihre Hüllen fallen zu lassen. Sie schämen sich auch nicht, verschwitzte Kleider und stinkende Socken im Schlafgemach zum Trocknen über die Bettgestelle zu hängen. Mit ihren Beschwerden darüber, was sie, fest zwischen zwei männliche Körper gepresst, in Hüttennächten so erlebten, lösten Schweizer Wanderinnen in der Mitgliederzeitschrift des Schweizer Alpen-Clubs eine Erotik-Debatte aus. Mancher Leser nannte, was geschah, Zwangsintimität unter Bergsteigern. Andere sagten: asketische Hüttenbewirtschaftungspolitik.
Punkt 18:30 Uhr steht oben das Nachtessen auf dem Tisch. Wir würden gern sehr langsam speisen, um die Kellerzeit zu verkürzen. Aber eine ungemütliche Wolke aus Fliegen hängt über unserem Tisch. Sie senkt sich, steigt hektisch auf, wenn wir um uns schlagen. Die Viecher plagen, sagt die Kellnerin, weil im letzten Winter der Boden nicht gefroren war. Sie zeigt nach schräg oben über die Bergkette vorm Fenster. Im Tessin könnten sie sich deshalb vor Wespen nicht retten. Das riesige Ei, das man mir zu den Kartoffeln gebraten hat, schmeckt köstlich, ich liebe Eier, und ich habe schon lange keine mehr gesehen. Aber dann fällt eine Fliege mitten rein. Sie rudert mit den Fliegenbeinen, ruiniert sich die Flügel, dann kippt sie ins schlabberige Eisweiß. Nach Schrecksekunden zieht Heidi mir prompt mein Abendbrot weg.
(...)
Irgendwann in der Nacht stand ich unter freiem Himmel. Ich wollte alles Mögliche. Dass mir kalt wird und sich mein grauenhafter, unappetitlicher Lagerplatz zum willkommenen Unterschlupf wandelt. Dass die Zeit vergeht. Dass der Spuk vorbei ist und schlagartig der Morgen anbricht. Das Mondlicht leuchtete die Weite nicht aus. Die dunklen Berge rückten dicht an mich heran. Da waren Schatten, große und kleine, die sich rührten. Aber da waren keinerlei Geräusche. Die Luft bewegte sich, doch es ging kein Wind. Ich stand an der Öffnung des glazialen Trogtals, durch das wir nach Sonnenaufgang steigen würden, der finstere Ort hieß Juf, das da oben war der Himmel - und alles, was nicht Himmel war, lag tief unter mir.
Rowohlt Berlin 2014
Wenn es stimmt, dass die Töne immer schon da sind ... wenn es stimmt, was Michael da vorn sagt, wenn er sie nicht übers Ohr haut ... wenn ... dann ... ist Bernhard jetzt im Besitz eines Tons. Dann hat er sich gerade eben einen solchen geholt.
Er steht da mit ausgestrecktem Arm, die Hand zum Gefäß gewölbt. Er spürt, was drin ist in seinem Gefäß. Kein Gewicht, bloß ein Ausmaß. Von der Hand her breitet sich Bernhards Ton über den ganzen Bernhard aus. Haut spannt sich, Härchen auf den Unterarmen stehen aufrecht, unter den Jeans kribbeln Fußballerwaden. Es fühlt sich an wie wenn Bernhard daheim seinen Körper ins heiße Badewasser senkt. Er schaut sich um. Da sind noch mehr ausgestreckte Arme, Männer und Frauen, die anscheinend auch etwas finden.
„Bückt euch!“ ruft Michael. „Hebt die Töne vom Boden auf! Und dann streckt euch, da oben sind auch noch welche, pflückt sie von der Decke!“
Seit über einer Stunde befolgen sie seine Anweisungen. Sie rackern sich ab. Bernhard hat die Zunge vom Gaumen gelöst und an den Zähnen entlang schlackern lassen, Geräusche über die Lippen geschoben und Luft ausgestoßen, sozusagen den Bauch entlüftet; nun ja, der ist immer noch rund. Hat die Arme geschüttelt, sich drehend, sich biegend, auf der Stelle hüpfend, bis das Blut im Kopf wie warme Brause geschäumt hat. Was er bei all dem wohl für eine Figur macht? Die Antwort kann er sehen: Ringsum wackeln Hintern, Beine knicken weg, Gelenke knarzen. Er vernimmt ein vielfaches Schnaufen. Er war noch nie irgendwo dabei, wo nur dabei sein darf, wer alt ist. Auch wenn sich hier alle aufbäumen, sie befinden sich im körperlichen Niedergang.
„Jetzt fühlt euch in euren Atem ein!“
Sogar diese Anweisung hat er befolgt. Er hat sich atmend durch sein Inneres navigiert und sich Körperregionen genähert, die ihm ziemlich fremd sind. Und da ist er dann plötzlich nicht mehr weitergekommen. Bernhard - Fußballer, Autoschlosser, Kraftfahrer, Stahlbauer, ein Ausreiseantrag in den Westen, eine Rückkehr, drei Vereinswechsel, vier Knieoperationen, 60 Jahre alt, immer noch dieselbe Ehefrau - hält es für unklug, funktionierende Abläufe zu stören. Verdauen. Atmen. Altern. Das alles hat niemals seiner Aufmerksamkeit bedurft.
„Haltet eure Töne fest, haltet sie!“
Bernhard singt: „Aaa!“ Zieht die Buchstaben wie Perlen auf einen langen Faden. „Aaa!“ Kein einziger fällt runter: kaum zu glauben. Er hebt das Kinn, kippt die Schultern nach hinten, und sein Brustkorb wird größer, geräumig, irgendwie lukrativ, er probiert, ob er sonst noch etwas für den Klang tun kann, schließlich richtet er sich an seiner eigenen Wirbelsäule auf. „Aaa!“ Sein Ton verschafft ihm eine ganz neue Haltung.
...
Das Altwerden, so kommt es ihr vor, vollzieht sich auf der Autobahn. Zwei Fahrspuren. Auf der rechten, in gemäßigtem Tempo, der Kopf. Ute fühlt sich nicht wie im 70. Lebensjahr. Auf der Überholspur der Körper. Aktueller Streckenbericht: Bandscheibenvorfall im Lendenwirbelbereich. Sie war beim MRT, der Orthopäde vermutet, dass wegen der hohen Dosis Cortison Wirbel gebrochen sind, er hat heute gleich noch die Knochendichte gemessen. Längst schon stellt sie sich wegen ihrer Figur bei Chorkonzerten in die hinterste Reihe. Mittlerweile nimmt sie so schnell zu, dass sie alle 14 Tage beim Versandhaus neue Konfektionsgrößen bestellt. Obwohl ihr Kopf das eigentlich gar nicht in Betracht zieht, lotst er sie immer öfter nach rechts auf den Standstreifen.
Bei der ersten Märzprobe hat sie gefehlt, war zu Hause, obwohl der Winter endlich abzurücken begann und das Tageslicht sie streichelte, wenn sie nach draußen kam. Heute ist sie wieder rechtzeitig. Die Tür zum Probenraum ist noch verschlossen.
Irene kommt. „Ute! Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.“
„Ach, ich hab die meisten aus meiner Familie bereits überlebt“, antwortet sie und klopft dreimal auf die Holzbank im Foyer, auf der sie sitzt.
Heute hat Michael Geburtstag. Vierzig. Achgottchen. Die Zahlen sind ein Problem. Frauen fragt man nicht nach ihrem Alter; Männer verkünden, dass ihnen die runden Geburtstage, zwischen denen die Abstände kürzer und kürzer zu werden scheinen, nichts ausmachen: als wäre das eine Leistung. Michael mit dem ergrauenden Haar und den Hosenträgern erweckt auch nicht den Eindruck, als gräme ihn heute irgendwas. Wäre es allerdings doch so, wie sollte er das den Alten erklären? Sie starten die Foto-Show. Alte Bilder von ihm, die sie aufgetrieben haben, und Bilder mit den Fossilities - er tänzelt, während sie über die Wand des Probenraums defilieren, und spielt lustige Einlagen am Flügel. Auf dem Rückenteil seines grauen Hemds steht CHEF; er lacht schallend, als plötzlich das Passbild aus seinem ersten Personalausweis an der Wand erscheint. Früher sah er aus wie John Lennon.
Eine Zeit lang hat Ute im Kindergarten von Michaels Sohn vorgelesen. All die Zwerge da wollten auf ihren Schoß; was hat sie geschwitzt! Jetzt geht sie regelmäßig ins Pflegeheim in Gropiusstadt, dort leben Leute, die in keinem Chor mehr singen können, die nicht einmal mehre Besuch bekommen; Ute meldet sich bei der Schwester, die sagt ihr, wer's gerade am nötigsten hat, dann klopft sie an. „Soll ich Ihnen was vorlesen oder wollen wir miteinander reden?“ Wenn man etwas zu erzählen hat, ist Altsein schöner. Du bist, was du erinnerst. In Utes Küche hängt das Foto von der Reise nach Kairo: der klassische Chor vor den Pyramiden im Wüstensand, alle für die „Carmina Burana“ kostümiert, Ute ganz links bei den Männern. Erst ein einziges Mal wollte jemand im Pflegeheim wissen, wie es ihr gehe. Sie war auf die Frage nicht vorbereitet, hätte dem Mann gern dieses Foto gezeigt sowie die Textblätter von High Fossility, die Pausen- und Atemzeichen, die sie gesetzt hat, das Crescendo und Decrescendo, alles mit Bleistift, weil Michael ja immer wieder etwas ändert. Zur ersten Probe im April 2010 ist sie zusammen mit ihrer Nachbarin in die Boddinstraße gefahren, die konnte jedoch nicht dabeibleiben, weil sie ihre Mutter pflegt. Utes Kinder wollen zu Auftritten kommen, das untersagt sie. Du bist nicht nur, was du erinnerst, du bist auch, als wer du in Erinnerung bleibst. Die Kinder sind musikalisch von ihr einfach was anderes gewohnt.
© 2024 Nadja Klinger