Der Tagesspiegel, 19.07.2011
Er müsse Gewalt aushalten, sagt Felix Neumann, Berliner Polizist: „Sie gehört zu meinem Beruf.“ Aber direkt vor die Tür, an der er klingelt, stellt er sich längst nicht mehr - es könnte geschossen werden.
Felix Neumann sucht einen freien Parkplatz. Es gibt keinen. Am Ende der Triftstraße stehen Halteverbotsschilder. Sie sollen den Wendekreis freihalten. Er rangiert mit dem kastenartigen Renault G8T, dem kleinen Gruppenwagen, vor und zurück. Zum Wenden ist es zu eng. Weil es wie überall in Berlin auch in Wedding Bürger gibt, die sich um Verbote nicht scheren.
Neumann nennt das Verhalten dieser Leute „ordnungswidrig“. Die Vokabel hat er vor zehn Jahren in seinen Wortschatz aufgenommen. Dort macht sie sich so breit, dass es zuweilen klingt, als spräche er eine andere Sprache. Die Sprache, die zwischen ihm und anderen Menschen eine gewisse Distanz schafft.
Man hört: Er ist Polizist.
Eine Frau mit Kinderwagen beobachtet sein Manöver, erfuchtelt mit den Händen seine Aufmerksamkeit. Er lehnt sich aus dem Seitenfenster. Sie müsse mit den Zwillingen zum Arzt an der Ecke, ruft sie, doch außer im Halteverbot könne man nirgends parken. Im Auto trägt Neumann keine Mütze. Von schräg hinten fällt ein Pony ins Gesicht. Er wischt ihn weg. Der Pony widersetzt sich und fällt wieder. „Ist eines der Kinder krank?“, fragt er. Die Frau redet und redet. Hätte er die Mütze auf, wären die längeren Haare drunter und nur die kurz geschorenen Seitenpartien zu sehen. „Der arme Junge“, sagt er. „Gehen Sie mal! Und gute Besserung!„
Da steht die nächste Frau vor ihm. „Bin schon weg“, sagt sie. Taucht in ein parkendes Auto, lässt den Motor aufjaulen, flieht. Auch ein Mann in Handwerkerkluft, der eine Störung beseitigen soll, hat die Verbotsschilder ignoriert. „Schreiben Sie mich auf?“, fragt er. Am Seitenfenster des Polizeiautos herrscht Andrang wie am Eiswagen von Mr. Frosty. Es scheint, als bestätige sich an diesem Sommertag ein Grundsatz der Berliner Polizei. Die bloße Anwesenheit des Kommissars verleitet die Bürger zu korrektem Verhalten. Handwerker und Polizist sehen einander in die Augen. „Dann beseitigen Sie mal die Störung“, sagt Neumann. Realisiert damit ein weiteres Polizeiprinzip: Das Zusammentreffen mit dem Bürger sollte immer ein Dialog sein.
Prinzipien stehen an oberster Stelle. Aber was, wenn sie unten kaum einer beachtet? Die Bürger der Bundesrepublik dialogisieren nicht mit der Polizei, sie werden ihr gegenüber aufsässig, gar gewalttätig. 3114 von knapp 16 000 Berliner Polizisten verletzten sich im Jahr 2010 im Dienst. Eine bundesweite Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen ergab, dass sich auch in der Hauptstadt die Zahl der Polizisten, die nach Angriffen tagelang dienstunfähig waren, in den vergangenen Jahren verdoppelt hat. Nicht nur Demonstranten, alkoholisierte Jugendliche und Hooligans sind gefährlich. Selbst Polizisten, die nur Streife gehen, werden angepöbelt, beleidigt, beschimpft. Schon Ausweiskontrollen lösen Gegenwehr aus. Der Bürger rempelt, schubst, spuckt.
Felix Neumann wuchs in den 1980er Jahren in einem Haus am Rande von Forst in der Lausitz auf. Der Vater arbeitete in der Braunkohle, die Mutter als Physiotherapeutin. Der Opa saß in Uniform im Büro im Erdgeschoss. Er war ABV, abschnittsbevollmächtigter Polizist. Die Leute kamen durch den Garten zu ihm gelaufen. Er war so was wie ein König.
Enkel Felix wollte Chirurg werden, bekam die Zusage fürs Medizinstudium. Dann ging mit den Unterlagen etwas schief. Er begann ein Geologiestudium in Berlin, brach es ab, arbeitete im Supermarkt, litt unter brachliegenden Zukunftsvorstellungen, wurde 21 und immer dünner. Der Vater reiste an. Fragte: Warum nicht Polizei?
Ein normaler Arbeitstag im Funkwagen. Neumann und ein Kollege spüren in einer Wohnung ein Mädchen auf, das untergetaucht ist. Sie reden lange auf sie ein. Dann holt sie ihre Sachen. Auf der Straße kommt ihnen ihr Freund entgegen. Sich mit ihm zu prügeln, wäre zu schaffen. Doch auf der Straße bekommt es die Berliner Polizei häufig mit weiteren Gegnern zu tun: mit Unbeteiligten, die das Geschehen mit Vorurteilen beurteilen und die Staatsgewalt angreifen.
Als Neumann sich für die Ausbildung zum Polizisten bewarb, fiel auf, dass er der Armee den Dienst an der Waffe verweigert hatte. Er gab seine Devise aus: Es stehe einer Polizeilaufbahn nicht im Wege, ein grundsätzlich gewaltfreier Mensch zu sein. Neumann ist groß und beweglich. Er umklammert Menschen, stellt ihnen Beine, bringt sie mit seinem Körpergewicht zu Boden, ist kräftig genug, sie dort zu fixieren. „Aber die Fäuste sind nicht mein Ding“, sagt er. „Ich kann niemandem ins Gesicht schlagen.“
Er absolvierte Verhaltenstraining, kann Einsätze planen und durchführen. Schießen. Er hat Führungslehre, Verwaltungs-, Straf-, Zivil-, Verkehrs-, Polizei- und Ordnungsrecht studiert. In der Realität, durch die sich seine Laufbahn zieht, verbraucht er viele Ladungen Pfefferspray. Einige Schläge trafen ihn mitten ins Gesicht. Da auch seine Gegner mit Spray agieren, landete er kürzlich mit ätzenden Wunden im Krankenhaus. Zehn Polizisten waren sie gewesen: vom Ausmaß an Brutalität, mit der die Bürger ihnen begegneten, total überwältigt.
„Ich muss rohe Gewalt aushalten, sie gehört zu meinem Beruf“, sagt Felix Neumann. Er ist jetzt 31 Jahre alt. Sein Großvater hätte so kaum gesprochen. „Keiner ruft mich, um mir sein alternatives Wohnprojekt zu zeigen. In 95 Prozent der Einsätze begebe ich mich in Konflikte. Ich erteile keinen Rat, sondern unternehme etwas. Irgendjemand fühlt sich immer als mein Opfer. Und wenn ich ihn nur auffordere, die Musik leiser zu machen.“
Bei jedem Einsatz übte er, angemessen mit Mitmenschen umzugehen. Klingelte an einer Tür, stellte sich direkt davor. Schleunigst zog ein Kollege ihn zur Seite. Beschuldigte öffnen der Polizei nicht unbedingt. Sie schießen auch mal direkt durch die Tür. „Jemand, der eben noch geschrieen hat, wird plötzlich ruhig. Und was bedeutet das?“ Neumann brauchte Erfahrung, um zu wissen: Diese Situation kann jeden Moment eskalieren.
Wenn er morgens seine Söhne in der Kindertagesstätte abgegeben hat, macht er sich auf in den Abschnitt 35, das große Stück Wedding, in dem sich Müllerstraße und Seestraße kreuzen. Im Dienstgebäude auf dem Gelände der alten Osramfabrik ist die Polizeisprache zu bewundern wie Vogelstimmen im Exotenhaus des Zoos. Zum Schwarzfahren sagt man „Beförderungserschleichung“. Wer im Taxi nicht bezahlt, ist „Leistungbetrüger“. Straftaten, die sich in und um Berlins Spielcasinos ereignen, sind „neue Deliktstrukturen“. Auf Streife gehen heißt: „unterwegs im örtlichen Zustandsbereich“. Und wenn der Bürger 110 wählt, erscheint der Polizist, um „eine Maßnahme vorzunehmen“.
Den Akten auf Neumanns Schreibtisch zufolge besteht der Ortsteil Wedding aus Verleumdung, Beleidigung, übler Nachrede, Überfall, Betrug, Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung, Freiheitsberaubung. Ladendiebstähle machen wenig Aufwand, da der Täter meist erwischt wurde. Bei Anzeigen wegen unterlassener Unterhaltszahlungen agiert Neumann wie ein Wirtschaftsprüfer. Um Beleidigungen nachzugehen, gräbt er sich immer öfter in Internetforen vor.
Eine Kollegin sitzt ihm gegenüber. Zwei Computer, Akten, Wände. Mit einem Papierhandtuch wischt er an heißen Tagen Schweiß von seiner Stirn. Will er jemanden vernehmen, stimmt er das mit der Kollegin ab. Vergeblich markiert er in Vorladungen die Passage, dass ein Dolmetscher beantragt werden kann. Die Leute ignorieren es. Ob beschuldigt oder Zeuge, viele erscheinen nicht. Manche kommen und machen vom Schweigerecht Gebrauch. Oder von der Chance zu lügen.
Wenn seine Kollegin eine Frau vernimmt, die von ihrem Mann verprügelt wird, geht Neumann raus. Seit 2002 erlaubt das Gewaltschutzgesetz dem Staat, bei Gewalt in privaten Beziehungen einzugreifen. Immer mehr Frauen rufen seitdem um Hilfe. Polizisten rücken an, schlichten, aber wenn sie die Männer mitnehmen wollen, stellen sich die Frauen in den Weg. Erstatten keine Anzeige. Machen keine Aussagen. Erklären, sie verstünden sich prima.
Die Diebstahlserie im Seniorenheim, in der Neumann jüngst ermittelte, hat sich auch erledigt. Er hat das LKA eingeschaltet. Es wurde kein Täter gefunden. Er ärgert sich. Wie über ein Spiel, in dem jemand schummelt. Denn die Opfer sind alt, blind, dement. Er hatte einen Verdacht, und Beschuldigte können zwangsweise vor Gericht geführt werden. Aber das ist Freiheitsberaubung. Sie muss gerechtfertigt sein. Ein Polizist kann nicht machen, was er will.
Wenn Neumann im Funkwagen sitzt, steuert er Plätze an, die illegal als Verkaufsgelände dienen. Rollt durch den Volkspark Rehberge, damit sich die Weddinger, die nackt in der Sonne liegen, etwas anziehen. Auf Flohmärkten prüft er mit dem Kollegen die Rahmennummern zum Verkauf stehender Fahrräder. Sie finden gestohlene. In einer abgelegenen Straße beobachten sie, wie Männer ihre Autos parken und wie Frauen in diesen Wagen verschwinden. Das passiert hier täglich mehrfach. Es ist der Ort der Weddinger Ehebrecher. Trotzdem klopfen die Polizisten an die Autofenster und fragen die Frauen, ob sie freiwillig zugange sind.
Nach dem Dienst steigt Neumann in Jeans und T-Shirt aufs Fahrrad. Basecap auf dem Kopf. Oder den roten Helm zur roten Ducati. Das Motorrad ist 17 Jahre alt. Er behält es im Auge, wenn er es parkt. Zu Hause versteckt er es vor Dieben im Garten. Seit er Polizist wurde, hat sich sein Blick auf die Stadt verändert. „Ich habe dieses Verdachtsdenken“, sagt er. „Ich halte banale Dinge für polizeirelevant.“ Möglicherweise merken die Menschen in der Stadt ihm das an.
Silvester wurde der Funkwagen in ein Krankenhaus gerufen. An der Tür randalierte ein Junge, der zu seiner mit Alkoholvergiftung eingelieferten Freundin wollte. „Die wollen dich hier nicht, du hast Hausverbot.“ Immer versuchte es Neumann mit Worten. Der Junge rollte sich mit den Polizisten im Schnee. „Es ist schwer, Widerstand zu brechen“, sagt er. „Widerständler agieren im Adrenalinrausch, während ich mit klarem Kopf rechtmäßig handeln muss.“
Betritt er eine Wohnung, sieht er sich um. Guckt sich die Leute an. Schuhe sauber? Haare gepflegt? Körperhaltung? Er übt, und er irrt sich. „Jeden Menschen muss man achten, da muss man das Maximum aus sich herausholen.“ Freunde sagen ihm: Du guckst immer so streng. Das ist sein normaler Blick. Er arbeitet dran.
Falschparker entschuldigen sich bei ihm. Er erwidert: „Das ist nicht nötig, Sie haben mir nicht wehgetan.“ Es klingt wie ein Witz. Aber oft genug staut sich in den Schutzwesten der Polizisten die Hitze. Die des Sommers, die der Körper, die kämpfen. Die Hitze, die von der Angst kommt. Nach Funkwageneinsätzen, sagt Neumann, sitze er gern wieder im Büro.
Nachdem vor einem Jahr die niedersächsische Gewaltstudie veröffentlicht worden war, debattierte der Bundestagsinnenausschuss. Stellte fest: Wer in diesem Land ein Polizeiauto beschädigt, wird höher bestraft als der, der einen Beamten angreift. Die Innenminister von Bund und Ländern forderten Strafverschärfung. Ein entsprechender Gesetzentwurf des Justizministeriums gelangte in den Bundestag. Wurde im Dezember 2010 in den Rechtsausschuss verwiesen. Ist bis heute nicht ins Plenum zurückgekehrt.
Jedes Jahr bittet der Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses um aktuelle Zahlen. 2010 gab die Dienstunfallfürsorge der Polizei über drei Millionen Euro aus. Die Verursacher sollen dafür aufkommen. Eigentlich. „Wegen eines zu hohen Verwaltungsaufwandes“, lässt der Innensenator wissen, seien Schadenersatzansprüche „nicht näher bezifferbar“.
Felix Neumann gehört freiwillig zum Anti-Konflikt-Team der Berliner Polizei. Mit gelber Weste über der Uniform steht er auf Großveranstaltungen zwischen Einsatzkräften und Bevölkerung. Die Leute reden auf ihn ein. „Es ist viel leichter, sich mit einem Schlagstock durchzusetzen als im Gespräch“, sagt er.
Neulich war er mit seiner Frau im Restaurant. Der Wirt rauchte. Er fragte ihn, ob er die „bestehende Gesetzeslage“ kenne. Die Frau verdrehte die Augen. Der Wirt steckte noch eine Zigarette an. Neumann sagt: „In Uniform hätte ich die Maßnahme bis zum Ende durchgezogen.“
Oft ärgert er sich, nicht im Dienst zu sein. Autofahrer ignorieren rote Ampeln, telefonieren. Die Nachbarin schnallt ihr Kind nie an. Er regt sich auf, wenn er das sieht, gesagt hat er's ihr noch nie. „Weil das mein Privatleben ist. Damit meine Frau nicht die Augen verdreht. Damit Frieden ist im Haus.“ Und: „Außerdem hat die Nachbarin die völlig falsche Bereifung.“ Wäre er Chirurg geworden, wären die Menschen immer nur dankbar. Bekommen Polizisten ein Dankeschön? „Das gibt's. Von alten Leuten. Aber ich brauche das nicht. Ich weiß, was ich tue.“
Nadja Klinger