Der Tagesspiegel, 5. Mai 2011
Eingestellt, entlassen, eingestellt, entlassen: Herr X ist seit Jahren Leiharbeiter wie 900.000 andere in Deutschland auch. Das heißt: dauernde Unsicherheit, geringer Lohn. „Ich fühle mich wie ein moderner Sklave“, sagt er.
Herr X soll die Hauptrolle spielen. Grad eben hat er die Frühschicht beendet und ist aus der Latzhose gestiegen. Er trägt Jeans und ein dunkelblaues Poloshirt mit weißen Streifen, als er den Hof überquert, zwischen dessen Mauern sich das Frühlingssonnenlicht staut. Jetzt erreicht er das Werkstor. Ein Nachmittag im April, vorm Gelände der Siemens AG, Sickingenstraße, Berlin Moabit. Seine ersten Worte: „Ein Nachmittag reicht nicht. Ich hab viel zu sagen. Das Problem ist groß.“
Dann aber. Sagt er kaum noch was. Geht die Berlichingenstraße hinunter, am 130 000 Quadratmeter großen Werksgelände entlang, hunderte Meter durch den kühlen Schatten, den die Turbinenhalle wirft.
„Maschinendom“, nannten die Moabiter den Riesenkasten aus Beton, Glas und Eisen, als er vor 100 Jahren errichtet wurde. Oder: „Kathedrale der Arbeit“. Heute baut man hier Gasturbinen. Herr X bedient eine hochmoderne Maschine. Sein Metier: Schleifen, Bohren, Fräsen. Steht eine Gasturbine fertig da, ist sie fast so groß wie das Haus am Rande Berlins, das er sich vor Jahren baute. Sie kann ganze Städte mit Strom versorgen. Wird sie nachts zum Westhafen transportiert, sperrt die Polizei die Turmstraße. Kunden in über 60 Ländern kaufen sie für bis zu 40 Millionen Euro. Die Arbeitskraft von Herrn X, die drinsteckt, wird pro Stunde mit elf Euro vergütet. Kollegen, die dasselbe leisten wie er, bekommen 25.
Er will bezeugen, dass seine Art zu arbeiten ein großes Problem ist. Außer ihm hat sich niemand dazu bereit erklärt. Denn Menschen wie er haben nicht viel zu verlieren - und zugleich alles. Und was ihnen vor allem nicht widerfährt, ist Gerechtigkeit.
Er legt los. Die Aussagen haben Hand und Fuß. Aber als er ihnen auch ein Gesicht geben soll, bremst er sich. Es könnte Ärger geben, wenn ihn seine Arbeitgeber in der Zeitung erkennen. Deshalb nennen wir ihn nicht bei seinem Namen. Wer er ist? Wie es ihm erging und wie er sich fühlt? „Unwichtig“, sagt er. Er bezweifelt, in seinem eigenen Leben die Hauptrolle zu spielen. Das große Problem, um das es hier gehen soll, ist sogar riesengroß. Es hat Herrn X und sein individuelles Schicksal längst verschluckt.
Herr X ist ein Leiharbeitnehmer. Notgedrungen hält er sich dort auf, wo das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) wirkt. Wo es sogenannte Leih- oder Zeitarbeitsfirmen gibt, die sich eine Schar von Arbeitnehmern halten, obwohl sie gar keine Arbeit zu vergeben haben. Die daran verdienen, dass sie diese Menschen an andere Firmen ausleihen und sich einen Teil des Lohnes nehmen, der ihnen dort gezahlt wird. Bis 1967 war es in der Bundesrepublik verboten, auf diese Weise Profit zu erwirtschaften.
1972 bekam das Verleihen von Arbeitskraft mit dem AÜG eine gesetzliche Grundlage. Dafür gab es Gründe. Bei steigender Nachfrage konnten produzierende Unternehmen Arbeiter einstellen und nach maximal drei Monaten problemlos wieder entlassen. Erwerbslose kamen so immer mal wieder zu Jobs und sammelten Berufserfahrungen.
Kurz nachdem das Gesetz in Kraft getreten war, kam Herr X in Neukölln in die Schule. Ende der 80er wurde er Zerspanungsmechaniker. Nach der Ausbildung stellte er Schrauben, Nieten und Scharniere für Schränke her, ging mit 2700 D-Mark nach Hause. Als sein Betriebsrat zum Personalrat aufstieg und Kollegen entließ, die gern den Mund aufmachten, kündigte X ebenfalls. Nicht nur Geld verdienen wollte er am Arbeitsplatz, sondern ein befriedigendes Dasein führen. Sein Vater, ein Handwerker, unterstützte den 20-Jährigen: Bleib nicht so lange bei einer Firma, sagte er, du musst lernen und was sehen von der Arbeitswelt.
Seit 1972 gab es jedes Jahr mehr Leiharbeitnehmer. Unternehmen verschafften sich Arbeitskräfte, ohne rechtliche und soziale Verpflichtungen für sie zu übernehmen. Was das kostete, handelten sie mit dem Verleiher aus. Der wiederum garantierte nicht dafür, dass die Leute, die er verlieh, auch Qualität lieferten. Aus dem Arbeitsmarkt war ein Flohmarkt geworden. Die menschliche Beziehung zwischen dem, der Arbeit gibt, und dem, der sie nimmt, verdarb.
Ab 2002 durften Leiharbeitnehmer nicht mehr nur für drei, sondern für zwölf Monate verliehen werden. Die rot-grüne Bundesregierung sorgte dafür, dass heute ein dichtes Netz an Verleihfirmen die Bundesrepublik überspannt. Seit Januar 2004 dürfen Arbeitskräfte für unbegrenzte Zeit verliehen werden. Fortan stieg die Zahl der Leiharbeitnehmer rasant. Weit über 10 000 Verleiherfirmen verdienen an ihnen.
Damals, nach seiner Kündigung, arbeitete Herr X als Schlosser bei der Deutschen Bahn. Er bekam 2500 D-Mark, Weihnachts- und Urlaubsgeld, bis ihn das Unternehmen nicht mehr haben wollte. Er wurde Lagerleiter in einem Handelsbetrieb. 16-Stunden-Arbeitstage brachten richtig gutes Geld ein. Doch als er zum dritten Mal während der Heimfahrt auf der A 10 aus einem Sekundenschlaf erwachte und das Auto im letzten Moment herumriss, gab er den Job nach gut anderthalb Jahren wieder auf.
Herr X hat viel gelernt in der Arbeitswelt, die ihm der Vater ans Herz legte. Er ist versiert darin, sich auf dem Amt Umschulungen und Fortbildungen zu ergattern. Seine Bewerbungslisten sind lang, er hakt sie ab wie auf dem Einkaufszettel für den Supermarkt. Auf den Zeitungsseiten mit den Stellenanzeigen informierte er sich darüber, wie das Land sich veränderte: Seitenweise annoncierten nur Zeitarbeitsfirmen. Also wandte er sich an eine. Zwei Männer empfingen ihn in einem Ladenbüro in der ostdeutschen Provinz. Sie verliehen ihn für ein halbes Jahr. Tagsüber arbeitete er im Betrieb, abends an der Bewerbungsliste. Eroberte rechtzeitig einen befristeten Job. Dann einen richtigen Vertrag. 2006 landete er wieder auf dem Arbeitsamt.
Er bat um eine Schulung in dem Beruf, den er einst gelernt hatte. Monate später war er CNC-Zerspanungsmechaniker. Eine Zeitarbeitsfirma bot an, ihn für einen Stundenlohn von 7,50 Euro zu verleihen. Von dem Geld konnte er nicht mal die Anfahrt finanzieren. Er sagte: „Da bleibe ich klugerweise zu Hause.“ Was wollen Sie?, fragte der Verleiher. „13 Euro“, antwortete Herr X. „Denn ich bin Facharbeiter auf dem neuesten Stand.“ Bis 8,50 Euro kam man ihm entgegen. Er verlangte seine Unterlagen zurück. Ich beschwere mich bei der Arbeitsvermittlerin, sagte der Verleiher, dann werden Sie gesperrt. „Soll ich Ihnen die Telefonnummer geben?“, fragte Herr X.
Eine andere Zeitarbeitsfirma lieh ihn einem Medizintechnikunternehmen als Fräser aus. Wieder eine andere verborgte ihn ein halbes Jahr an BMW. Ein paar Wochen lang setzte er bei Siemens Nokia elektronische Kleinstteile zusammen. Mitte letzten Jahres verlieh man ihn ans Turbinenwerk.
Die Siemens AG ist für Leiharbeitnehmer ein besonderer Arbeitsort. Gesamtbetriebsrat und IG Metall haben mit der Unternehmensführung eine Vereinbarung getroffen, die ihnen seit August 2009 ein am Metall-Tarifvertrag angelehntes Einkommen garantiert. Geliehene Mitarbeiter haben dieselbe Arbeitszeit wie feste, genießen dieselbe Unterstützung des Betriebsrats. Wer 18 Monate lang ausgeliehen wurde, bekommt einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Seit März dieses Jahres gehören die ersten Leiharbeitnehmer zur Stammbelegschaft.
Die Verhandlungen, die zu dieser Übereinkunft führten, zogen sich hin. Gewerkschafter fuhren mit einem Truck durchs Land, um fest angestellte Siemens-Beschäftigte als Verbündete zu gewinnen. Die Aktion lief ab wie eine Coca-Cola-Werbetour. Nur dass keine Getränke verteilt, sondern das Problem gewälzt wurde: Wo sich Leiharbeit etabliert, werden immer weniger Menschen fest eingestellt. Es senkt sich das Einkommensniveau. Belegschaften werden gespalten, weil Kollegen unterschiedlich viel Geld, Chancen, Sicherheit haben.
Die Siemens-Mitarbeiter sind stolz auf das, was sie am Ende gemeinsam erreicht haben. Und doch ist es nur ein Kompromiss. Bis zum zwölften Einsatzmonat bekommen Leiharbeiter 70 Prozent, danach 75 Prozent, erst ab dem 16. Monat 100 Prozent des Tarifentgeltes. Bei Daimler, Airbus und BMW hingegen, wo auch Verhandlungen stattfanden, gibt's vom ersten Tag an 100 Prozent.
Herr X geht am Monatsende mit 1200 Euro nach Hause. Er arbeitet in vier Schichten 37,5 Stunden pro Woche. Er verfügt über Berufserfahrung, ist extrem flexibel, weil er sich stets auf neue Einsatzorte und Aufgaben einstellen musste. In Personalgesprächen lässt man ihn wissen, dass man mit seiner Arbeit sehr zufrieden ist. „Ja, und?“, fragt Herr X.
Sollte Siemens ihn noch fünf weitere Monate ausleihen, bekäme er 75 Prozent, in acht Monaten hätte er das volle Tarifgeld. Mit einer Festanstellung rechnet er nicht. Das Wegwerfprinzip, nach dem man seit Jahren mit ihm verfährt, hat sich ins Lebensgefühl eingeschlichen. Er sagt: „Bevor die 18 Monate rum sind, setzen die mich vor die Tür.“
Vielleicht, weil das Verhandeln hart war. Vielleicht, weil nur der Kompromiss zustande kam, lässt man bei Siemens nicht vom Thema Leiharbeit ab. Im Frühjahr, Berlin war noch eiskalt, trafen sich Kollegen an drei Straßenkreuzungen in Siemensstadt. Wenn die Ampeln rot waren, bauten sie sich mit Transparenten vor den wartenden Autos auf: Festangestellte, die gerechte Bezahlung der Kollegen in Leiharbeit forderten. Es erreichte sie keinerlei Reaktion. Fußgänger drängten vorbei, Autofahrer ließen nicht einmal die Scheiben herunter, um Handzettel entgegenzunehmen. Zum Abschluss machten sie ein Foto auf dem Mittelstreifen. Durchgefroren standen sie da und lachten. Es machte Spaß, etwas zusammen zu unternehmen, aber auch zusammen, so sah es an den drei Kreuzungen aus, waren sie allein.
„Solidarität?“, fragt Herr X. „Was kann ich mir dafür kaufen?“ Er sagt auch: „Ich fühle mich wie ein moderner Sklave.„
Rund 900 000 moderne Sklaven gibt es derzeit in Deutschland. Jeder Achte bessert den Lohn mit Arbeitslosengeld II auf. Die Gesellschaft nennt Leiharbeit prekär, weil sie die soziale Existenz nicht dauerhaft absichert. Herr X formuliert es anders: „Dem Geld hinterherrennen“. Leiharbeit ist eine Bewegungsform. Es geht in die falsche Richtung. Denn sie ist auf Unsicherheit konzipiert.
Bei der IG Metall sagt man: Egal, wie viel Geld für Leiharbeitnehmer erkämpft wird, die Verleiherfirmen kommen stets auf ihren Gewinn. Niemand kann verhindern, was der Staat mit dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz toleriert. „Wir werden verarscht“, sagt Herr X manchmal zu seinen Leiharbeiterkollegen. Bitte schweig!, sagen die.
Nadja Klinger