Der Tagesspiegel, April 2007
Ist das Kunst? Ein Denkmal für den Brandt-Besuch von 1970 treibt Erfurts Bürger auf die Barrikaden. Chronik eines grotesken Streits.
Am Ende dieser Geschichte nimmt ein alter Mann eine Frau tröstend in den Arm. Mehr als Trost ist in der Geschichte nicht mehr drin. Dabei fing sie so gut an.
Am 19. März 1970 reist Bundeskanzler Willy Brandt nach Thüringen. Am Bahnhof Erfurt erwartet ihn DDR-Ministerpräsident Willi Stoph zum ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen. Es steht unter Hochspannung. Bahnhofspersonal wird gesiebt, eine Menge aus „zuverlässigen“ DDR-Bürgern auf den Vorplatz drapiert. Erfurter Betriebe dürfen Angestellten nicht freigeben.
Dennoch strömen 8000 Menschen herbei. Als Willy und Willi erscheinen, überrennen sie Sperren, kippen beinahe die Straßenbahn um, die planmäßig in der Quere steht. Mühsam bahnt die Polizei den Weg vom Bahnhof zum Hotel Erfurter Hof gleich gegenüber. Als die Politiker drin verschwinden, fassen die Menschen auf der Straße Mut. Sie feiern das deutsch-deutsche Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie rufen: „Willy Brandt ans Fenster!“
David Mannstein ist in diesem Moment zwölf Jahre alt. Er lebt in Fulda in Hessen. Jahrzehnte später wird er alles Mögliche über Willy Brandt und Erfurt in Erfahrung bringen. Er wird Filme sehen, Tonbänder hören, Museen besuchen, Zeitzeugen ausfragen, Bücher lesen. Immer wieder wird er ein Foto betrachten, das den Kanzler zeigt, der schließlich ans Hotelfenster tritt. „Der Tag von Erfurt. Gab es einen in meinem Leben, der emotionsgeladener gewesen wäre?“, steht in Brandts „Erinnerungen“. Der 49-jährige Künstler Mannstein, der auch dieses Buch kennt, hat wegen des 19. März 1970 viel Ärger.
Joachim Kaiser, der am Erfurter Anger eine Gold- und Silberschmiedewerkstatt hat, eilte damals zum Bahnhof. Auch seine Tochter kam, türmte über den Zaun aus der Schule. Nie hat die Familie den Tag vergessen. Im Frühjahr 2007 gehört der 77-jährige Kaiser zu einer 13-köpfigen Jury. Die soll im Auftrag der Stadt entscheiden, wie Erfurt des Ereignisses gedenkt. 123 Kunstwerke, darunter eines von David Mannstein, stehen zur Auswahl. Kaiser ist im Künstlerverband. Er gönnt der Kunst einen großen Auftritt. Aber tief in seinem Innern fände er eine Bronzegedenktafel angemessener. Er enthält sich der Stimme. Karin Dietrich, die auch in der Jury sitzt, hebt aus voller Überzeugung die Hand. Auch sie, damals 13 Jahre alt, türmte aus der Schule, um Brandt zu sehen. 1997 trat sie in die SPD ein. Sie gründete den „Freundeskreis Willy Brandt im Erfurter Hof e.V.“ Weil sie in der Jury für den Entwurf von Mannstein gestimmt hat, sagt eine Genossin dieser Tage zu ihr: „Du hast doch ein Rad ab!“ Dietrich erwidert: „Du vergreifst dich im Ton.“ Das tut mittlerweile die ganze Stadt.
Andreas Bausewein ist hier Oberbürgermeister. Am Sonntag, dem 18. März 2007, fast am Jahrestag des Erfurter Treffens, bittet er Kai Uwe Schierz ins Rathaus. Schierz, Anfang 40, leitet die Kunsthalle. Er war Vorsitzender der Jury, die vor knapp zwei Wochen mit elf Stimmen und zwei Enthaltungen klar entschieden hat. Nun nehmen die beiden Männer, der SPD-Politiker und der Jurychef, die Entscheidung zurück. Sie ergeben sich den aufgebrachten Bürgern der Stadt.
Bis 1996 ist der Erfurter Hof ein Hotel, dann liegt er brach. 2004 will die Stadt endlich das prachtvolle Haus am Bahnhofsvorplatz, der inzwischen Willy-Brandt-Platz heißt, wiederbeleben. Der Stadtrat macht 100 000 Euro für ein Denkmal locker. Im September 2006 wird ein freier Wettbewerb ausgelobt. Die Sparkasse Thüringen gibt noch 30 000 Euro dazu.
David Mannstein, der in Weimar studierte und jetzt in Berlin lebt, reizt die Aufgabe. Für ihn ist nicht Helmut Kohl Kanzler der Einheit, sondern Willy Brandt, der das Aufeinanderzugehen verkörperte. Mannstein will beide ehren: den Politiker und das Volk, das ihn ans Fenster rief. Tag und Nacht soll dieses Fenster leuchten. Ein Infoterminal soll vom Ereignis berichten. Und aufs Dach, wo einst „Erfurter Hof“ stand, will der Künstler eine Leuchtschrift setzen. Sie soll die Emotionen transportieren. Deshalb wandelt er den mutigen Ruf von einst in einen Satz um, der nach Zuneigung, Sehnsucht, Hoffnung klingt: Willy komm ans Fenster.
Am 15. Januar 2007 sitzt die Jury zwölf Stunden über den 123 Entwürfen. Karin Dietrich, die SPD-Frau vom „Freundeskreis Willy Brandt“, ist begeistert von der heißen, zugleich fachmännischen Diskussion. Fünf Entwürfe, darunter der von Mannstein, gelangen in die engere Auswahl. Sie werden in der Kunsthalle ausgestellt. Kai Uwe Schierz zählt kaum Besucher. Die Lokalpresse berichtet. Wenn Karin Dietrich durch die Stadt geht, schnappt sie Worte auf: Pop-Art, Las Vegas, Leuchtreklame. Ihr wird mulmig. Schaukelt sich Erfurt hoch?
Es kommt der 5. März 2007. Mannstein gewinnt. Jurymitglied Stefanie Endlich, Honorarprofessorin an der Berliner Universität der Künste, die oft in Wettbewerbe involviert war, sagt: „Mannstein hat eine Idee präzise für diesen Ort geschaffen: einen markanten, zugleich verrätselten Schriftzug, den Platz prägend, ohne ihn zu überbauen, und ohne penetrant erhobenen pädagogischen Zeigefinger.“ Sie fügt hinzu: „Ich kenne keine vergleichbaren Denkmalsentwürfe.“ Das ist fantastisch. Und anscheinend ein bisschen viel für Erfurt.
Wie gesagt, der Gold- und Silberschmied Joachim Kaiser ist selbst Künstler. Mit der Leuchtschrift kann er leben. Was er nicht erträgt, ist, dass der Satz auf dem Dach nicht der Ruf von damals ist. Es fällt ihm nicht leicht, sich der Stimme zu enthalten. Fortan trägt er eine Mappe mit sich, die das Wettbewerbsmaterial enthält. Sie rechtfertigt ihn irgendwie. Zugleich hat Kaiser für das, was nun in der Stadt losgeht, eine verhängnisvolle Markierung gesetzt. Er hat sich gegen Mannsteins eigentlich innovative Idee und damit gegen die Kunst entschieden.
Den abgewandelten Satz beklagen zunächst auch die Leute, die an lokale Zeitungen schreiben. Täglich trudeln Hunderte von Briefen ein. Geht es wirklich darum, dass „Willy komm ans Fenster“ nicht der Ruf von damals ist? Man könnte die Erfurter bitten, zwischen Historie und Gedenkkultur zu unterscheiden. Das wären Argumente. Aber ihre Debatte will keine Argumente. Sie genügt sich selbst. „Geschmacklos“ heißt es in den Überschriften der Leserbriefe an die „Thüringer Allgemeine“ oder „Ein Hohn“ oder „Ein Fall fürs Kabarett“. Die „Thüringische Landeszeitung“ bittet um Antworten auf die schlichte Frage: Kunst oder Quatsch?
Die Leser lassen sich nicht lumpen. Einer schreibt: „Reisende kommen vielleicht ins Grübeln, was es hier für einen merkwürdigen Willy gibt, der auf einem Dach aufgefordert wird, ans Fenster zu kommen.“ Ein anderer: „Wer ist Willy? Etwa der Freund von Biene Maja oder der vom MDR 1 Radio Thüringen?„
Denkmale, Kunstwerke im öffentlichen Raum haben es oft schwer mit der öffentlichen Meinung. Im Feuilleton der Zeitungen ringt man um Für und Wider. Zumindest ein paar Tage. Dann heißt es in einem langen Artikel, das Schlimme an Mannsteins Kunstwerk sei die „unglaubliche Dämlichkeit“. Zwei Worte werfen Schatten über alle Bemühungen. Der unsägliche Umgangston ist nun überall. „Es gibt Geschichtsbücher und Poesiebücher“, erklärt die Leserschaft der Jury. „Beide haben relativ wenig miteinander zu tun.“
Jurychef Kai Uwe Schierz war fünf, als Willy Brandt Erfurt besuchte. Er lebte in der Oberlausitz. Aber nicht deshalb betrachtet er das Ereignis mit Distanz. „Jede Geschichtsschreibung ist Interpretation“, sagt er. „Zeitzeugen sind eine schwache Quelle.“ Das zitiert die „Thüringer Allgemeine“. Die Überschrift passt nicht zu Schierz' Aussage, aber heizt die Debatte an. Sie lautet: „Absage an die Kompetenz besorgter Bürger“.
Derweil erhält David Mannstein in Berlin Glückwünsche aus der ganzen Bundesrepublik. Und er liest Erfurter Zeitungen. Eins passt nicht zum anderen. Er spricht mit Künstlern, Freunden, Leuten von Rang und Namen. Er will verstehen. Aus Erfurt kommen zornige Anrufe. Kunst müsse einen Reiz haben, sagt Mannstein ins Telefon, sie sollte nicht eindeutig sein, bedürfe eines Augenzwinkerns. Er müht sich wie ein Lehrer mit Grundschülern. Er leidet. Wird krank.
In Erfurt greifen sie ihn jetzt persönlich an. „1970 hat der damals Zwölfjährige sicherlich nicht die Bedeutung des Treffens von Brandt und Stoph einordnen können, es ist sogar zu bezweifeln, ob dies im Nachhinein mit aller Ernsthaftigkeit geschah“, heißt es auf der Leserpostseite. Und: „Herrn Mannstein ist kein Vorwurf zu machen, in seiner Schlichtheit weiß er es nicht besser.“
Was tun die Stadtpolitiker? Die SPD erklärt in der Zeitung, dass die Politik wegen einer emotional geführten Debatte keinen Siegerentwurf kippen kann. Zugleich schreibt eine Genossin, dass Juryentscheidungen nicht unumstößlich seien. Und erwähnt, dass es um Geld der Steuerzahler geht.
Gold- und Silberschmied Joachim Kaiser sitzt in der Stadtfraktion der CDU. „Schildbürgerstreich statt Kunst“, urteilt seine Partei. Kaiser erklärt der Fraktion, dass er zugestimmt hätte, wenn der Satz auf dem Dach originalgetreu gewesen wäre. Gern würde er auch erzählen, wie viel ihm Willy Brandt schon immer bedeutete. Dass er den Kniefall von Warschau nie vergessen wird. Doch er sagt: „Ich weiß nicht, ob ich damit punkten kann.“
Die CDU will, dass die Jury mit der Auswahl noch einmal ganz von vorn beginnt. Man überprüft, wie man das im Stadtrat durchkriegen kann. Man durchsucht die Werbesatzung. Noch nie ist in Erfurt eine Leuchtschrift auf einem Dach genehmigt worden. Man frohlockt: Was für einen gilt, gilt für alle.
„Wenn ein Künstler mit Beleuchtung arbeitet, bleibt das Kunst und wird nicht Werbung“, sagt Kai Uwe Schierz, „ansonsten könnte die GEZ durch Museen gehen und für Installationen, in denen Fernseher verwendet werden, Gebühren einziehen!“ Allmählich wird Schierz unruhig. Er sagt: „Mit dem, was hier geschieht, hab ich langsam ein Problem.“
Was eigentlich ist mit der Sorgfaltspflicht der Stadt für die Jury, die sie sich holte? Für den Künstler, den sie für sich arbeiten ließ? Am Sonntag, den 18. März 2007, ist auch David Mannstein mit beim Oberbürgermeister im Rathaus. Er ist immer noch krank. Er erklärt sich bereit, seinen Satz auf dem Dach in den Ruf von einst umzuändern. „Ich will die Sache retten“, sagt er. Er ist der Einzige in Erfurt, der sich wirklich auf andere zubewegt. Der Einzige, dem der Kompromiss richtig wehtut. „Willy Brandt ans Fenster“ ist immer noch eine Leuchtschrift, doch nicht mehr des Künstlers Werk.
„Wo bleibt die Verfahrenskultur, wenn eine so einmütige Juryentscheidung einfach weggewischt wird? Ich bin geschockt, wie schnell alle aufgeben“, sagt Stefanie Endlich, die man in Berlin per Telefon informiert. Oberbürgermeister Bausewein hofft, dass die Sache ihr Ende gefunden hat. Nach Ostern verteilt die CDU auf dem Anger Fragebögen. Die protestierenden Erfurter hätten Geschichtsfälschung verhindert, steht dort geschrieben. Jetzt sollen sie ankreuzen, ob eine Leuchtschrift nicht überhaupt unpassend ist. Die CDU sitzt dem Bürgermeister im Nacken. Sie hat 20 Abgeordnete im Stadtrat, die SPD nur acht. Andreas Bausewein ist auf die Toleranz anderer Parteien angewiesen. Toleranz ist in Erfurt momentan nicht auf der Tagesordnung.
Als Kai Uwe Schierz übern Anger kommt, sieht er Joachim Kaiser am CDU-Stand stehen. Hat er kein Problem damit, sich gegen die Jury zu stellen, der er angehörte? Schierz, der ehemalige Vorsitzende, fragt ihn. Kaiser murmelt. Es fällt das Wort Bronzegedenktafel.
Die SPD-Frau Karin Dietrich schwärmt immer noch von der Juryarbeit. Und ist traurig über ihre Stadt. Ein alter Mann aus dem „Freundeskreis Willy Brandt“ hat 1970 ein Foto vom Kanzler am Fenster gemacht. Er gilt als einer der Zeitzeugen. Jetzt nimmt er Karin Dietrich in den Arm. „Ich erinnere mich“, sagt er: „Einige haben damals auch 'Willy komm ans Fenster' gerufen.
Nadja Klinger