GEO, Dezember 2007
Sie war eines der bestgehüteten Geheimnisse, ihretwegen überzogen die Menschen einen ganzen Kontinent mit dem größten Handelsnetz der Geschichte. Und die Seidenraupe verhielt sich standesgemäß: so wundersam wie ihr begehrter Faden.
EINES schönen Tages. Viele Geschichten beginnen so. Von der folgenden sind nur diese ersten Worte zuverlässig überliefert. Sie wird immer wieder anders erzählt. Dafür gibt es wohl einen Grund. Die Entdeckung der Seide ist vor allem ein Anfang. Es ist die Geschichte eines schönen Tages vor etwa 5000 Jahren, der, wenn man so will, nie endet.
Damals ging die chinesische Kaiserin Si Ling Chi mit den Hofdamen spazieren. Man wandelte unter der Sommersonne und erblickte im Blattwerk eines Maulbeerbaums eine Raupe. Das weißgelbe, etwa acht Zentimeter lange Tier mit haarigen Gliedern war nicht schön. Jedoch hing es in einem Gewirr aus herrlich glänzenden Fäden. Eine der Frauen muss das zuerst gesehen haben. Bald schon würde man sie für diese Entdeckung eine „Seidengöttin“ nennen. Man würde ihr einen Stern am Himmel schenken und auf der Erde zahlreiche Altäre. So eine Göttin kann nur die Kaiserin höchst selbst gewesen sein.
Vielleicht, so eine andere Variante der Geschichte, spazierte Si Ling Chi sowieso allein. Sie flüchtete vor einer Schlange auf einen Maulbeerbaum und entdeckte dort ein Gebilde, das wie ein kleines Ei aussah. Plötzlich veränderte es die Form, dehnte sich, riss auf und ein pelziger Schmetterling, mehlweiß mit braunen Streifen auf den Flügeln, kroch hervor. Die Kaiserin betastete das zerstörte Gebilde. Mit den Fingerspitzen spürte sie das Ende eines Fadens auf.
Seidenfäden sind geschmeidig, glänzend, hauchdünn, enorm reißfest. Ein aus ihnen gearbeiteter Stoff kühlt bei Hitze, wärmt bei Kälte, nimmt über ein Zehntel seines Eigengewichts an Nässe auf, ohne sich nass anzufühlen. Seide verhüllt, ist zugleich fast durchsichtig. Sie ist wie Nichts. Und nichts ist wie Seide. Keine natürliche oder synthetische Faser kann sich mit ihr messen. Die Kaiserin, so heißt es, hat der Menschheit das herrlichste Naturgespinst der Erde geschenkt. Galt die Neugier, von der sie angetrieben wurde, dem Kokon eines Insekts oder dem schimmernden Kleid, das der Falter abgestoßen hatte? Ein derartiges selbst am Körper zu tragen, konnte sie sich gut vorstellen.
DIE GESCHICHTE der Seide erzählt vom Begehr. Davon, mit welchem Interesse der Mensch der Natur seine Aufmerksamkeit schenkt. Sie kann nicht ohne eine andere Geschichte erzählt werden: die des Seidenspinners. Hier erfahren wir, dass der Mensch die Schöpfung nicht nur studiert, sondern Ansprüche an sie erhebt. Er will den Kokon. Und zwar unversehrt, bevor der Falter ihn durchbricht und damit den bis zu 4000 Meter langen Faden zerreißt.
Der Mensch sagt, er „ernte“ Kokons. Dabei hat die Natur sie nicht als Früchte vorgesehen. Sie dienen dem Insekt zur Metamorphose. Der Mensch nimmt Seide einfach an sich. Er sagt, er „gewinne“ sie. Das klingt, als hätte er das große Los gezogen.
EINMAL IN SEINEM Dasein erlebt der Seidenspinner Bombyx mori, auch Weißer Maulbeerspinner genannt, eine vollkommene Verwandlung. Während andere Insekten sich als Larven häuten und häuten, dadurch zum geschlechtsreifen Tier heranwachsen, schlüpfen aus den Eiern des Seidenspinnerweibchens Raupen. Sie verbringen ihre Zeit mit Fressen. Nach jeder Häutung sind sie größer und sehen anders aus, aber sie bleiben Raupen.
Nach Wochen hören sie auf zu fressen und verpuppen sich. In der Puppe lösen sich die Organe auf, es wachsen neue. Wie bei vielen Artgenossen, die sich ebenso entwickeln, ist die Puppe von einem Kokon umgeben. Im Kokon entsteht das geschlechtsreife Tier. Es ist ein Wesen, das, mit Flügeln ausgestattet, völlig anders lebt als die Raupe. Und doch ist es dasselbe Wesen. Es besitzt keine Organe mehr, um sich zu ernähren. Es fliegt los, um den einen großen Plan zu verfolgen, dessen Erfüllung für jede Kreatur unerlässlich ist: Es pflanzt sich fort.
Genau da, wo die Natur für den Seidenspinner die geniale Arbeitsteilung zur Arterhaltung ausgeklügelt hat, greift der Mensch ihn an. Ehe aus der Puppe der Falter wird, tötet er und nimmt sich den Kokon. Nach 5000 Jahren, in denen Seidenzüchter wenige Tiere bis zur Paarung überleben lassen haben, sind die Flügel des Bombyx mori - als Si Ling Chi ihn entdeckte, waren sie viel größer als der Körper - kaum noch vorhanden.
Traurig ist seine Geschichte trotzdem nicht. Im Gegenteil. Die Kulisse richtet sich nach ihm, er bestimmt über Nebenrollen, Kosten, Aufwand. Die Seidenraupe spielt die unangefochtene Hauptrolle. Sie gibt die Prinzessin.
Seit Jahrtausenden ist Bombyx mori nicht mehr sich selbst überlassen. Zwar existiert seitdem eine nicht gerade charmante Vokabel für sein Leben: Seidenproduktion. Dafür aber wachen die, die an Seide gelangen wollen, penibel über den Erhalt seiner Gattung. Offensichtlich hat nicht nur der Mensch das große Los gezogen, sondern auch das Tier.
BALD NACH der Befruchtung legt das Seidenspinner-Weibchen hunderte, körnchengroße, gelbe Eier ab. Sie überwintern bis es warm wird und Nahrung vorhanden ist. Die Erziehung des Kindes soll vor der Geburt vollendet sein, sagt man in China. Schon vor dem Schlüpfen der Seidenraupen vor 5000 Jahren war klar, dass sie ihren „Eltern“ auf der Nase herum tanzen würden.
Man lagerte die Eier kühl, aber nicht kalt, luftig, aber nicht im Wind. Man berieselte sie mit warmem Wasser, tauchte sie in Brühe aus Maulbeerasche und Kräutern, zog sie durch Quellwasser oder Salzsäurelösung, bürstete sie zart, massierte sie zwischen zwei Fingern. Abends wurden sie mit körperwarmen Kleidern umhüllt, die Menschen am Tag getragen, morgens mit Decken, in denen sie übernachtet hatten.
Schließlich bettete man sie auf Matten in peinlich sauberen, wohltemperierten Gemächern. Während europäische Hobbyzüchter Eier heute auf dem Schrank überm Küchenherd lagern, wo Töpfe klappern und das Essen ausdunstet, waren die Geburtskammern im alten China starre Orte. Kein Aroma hing in der Luft, kaum etwas verursachte auch nur einen Ton. Es ging hier so unwirklich zu, dass man bei ständigem Beobachten tatsächlich Bewegungen in den winzigen Eiern erkennen konnte.
Nach dem Schlüpfen ist die schwarze Seidenraupe zwei, drei Millimeter groß, dünn wie ein Haar. Sie hat einen Kopf und Gliedmaße, der Rest des Körpers ist Magen. Sie sei kapriziös, nervös und feinsinnig, heißt es. Vom ersten Tag an sei ihre Laune Gesetz.
Sie frisst nur Blätter des weißen Maulbeerbaumes Morus alba. Die Chinesen sorgten für riesige Plantagen überall im Land. Sie nahmen sich des Baumes an. Vor allem Blätter sollten wachsen, nicht unnötig viele Äste, auch sollte er nicht zu hoch sein. Aus männlichen und weiblichen Bäumen entstanden praktische Exemplare, die sich selbst bestäuben. Für Prinzessin Raupe wurde die Welt auf den Kopf gestellt: Das Futter wurde dem Tier angepasst, das es fressen will.
Täglich 48 Mahlzeiten reichte man ihr. Nur gesunde Frauen mit penibel sauberen Händen durften Blätter pflücken. Sie entfernten Tautropfen, schnitten Happen. Die Prinzessin fraß angeblich lieber Nichts, als etwa zu kauen.
Man sorgte für diffuses Licht. Man zog sich splitternackt aus, um Temperatur und Luftfeuchtigkeit zu prüfen. Vermochten die alten Chinesen es, wie Raupen zu fühlen? Blitzte es am Himmel blitzte, deckten sie die Tiere zu. Kam das Gewitter heran, half nichts. Bei Donner zuckten die Raupen erbärmlich.
Chinesische Pflegerinnen gingen Jahrtausende nur auf Zehenspitzen. Sie redeten im Flüsterton, wenn sie Fliegen vertrieben, verdorbene Blätter und Kot entfernten oder Raupen, die sich irgendwie krank benahmen, aussortierten. Niemals durfte eine Seidenraupe mit Metall in Berührung kommen, denn dann richtete sie den Oberkörper auf und ruckelte hin und her. Bei Zugluft wurde sie rot und steif. Ließ eine Pflegerin die Tür offen, wurde sie entlassen.
Den Raupen zuliebe aßen Menschen, die ihnen dienten, weder Ingwer noch Bohnen, nichts Blähendes oder in Öl Gebratenes. Parfümierte Damen durften niemals zu den Tieren, weder Menstruierende noch Schwangere. Auch Leuten in tiefer Trauer waren Raupengemächer verschlossen. Das üble Gestrahl unfroher Menschen bedrückte die Tiere, erzählt man.
Viermal häutet sich die Seidenraupe. Sie erstarrt, dann platzt oben längs überm Körper die Haut auf und zieht sich langsam zusammen. Im alten China erstarrte auch die Dienerschaft und bangte, ob das Tier es schaffte, mit dem Kopf zuerst aus der alten Haut zu kommen. Das große Kino, das Mutter Natur bot, machte die Chinesen ehrfürchtig. Die Raupe müsste vier Tode überleben, sagten sie.
Nach der vierten Häutung legt sie beim Fressen noch mal zu. Man hört sie schmatzen. Speist sie mit Artgenossen zusammen, klingt es, als würde es kräftig regnen. 24 bis 42 Tage nach der Geburt werden jäh die Kauwerkzeuge blockiert. Prinzessin kann nicht mehr fressen, ist acht, neun Zentimeter lang, fingerdick, gelblich weiß, glänzt an der Kehle und an den Füßen und trägt bräunliche Zeichnungen auf dem Rücken.
In den Geschichten über sie gibt es viele Zahlen. Es heißt, sie würde nun das 12 000 fache ihres anfänglichen Körpergewichts haben. Sie habe das 40 000 fache ihres eigenen Gewichts in Form von Maulbeerblättern zu sich genommen. Ein halbes Kilo Raupen hätten bis zu 12 000 Kilo Blätter vertilgt.
Zwischen Halmen, Ginsterzweigen, auf Spinnbrettern oder Gittern spinnt die Raupe ein Seidengewirr. Hier verankert sie den Kokon. Aus zwei Drüsen presst sie zwei Fäden. Sie sind das Millionstel eines Millimeters dick, bestehen aus dem Spinnstoff Fibroin und sind von Serizin (auch Seidenbast, Seidenleim genannt) ummantelt, das beide Fäden zu einem verklebt. Mit rotierenden Bewegungen, den Kopf wie eine Tänzerin in die eine und andere Richtung schwingend, legt sie achterförmige Schleifen um sich herum und fertigt von außen nach innen den Kokon. Sie schafft bis zu 15 Meter Faden pro Minute, braucht etwa drei Tage und drei Nächte. Dann liegt der Faden in 230 000 bis 300 000 Windungen. Je nach Zucht ist der Kokon kugelig, oval, länglich, gelb, weiß, rosenfarben, grau.
Hätte sich die Raupe vor 5000 Jahren nicht von der Chinesischen Kaiserin erwischen lassen, könnte sich jetzt die unglaubliche Verwandlung vollziehen. Durch eine letzte Häutung entstünde im Kokon die Puppe, dann binnen zwei, drei Wochen der Falter. Er würde entweichen, sich schon nach Minuten paaren. Zwölf Stunden wären Seidenspinner und Seidenspinnerin zusammen. Dann würde das Männchen sofort sterben. Es hätte sich verausgabt, ohne fressen zu können. Das Weibchen würde vorm Tod einem passenden Ort suchen, um Eier abzulegen.
Bis zu zwei Wochen lassen die Züchter den Seidenleim härten. Dann machen sie den Kokon zum Grab. Die Puppe stirbt durch kochendes Wasser, Wasserdampf, Heißluft oder heutzutage binnen 30 Sekunden bei 120 Grad in der Mikrowelle. Der Seidenfaden wird vom Kokon abgehaspelt. Das mittlere Stück des Fadens, etwa ein Drittel, ist glänzende Rohseide (Grége), der Rest wird zu Schappe- (gekämmte Fäden) und Bouretteseide (ungekämmte Fäden) versponnen. Auch hierzu gibt es Zahlen. 25 Maulbeerbäume braucht man für drei Kilo Seide. Etwa 1700 makellose Kokons und fast 70 Kilo Blätter für ein Kleid aus Rohseide. 500 Raupen für fünf bis sechs dickere Pullover. Durch den Mord, so heißt es auch, verliere der Seidenfaden den allerhöchsten Glanz. Hinzugefügt wird: Es habe eben alles seinen Preis.
DIE STOFFE zu weben, zu färben, Muster zu entwerfen und Stickereien zu fabrizieren war ein Kinderspiel gegen das, was mit der Raupe angestellt wurde. Bereits 2000 Jahre vor der Zeitrechnung lebte China nach dem Seidenkalender. Man rechnete in Seidenmonaten und Seidenjahren. Jedes Jahr wurde das Kokonfest gefeiert. An Opferstätten wurden dem Himmel, der Sonne und dem Mond farbige Seidenstücke geopfert. Alle Kaiser waren Kenner und Liebhaber der Seide. Kaiserinnen beschäftigten sich mit der Zucht. Um 200 vor Christi legte ein Ritenministerium weitere Zeremonien fest. Sie wurden von Frauen und Eunuchen vollzogen, nach den Kaiserinnen übernahmen Gemahllinnen der Vasallenfürsten die Tradition, später Frauen der Statthalter und Würdenträger.
Seit dem 12. Jahrhundert unserer Zeit gibt es das Keng Tschi T'u, ein offizielles Lehrbuch zum Ackerbau und zur Seidengewinnung. Peinlich sauber war es in chinesischen Seidenprovinzen. Wege wurden gepflastert, Häuser aus Ziegeln luftig erbaut, inmitten von Maulbeerplantagen. Seidenbauern hatten sich an eine besondere Köperkultur zu halten, an eine besondere Diät. Bewohner durften keine Gerüche produzieren, nicht schreien, pöbeln, johlen oder mit Peitschen auf Tiere eindreschen. Durch sanfte Gebärden und melodisch gedämpfte Stimmen sollen Chinas Bäuerinnen bis heute auffallen.
Weit über 4000 Jahre, bis zur Gründung der Republik 1912, hielt sich der offizielle Seidenkult. Doch auch danach wurde die Produktion in jedem Bauernhaus mit einem Dankopfer an die Gottheit beschlossen. Zum Gebären trugen besser gestellte Frauen pfirsichfarbene Seidengewänder. Mit rosa Seidenbändern umwickelten sie die Babys. Man heiratete in Seide und legte die Särge der Toten mit Seide aus. Seide war das Leben.
Von der Raupe hing die Ernte ab, von der Ernte die Existenz vieler Millionen Menschen. In „Seidenraupen im Frühling“ erzählt der chinesische Schriftsteller Mao Dun, wie ein Dorf in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts die „Schlacht um die Raupen“ führt. Hungrige, ausgezehrte Familien, deren ganzes Vermögen in Maulbeerplantagen steckt, ringen in schlaflosen Wochen den Raupen die Seide ab. Mit der Göttin beschwören sie das eigene Überleben. Der Einfluss der Seidenraupe geht weit über die Tierwelt hinaus. Sie hat ein Volk auf ihre Eigenheiten eingeschworen, hat Sitten, die Landschaft, Sprechweise, Ernährung und Architektur, letztlich den Glauben verändert.
DAS GEHEIMNIS der Seidenproduktion war eines der best gehüteten Geheimnisse der Industriegeschichte. Wer Eier oder Kokons außer Landes trug, dem drohte im alten China die Todesstrafe. Über den Wasserweg und die Seidenstraße verließen lediglich Stoffe das Reich.
Etwa im 5. Jahrhundert vor Christi erreichte die Seide Europa. Es gab Gerüchte um den Stoff. Chinesen hielt man für Übermenschen. Mythen trieben Seidenpreise ins Unerhörte, Seide wurde gleichwertig mit Gold aufgewogen. Sie hat die Welt in Besitzende und nicht Besitzende geteilt. Mit ihr wurden Steuern entrichtet. Sie war Luxus, höfischer Glanz, Statussymbol. „Adamskinder sind wir alle“, geht ein englisches Sprichwort, „aber Seide unterscheidet uns.“
3000 Jahre lang konnte das chinesische Reich das Seidengeheimnis hüten. Bis es eine seiner Prinzessinnen an den König von Kothan verheiratete, der unterhalb des Tarimbeckens residierte. Da die Braut dort nicht auf luxuriöse Gewänder verzichten wollte, schmuggelte sie in ihrer Frisur Maulbeersamen und Eier aus dem Heimatland. Zwei byzantinische Mönche taten es ihr im 6. Jahrhundert gleich, schafften Eier und Samen in Pilgerstäben nach Europa.
In Griechenland, Frankreich, Italien, Spanien, auf dem Balkan, auch in Deutschland wurde Seidenzucht betrieben. Als ein „äußerst beschwerliches und widerliches Geschäft“ beschreibt Johann Wolfgang von Goethe die Seidenraupenzucht, die sein Vater Mitte des 18. Jahrhunderts daheim in Frankfurt als Hobby betrieb. Die Tiere waren einfach zu hungrig. Der Sohn musste beim Füttern helfen. Wenn Nachtfrost den Maulbeerbäumen zusetzte, war das Hobby keine lustige Unterhaltung mehr. Und wenn es regnete, kamen Vater und Sohn mit dem Trocknen der Blätter nicht hinterher. Viele Raupen hat der junge Goethe sterben sehen, und das „erregte einen wirklich pestartigen Geruch“.
Lange, aber niemals von Qualität und mit Erfolg wie in Asien produzierten die Europäer. Mancherorts waren die Bedingungen für Maulbeerbäume nicht die besten. Man hielt es mit der Hygiene nicht so streng. Vielleicht vertraute man auf die Webtechnik, die Fehler in den Seidenfäden ausgleichen konnte. Man rackerte für den Gewinn. „Wissen Sie, was das ist?“, fragt in Alessandro Bariccos Roman „Seide“ der französische Seidenproduzent Baldabiou seinen Bürgermeister. Es ist 1861. Er hat ein Seidentuch mitgebracht. „Frauenkram“, antwortet der Bürgermeister. „Falsch“, sagt Baldabiou. „Männersache. Geld.“
Vielleicht hatte Europa zu wenig Ehrfurcht vor dem Tier. Man produzierte ohne Mätzchen, betrieb keinen Kult. Wenn der Mensch etwas will, auch das erzählt die Geschichte der Seide, macht er es sich so einfach wie möglich. Eine Verheerende Krankheit raffte im 19. Jahrhundert nahezu alle europäischen Raupen und Eier dahin. Heute gibt es nur noch wenige traditionelle Seidenfarmen. Seide ist kein Rezept. Sie ist ein verratenes Geheimnis.
Im Internet, was das Gegenteil von Geheimniskrämerei ist, kann man heute lesen, wie sich Tierschützer über die Herkunft der Seide informieren. Erstaunen, Entsetzen, Zorn über das Töten der Puppen toben sich in den Foren aus. Berechtigterweise. Am erstaunlichsten aber ist im Jahre 2007 der Neuigkeitswert der Information.
TIERE GEHEN im Laufe der Evolution durch viele Katastrophen, ehe ein Typus alle Einflüsse aushält und überlebt. Auch der Mensch ist letztlich des Seidenspinners Feind. Dennoch ist diese Geschichte auch die Geschichte von einem nahezu perfekten Deal. Lästige Fliegen, die Krankheiten übertragen, hat der Mensch seit je her von der Raupe vertrieben. Schlupfwespen, die gern ihre Eier in Raupen legen, gibt es in Seidenraupenzimmern nicht. Seit 5000 Jahren sortiert der Mensch die besten Exemplare des Bombyx mori zur Fortpflanzung aus. Dafür liefert der Qualitätsarbeit. „Er ist wie ein Seidenwurm: Er müht sich für andere ab.“ So geht ein Sprichwort. Aus dem Blickwinkel der Arterhaltung betrachtet, stimmt das nicht ganz.
Nadja Klinger