Der Tagesspiegel, August 2004
Morgen erst sollte es losgehen. Das Volk war schneller: Wie aus wenigen eine Lawine wurde. Leipzig vor der großen Demonstration.
Irgendwo hat Winfried Helbig seine Plastiktüte liegen lassen. Das musste ja passieren. Er rennt herum wie aufgescheucht. „Habe einen Kopf wie ein Sieb“, sagt er. Aber komischerweise fällt durch dieses Sieb nichts durch. Eigentlich hat Helbig alles unter Kontrolle: die Presse, die Demonstranten und auch den Pfarrer der Nikolaikirche, der zu den Leipziger Montagsdemonstrationen nun einmal dazugehört. Morgen - bei der bisher wahrscheinlich größten Montagsdemonstration gegen Sozialabbau - will der nun endlich auch mitlaufen. Dennoch, seit Wochen kämpft Helbig tapfer mit dem Gefühl, dass die Sache ihm über den Kopf wachsen könnte. Könnte sie das wirklich? Seine Wuschelhaare stellen sich auf seinem Kopf auf. Er ist immer ein kleines Stück größer als die Probleme, die sich auftun.
In der Plastiktüte ist sein Schlüssel drin. „Egal“, sagt Helbig. Nicht egal: die Zigaretten. Es ist Montag, der 23. August, kurz vor 18 Uhr. Helbig steht auf dem Leipziger Nikolaikirchhof und findet noch drei Fluppen in der Innentasche seines schwarzen Jacketts. Die reichen niemals bis zum Ende der Demonstration. Er kann nur hoffen, dass er so viele Freunde hat, wie es derzeit aussieht. Die Glocken läuten. Es wird schon mit den Füßen gescharrt. Pappschilder und große Transparente werfen Schatten. „Freunde!“, ruft Helbig durchs Megafon. „Los!“ Die Menschenmasse folgt ihm.
Im Polizeirevier um die Ecke findet sich eine Tüte. Es ist auch ein Handy drin. Die Polizisten wählen die erste Nummer im Telefonverzeichnis. Es meldet sich Helbigs alter Bekannter A. Er ist gerade auf dem Weg zur Demo. Er könne nicht sehen, wessen Handy das sei, sagt er, die Nummer erscheine nicht auf seinem Display. Aber er kenne nur einen, der sich derzeit öfter mal bei der Polizei aufhalte, um mal wieder eine Demo anzumelden. Beinahe hätte A. „bei den Bullen“ gesagt. Bei den Demonstrationen zeigen sich die Beamten freundlich und kooperativ. Zur Probe aufs Exempel ruft A. unter Helbigs Nummer zurück. Alles klar.
Es ist jetzt 18 Uhr 30. Vorneweg die Polizeiwagen, dahinter Helbig, dann das erste Transparent - so kommen die Massen über den Augustusplatz auf den Innenstadtring. Sie rufen: Rot oder Schwarz! Weg mit Hartz! „Habt Ihr schon Zahlen?“, fragt Helbig den Einsatzleiter. „Gleich“, sagt der. Eine der drei Zigaretten muss dran glauben. Helbig verschluckt sie fast. Die Demonstranten rufen: „Ohne Preis kein Arbeitsfleiß!“ Da reißt er das Megafon hoch. „Freunde! Wir sind schon über 25.000!“ Jubel fällt über ihn her. Helbig senkt den Kopf und marschiert weiter. Obwohl er nicht groß ist, macht er riesige, federnde Schritte. Man kann es nicht sehen, aber er tanzt.
Helbig hat denselben Beruf gelernt wie Gregor Gysi von der PDS und Peter-Michael Diestel, der letzte Innenminister der DDR. Alle drei haben sie Rinderzüchter gelernt. „Ich gehöre zur Rinderzüchterfraktion“, sagt Helbig. Er ist aber dann nicht Rechtsanwalt geworden wie die beiden anderen, sondern hat als Museumsführer gearbeitet und beim Rat der Stadt Leipzig. Er hat das Abitur nachgeholt, in einer Fachschule unterrichtet und ist Heizer in der Pädagogischen Hochschule gewesen. Er war bei den 89er Montagsdemonstrationen dabei, ist aber danach nicht Politiker wie die anderen beiden Rinderzüchter geworden, sondern arbeitslos. Helbig hatte mal größere Hoffnungen. „Jiri Dienstbier war auch erst Heizer und dann tschechischer Außenminister“, hat er sich gesagt. Auf Helbig warteten eine Umschulung, Sozialhilfe, eine ABM, Arbeitslosengeld.
Irgendwann hatte er Christian Führer kennen gelernt, den Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche. Das war ein Mann, der die großen Hoffnungen ebenso wenig aufgab wie die Probleme des kleinen Mannes auf der Straße. Führer war wegen seiner Friedensgebete, wegen des Mutes und der Fürsorge, die er vor allem in den letzten Jahren der DDR und dann im Herbst 1989 aufgebracht hatte, berühmt. Er passte zu Helbig, besser gesagt zu dem, was ihm durch den Kopf ging: „Dass man was tun muss.“ Weihnachten 2002 saß Winfried Helbig mit Kerzen auf dem Kopfsteinpflaster vor der Nikolaikirche und mahnte - der Irakkrieg stand bevor. Er erinnert sich: „Die Mahnwache hat die Leute gestört, als sie von der Messe kamen.“
Schon viele Jahre vorher, 1990, hatte die Kirchengemeinde von Christian Führer den Gesprächskreis „Hoffnung“ für Arbeitslose ins Leben gerufen. Rosemarie Wunnenburger war von Anfang an dabei gewesen. Sie hatte sich Kummer von der Seele reden, aber auch helfen wollen. Sie hat den Glauben wie der Pfarrer und sie braucht die Aktion wie Helbig. Sie ist Chemieingenieurin und hat im Leipziger Fleischkombinat in der Schadstoffanalytik gearbeitet. Die Gerätschaften, mit denen dort geforscht wurde, waren schlecht, und Chemikalien gab es auch kaum. Als 1989 die Montagsdemonstranten um den Ring zogen, war sie dabei. Zu Hause lag ihr Mann mit Krebs, die Tochter war schwanger, die Schwiegertochter auch, beide hatten keine Wohnung. Es war eng geworden für Rosemarie Wunnenburger. Sie hatte kaum mehr Kraft, als es auch noch mit der DDR zu Ende ging. Sie dachte: Vielleicht können wir jetzt anfangen, richtig zu forschen. Dann wurde sie arbeitslos.
Sie hat sich beworben, sie ist noch mal zur Universität gegangen. Sie hätte jeden Job gemacht. Sie war über 50 und hatte das Gefühl, mit ihr ist es aus. „Was kann ich tun?“, hat sie Pfarrer Führer gefragt. Bei der Kirchlichen Erwerbsloseninitiative andere Arbeitslose zu beraten, wurde ihr neuer Beruf. Meistens haben die Leute nur erzählt. Von Verschuldung, Räumungsklagen, vom Alkohol und der Ehe, die das alles nicht aushielt. „Man spricht immer von soundso viel Millionen Arbeitslosen“, sagt Wunnenburger, ?aber an jedem hängt eine Familie, die das Schicksal mit erwischt.“
Letztes Jahr haben der Pfarrer und die Erwerbsloseninitiative Protest gegen den Sozialabbau organisiert. Winfried Helbig, der mit anderen das Sozialforum Leipzig gegründet hatte, meldete Demonstrationen an. An 14 Montagen sind sie von der Nikolaikirche zur Thomaskirche gelaufen. Sie waren nie mehr als ein paar Hundert Mann: ewig Aktive, die man auch sonst auf jeder Veranstaltung trifft, aber kaum einer der 70000 Leipziger Arbeitslosen. Immer die PDS. „Die Passanten, an denen wir vorbeigezogen sind, haben mildtätig gelächelt“, sagt Rosemarie Wunnenburger. „Es hat mich jedes Mal wieder angepiept, dass keine Arbeitslosen gekommen sind“, sagt Christian Führer.
Auch als am Jahresende Hartz IV beschlossen wurde, waren keine aufgebrachten Bürger zu sehen. Erst diesen Sommer, als die Anträge auf Arbeitslosengeld II verschickt wurden, kam in Leipzig Unruhe auf. „Die Leute haben uns Sachen gefragt, nach denen sie sich längst hätten erkundigen können“, sagt eine Mitarbeiterin der Erwerbsloseninitiative. Weil sie auch nicht bessere Antworten hatte als die, die im Internet und in den Zeitungen standen, kam Bitterkeit und Panik auf. Überall in der Stadt konnte man spüren, dass die Menschen bald losziehen würden. Wenn man nicht mehr weiterkann, das wissen sie in Leipzig seit 1989, dann gibt es immer noch den Augustusplatz.
Winfried Helbig und Christian Führer planten für Montag, den 30. August, nach der Friedensgebet-Pause im Sommer, ein Sonderfriedensgebet zum Thema „Gerechtigkeit für alle“ und eine Demonstration. Als der Pfarrer aber Anfang August aus dem Urlaub zurückkam, sagte Helbig, man könne nun nicht mehr länger warten. Er zeigte ihm Flugblätter. Die Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo) hatte auch schon eine Montagsdemonstration angemeldet. „Vorsicht!“, sagte Christian Führer in der Kirche, „die Flugblätter lesen sich wie Pamphlete aus der Vorhitlerzeit.“ Wie Bankrotterklärungen des Systems. Zu Helbig sagte er: „Mach! Ich laufe aber noch nicht mit.“
Für den berühmten Pfarrer des Herbstes 89 gehören Gebet und Aufstand zusammen. „Den Menschen soll das Licht des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung aufgehen“, ehe sie demonstrieren, Winfried Helbig sieht das anders. „Ausgerechnet die Leipziger zur Besinnung aufzufordern, ist unangebracht.“ Beim Ordnungsamt fand man es schon irgendwie besinnungslos, dass plötzlich zwei Montagsdemonstrationen stattfinden sollten. Man bat das Sozialforum und die BüSo, gemeinsam zu gehen. „Wir wollen die Bevölkerung organisieren und politische Linien diktieren“, sagt Karsten Werner, der Leipziger BüSo-Chef darüber, warum sie demonstrieren. Helbig sagt dazu gar nichts. Seine Schotten sind dicht.
Dann kam der 7. August, der Montag nach Christian Führers Urlaub: Der Pfarrer schickte sich gerade an, 25 Touristen die Nikolaikirche zu zeigen, da läuteten plötzlich die Glocken. Der Küster sagte, ein Fernsehteam habe ihn in der Mangel gehabt, und er hätte es verpasst, die Glocken abzustellen. Jedenfalls war plötzlich die Kirche voll. Der Pfarrer musste reden. „Es ist eine verheißungsvolle Situation, wenn Menschen wieder Plakate malen und sich einmischen“, sagte er. Dann trug er sein Schild mit der Aufschrift „Menschen Würde(n) Arbeit(en)“ vor die Kirche. Die Menschen zogen los. Der Pfarrer blieb stehen.
„Er lässt sich nicht reinreden“, sagt Wolfram Helbig. „Er fragt immer: Was würde Jesus dazu sagen? Ich sage: Es gibt Wichtigeres als das, was Jesus sagen würde.“ Sie haben abgesprochen, dass Führer in der Kirche und Helbig auf der Straße den Hut auf hat. „Zum Glück, denn in der Kirche darf ich nicht rauchen“, sagt der. Und fügt hinzu: „Er hat ein Gotteszeichen bekommen, als auf einmal die Glocken geläutet haben.“
„Es war noch nie so, dass die Montagsdemo und die Nikolaikirche getrennt waren“, sagt Christian Führer. Es ist alles ein bisschen schnell gegangen. Ein bisschen schnell hat man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt: Hartz muss weg! „Die Kirche ist ein Ort, an dem es die Chance gibt, differenziert zu reden“, sagt der Pfarrer. „Ich kann und ich werde sagen: Hat eigentlich schon mal jemand über die Vorteile dieses Gesetzes nachgedacht?“ Bei den Demonstrationen hat er das bisher noch nicht gesagt, dafür aber erklärte er an einem Augustmontag Folgendes: „Beten gegen Hartz IV, das ist medialer Unfug.“ Danach sprach er das Vaterunser für die Arbeitslosen. Und dann stand er, wie immer in Jeanshose und -weste, den Aktenkoffer zwischen den Beinen, mit seinem Schild vor der Kirche. „Was macht der?“, rief ein Demonstrant. „Lass den! Der hat sich immer für die Kleinen eingesetzt!“, rief ein anderer.
„Der Pfarrer hält durch“, sagt Rosemarie Wunnenburger. „Er bleibt auch an einer Sache dran, wenn er kaum einen hinter sich hat. Er ist stark im Glauben.“ Beim Vaterunser in der Kirche war Führer überrascht, dass viele mitgesprochen haben. „Ich bin froh, dass doch so viele Gläubige in meiner Kirche sind“, sagt er.
„Freunde! Aus dem Westen, aus Düsseldorf, haben sie angerufen und lassen grüßen!“, ruft Winfried Helbig. Die Demonstranten sind jetzt nach langem Marsch auf dem Ring um die Innenstadt bei der Abschlusskundgebung angekommen. Helbig hat jetzt ein Mikrofon. Es wird gejubelt. Derweil verrät ein Mann, der eben vorbeiradelt, dass er auch aus dem Westen ist. „Ihr habt gearbeitet und gearbeitet, und was ist schon bei rausgekommen?“, ruft er. Sie stürzen sich auf ihn. „Ihr habt euch doch an uns gesundgestoßen! Geh in deine Heimat und lass uns hier zufrieden!“ Die Leipziger können sich nicht beruhigen. „Hartz betrifft euch genauso, kapierst du das nicht?“ - „Ich hab Arbeit“, sagt der Mann aus dem Westen. „Ich hab auch Arbeit!“, rufen die Umstehenden. „Ich arbeite 40 Stunden die Woche! Aber ich geh hier für die andern auf die Straße, kannst du das verstehen?“
Nicht nur die Demonstrationszüge werden von Montag zu Montag größer, sondern auch das Gefühl, dass man sie bald nicht mehr im Griff hat. „Mann, sind die Leute aggressiv“, sagt Helbig. Eigentlich macht er lieber Witze, als dass er sich beklagt. „Hier am Mikrofon kann ich nicht mehr ironisch werden. Das verstehen die Leute nicht.“ Er lässt jeden reden, der reden will, nur keinen Politiker. Zwei Jugendliche rufen zum Sturm auf das Arbeitsamt auf. Eine Frau will den Bundestag in die Luft jagen. „So geht das nicht“, sagt Helbig. „Aber ich kann mir doch die Texte nicht zeigen lassen.“ Das war vergangenen Montag, für den morgigen hat das Leipziger Ordnungsamt nun schon drei Demo-Anmeldungen. Erst sind die Leute vom Aktionsbündnis Leipzig für Soziale Gerechtigkeit bei Helbig mitgelaufen. Den 30. August, den Tag, an dem die symbolträchtige Nikolaikirche mit dabei ist, wollen sie aber für sich reklamieren. Sie haben ein Fax in Umlauf gebracht, auf dem steht, dass Winfried Helbig aussteigt, und sie haben Oskar Lafontaine als Redner eingeladen. „In welcher Betroffenheit will der zu uns sprechen? Ich gehe nicht auf eine Wahlkampfveranstaltung“, sagt Christian Führer. „Ich will lieber Oskar reden hören als den Pfarrer“, sagt ein Demonstrant, „denn der ist doch sowieso nicht gegen Hartz IV.“ - „Woher weißt du denn das?“, fragt Helbig. „Das sieht man doch“, antwortet der Mann.
Am letzten Montag sind auf Helbigs Demo am Ende über 30000 Menschen, und er ruft ins Mikro: „In Berlin laufen zwei Demos gegeneinander! Wir aber haben es wieder geschafft, gemeinsam zu gehen! Lasst euch nicht beirren! Treffen wir uns nächsten Montag!“ Alle, die Hartz IV beschlossen hätten, sollten dann zusammen in Leipzig Rede und Antwort stehen, schlägt er vor. Die Menschen finden seine Idee großartig. Bevor sie heimgehen, schenken ihm einige was zu rauchen.
Dann aber fanden einige Helbigs Idee mit den Politikern doch nicht so gut. Nun streiten sie sich auch im Sozialforum. Politiker oder keine? Und Helbig sagt: „Man hat mich abgesägt.“ Was seine Leute über ihn denken, erfährt Helbig von Journalisten. Am vergangenen Donnerstag hat er ihnen gesagt, er wolle nicht mehr der Sprecher sein. Und der sächsische Landesbischof wird in der Nikolaikirche predigen. Der Pfarrer, so steht es in der Zeitung, werde nun doch nicht mitdemonstrieren. Freund A. sagt zu Helbig: „Du gehst einfach die Straße entlang. Dir laufen sowieso alle hinterher.“
Nadja Klinger