Der Tagesspiegel, Juni 2004
Am 22. Juni fällt das Gerüst an der Dresdner Frauenkirche. Wie der Wiederaufbau die Menschen einer Stadt zueinander gebracht hat.
Mitunter wird Stephan Fritz nach dem Gottesdienst aufgehalten. Er weiß nicht, wer die Leute sind, die ihn ansprechen. Es geht um die Kirche. Es geht um Steine, um Vermisstes, um Fundstücke, um Erinnerung. Man redet sehr vertraut miteinander. Obwohl die Leute von sonst woher kommen. Aber auch wenn sie gleich um die Ecke wohnten, würde Stephan Fritz sie wohl nicht kennen. Er ist hier in Dresden, wo 80 Prozent der Menschen konfessionslos sind. Wo es wie überall in Ostdeutschland kaum Kirchgänger gibt. Er ist hier nur der Pfarrer.
Er ist nur der Pfarrer, gleichzeitig ein besonderer Mann. Die Welt schaut auf ihn. Er empfängt Touristen und Journalisten. Er spricht mit Politikern. Zu seiner letzten Weihnachtsvesper kamen 10000 Menschen. Sie standen im klirrenden Frost auf dem Neumarkt und hingen an seinen Lippen. Zuweilen werden seine Auftritte im Fernsehen übertragen. Man sieht ihn dann im Wetter stehen. Gegen sein Mikrofon schlagen Windböen, und hinter ihm ragt ein gigantisches Baugerüst auf. Stephan Fritz ist Pfarrer einer Kirche, die es eigentlich noch gar nicht gibt. Zuständig für eine Gemeinde, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst hat.
Er ist Mitte 40 und hat den Krieg nicht erlebt. Stephan Fritz kannte die Ruine der Frauenkirche am Dresdner Neumarkt und hat gesehen, wie Gras drüberwuchs. Heute sagt er: „Zerstörung zerstört mehr als nur ein Haus.“ In dem 22000 Kubikmeter großen Trümmerberg, das hat sich herausgestellt, lag auch ein Stück der Seele Dresdens begraben. Man hat 87000 zum Teil schwer beschädigte Mauersteine gefunden. Ein jeder Stein, auch das hat der Pfarrer erkannt, ist letztlich ein Überlebender. Mit jedem Fassadenstück, das identifiziert wurde, wuchs der Wille, Zerstörtes wieder zusammenzufügen. Schon oft in seinem Leben als Geistlicher hat Fritz Versöhnung gepredigt. Jetzt, als Pfarrer der Dresdner Frauenkirche, muss er zugeben, dass er die Kraft, die in Versöhnung steckt, nicht wirklich kannte.
Fast 700 Jahre hat die Frauenkirche oberhalb der Brühl'schen Terrasse nahe der Elbe gestanden. Bis zum 18. Jahrhundert war sie noch kleiner, dann ist sie abgerissen und neu errichtet worden. Seit Mai 1743 gehörte sie zu den schönsten protestantischen Zentralbauten Deutschlands. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, in der Nacht des 13. Februar 1945, als die Bomber der Westalliierten ihren vernichtenden Angriff auf Dresden flogen, suchten hunderte Menschen Schutz im Keller der Kirche. Bomben prallten an der Sandsteinkuppel ab. Ringsum jedoch war alles zerstört. Durch die Detonationen brachen die Fensterscheiben. Beim zweiten Angriff, einen Tag später, fielen 50.000 Brandbomben. Die Feuerwand brach durch die kaputten Fenster ins Kircheninnere. Die Holzbänke loderten, die Flammen kletterten die Emporen hoch, es wurde heißer und heißer. Bei 600 Grad platzt Sandstein aus.
Nach dem Angriff stand inmitten der zerstörten Stadt - die Frauenkirche. Noch immer waren im Keller Menschen, jedoch hatten sie kaum Sauerstoff zum Atmen. Sie tauchten ihre Kleider in Wasserfässer, verhüllten die Köpfe der Kinder mit feuchten Tüchern und liefen durch die brennenden Trümmer an die Elbe. Dort holten sie Luft und überlebten. Doch am 15. Februar um 10 Uhr 15 blickten sie noch einmal zurück und hielten den Atem an. In dieser Minute konnten die von der Hitze zugerichteten Sandsteinpfeiler der Frauenkirche die Kuppel nicht mehr tragen. Verglichen mit dem Lärm der letzten zwei Tage sank sie still und erschöpft nieder und zerschlug das Gewölbe.
Gottfried Eimert wurde kurz vor dem Krieg in Moritzburg geboren. Von dort sah er im Februar 1945 den glutroten Himmel über Dresden. Der Vater nahm ihn an die Hand und fuhr mit ihm in die Stadt. Verkohlte Leichen lagen herum, es stank, Trümmer hatten die Straßen verschüttet. Es gab nur noch die Elbe und Himmelsrichtungen zur Orientierung. 1949 hat Eimert eine Maurerlehre in Dresden begonnen, acht Jahre später die Polierprüfung gemacht. Im Sommer gab es auf dem Bau viel zu tun, im Winter haben sie enttrümmert. Die Ruine der Frauenkirche blieb als Mahnmal stehen. Im Laufe der Jahre gab es Versuche, sie abzureißen und einen Kulturpalast an ihre Stelle zu setzen. Und es gab Denkmalpfleger, die um die Ruine gekämpft und sie gepflegt haben. Gottfried Eimert würde es ihnen danken, aber das wusste er damals noch nicht.
Auch der Vater von Stephan Fritz ist mit seinem Sohn vom Dorf zur Ruine nach Dresden gefahren. Das war Anfang der 60er Jahre und der Junge gerade fünf. Schau dir das an, hat der Vater gesagt, das ist Krieg! Sie blieben lange stehen. Heute sagt Stephan Fritz: „Ich war sehr früh viel politischer als mein Vater.“
Weil er nicht in der FDJ war, durfte er kein Abitur machen. Auch gab man ihm keine Lehrstelle als Elektromonteur. Mit Hilfe der Kirche hat Stephan Fritz Theologie studiert. Zum Vikariat ging er nach Jena, das war Anfang der 80er Jahre. Die Jenaer Friedensgemeinschaft unter dem Dach der Kirche hat ihn geprägt. Er hat Abende auf der Polizei verbracht, wo das Symbol für „Schwerter zu Pflugscharen“ von seiner Jacke gerissen wurde. Seit Anfang der 80er Jahre sind Jenenser und andere Friedensgruppen im Februar mit Kerzen zur Ruine der Frauenkirche gefahren. Sie protestierten gegen Nato-Mittelstreckenraketen. Das war unerwünscht, weil die DDR ohnehin gegen die Raketen war. Es war verboten, weil in solchen Gruppen Widerstandspotenzial steckte.
Einmal war Stephan Fritz an der Ruine dabei. In den Hinterhöfen rund um den Neumarkt stand die Staatssicherheit. Hohe Kirchenleute richteten einen Gottesdienst aus. Wollte man die Jungen mit den Kerzen festnehmen, musste man auch die alten Kirchenherren und den Bischof mitnehmen. Von der Dresdner Kreuzkirche her kamen auch Menschen mit Kerzen herüber. Unter ihnen war Gottfried Eimert. Vielleicht, weil sein Sohn auch mitlief. Weil er Angst um den Jungen hatte. „Letztlich wurden an der Ruine die Methoden der gewaltfreien Revolution geprobt“, sagt Stephan Fritz.
Kurz nach dem Mauerfall, am 13. Februar 1990, kam der „Ruf aus Dresden“. Eine Bürgerinitiative, angeführt vom Trompetenvirtuosen Ludwig Güttler, bat die Welt um Hilfe für den Wiederaufbau der Frauenkirche. Es war eine kühne Bitte. Sie hatte viele Gegner. Für die Leute aus der Friedensbewegung war die Ruine ein Symbol. Jetzt, da Deutschland sich anschickte, größer und stärker zu werden, hielt man die offenen Wunden für wichtiger denn je, damit sie das Volk an das dunkle Kapitel der Geschichte erinnerten. Fast alle Kirchenleute waren gegen den Wiederaufbau. Lieber sollte man die Kirchen in Dresden und Umgebung reparieren, anstatt noch eine hinzuzusetzen. Zudem verstand sich die Kirche aus der DDR heraus als eine Einrichtung ohne Privilegien. Sie werde, argumentierten Bischöfe und Pfarrer, von der Überzeugung der Menschen getragen. Sie brauche keine Repräsentanz und keine Macht. Auch Stephan Fritz war ein Gegner der Aktion. 1992 schrieb er eine harsche Eingabe an die Synode, dass man den Bau bleiben lassen solle.
Doch Ludwig Güttlers Bürgerinitiative hatte bereits weltweit Aufsehen erregt. Ein Förderkreis war entstanden, dann eine Gesellschaft zur Förderung des Wiederaufbaus. Sie hat inzwischen 6400 Mitglieder in über 20 Ländern. Sie wirbt um Spenden. Kleine Leute geben ein paar Euro, mancher überweist eine Erbschaft. Firmen kaufen die von der Dresdner Bank entworfenen Stifterbriefe für 250, 750 und 1500 Euro. Etliche Kollektionen Armbanduhren mit dem Motiv der Frauenkirche sind verkauft worden. 1995 hat der Bund eine Gedenkmünze herausgegeben. Auch in Großbritannien, Frankreich und der Schweiz entstanden Fördervereine. Zu den Ehrenmitgliedern von „Friends of Dresden, Inc.“ in den USA gehören David Rockefeller und Henry Kissinger. Der Präsident des Vereins, der Nobelpreisträger Günter Blobel, hat von seinem Preisgeld fast 820000 Euro gespendet.
1993 wurde die „Stiftung Frauenkirche“ gegründet. Sie war fortan Bauherrin und hat mit der archäologischen Enttrümmerung begonnen. Jeder Stein auf dem Trümmerberg wurde identifiziert, mit einem elektronischen Steckbrief und einer Kennmarke versehen, um ihn später an seiner ursprünglichen Stelle einbauen zu können. Anderthalb Jahre lang wurde das wiederverwendbare Material in überdimensionale Regale auf dem Neumarkt einsortiert. Touristen standen am Zaun: „Sieh dir das an!“, riefen sie. So wie es einst der Vater des kleinen Stephan Fritz gerufen hatte. Auch das, was man jetzt sah, gehörte irgendwie zum Krieg: der Entschluss, ein anderes Leben zu leben.
Immer wieder sprachen Schaulustige die Bauleute und Restauratoren an, bis sich der Dresdner Rentner Andreas Zimmermann meldete. Er quartierte sich im Arbeitscontainer der Bauleitung ein und erteilte Auskünfte. Er führte kleine Gruppen über die Baustelle und hatte bereits nach wenigen Führungen Spenden von Touristen eingenommen. Also wurden Gehwege für weitere Führungen über den Trümmerberg gelegt. Leben kam in die Frauenkirche, ehe überhaupt ein Stein gesetzt war. Im Februar hat Zimmermann das Bundesverdienstkreuz bekommen.
Als 1995 die Bauarbeiten begannen, war Gottfried Eimert Polier. Seine Firma wurde für die Frauenkirche engagiert. Eimert hat den Rohbau um die Ruinenreste mit angelegt, hat am Kellergewölbe gearbeitet und erste Mauern hochgezogen. Es war keine gewöhnliche Arbeit. Wenn er einen Stein bewegte, hatte er das Gefühl, damit Menschen glücklich zu machen. Er selbst war so glücklich, dass er nach der Schicht nicht heimfahren konnte. Auch er führte nun Menschen über die Baustelle. Er trat in den Förderverein ein. Es fehlen noch acht Millionen Euro. Neulich, auf der Versammlung, hat Ludwig Güttler gesagt, was er seit Jahren sagt: Wenn ihr um Spenden bittet, habt keine Hemmungen! Sagt den Leuten, man müsse das Geld nicht unbedingt hören, wenn es in die Box fällt. „Der Güttler hat das Herz auf dem rechten Fleck“, sagt Eimert.
1996 hat seine Firma die Arbeit verloren, und er ging in den Vorruhestand. Aber er ging nicht wirklich. Noch heute gehört er zum Besucherdienst. Im Jahr 2003 hat die Frauenkirche durch Führungen 850000 Euro eingenommen. Am Ende wird der Wiederaufbau zu 80 Prozent aus Spenden finanziert sein. Dann hat man 130 Millionen Euro verbraucht.
Im Sommer 1996 wurde die Unterkirche geweiht. Ein Jahr später waren die Außenmauern acht Meter hoch, die Innenpfeiler wurden gebaut. Förderkreise in Celle und Osnabrück spendeten je einen Pfeiler zu 500.000 Mark. Dann wurde die Sandsteinkuppel gemauert. Seit dem 18. Jahrhundert war nie wieder so eine Kuppel gebaut worden.
Im Jahr 2000 wurde Stephan Fritz, der Studentenpfarrer in Dresden war, zum Bischof gerufen. Die Frauenkirche, die bereits wieder Geschichte schrieb, brauchte dringend einen Pfarrer. „Warum ich?“, fragte Fritz. Weil er in der Geschichte drinstecke, antwortete man ihm. Vier Wochen hat er überlegt. Das machst du auf keinen Fall!, hat er sich eingeredet. Dann hat er zugesagt. „Man muss Erfahrungen sammeln, anstatt an den alten zu kleben.“ Bald nachdem er sich von den alten Erfahrungen losgemacht hatte, sind ihm neue zuteil geworden. Die Briten kamen nach Dresden und schenkten der Stadt ein neues Turmkreuz. Der Silberschmied, der es bearbeitet hatte, war der Sohn eines Bomberpiloten, der den Angriff auf Dresden mitgeflogen hatte. Pfarrer Fritz schüttelte dem Schmied die Hand. Am Gerüst ließ er ein Transparent anbringen. „Brücken bauen, Versöhnung leben“, stand darauf. „Heilung ist eine unserer Botschaften. Allem Anschein nach trifft sie auf die Sehnsucht der Stadt“, sagt er. Überlebende schreiben ihm, dass sie nach Dresden zurückkommen, um die Frauenkirche zu sehen. „Ich habe aus der Ferne über den Wiederaufbau diskutiert. In der Nähe wird vieles anders“, sagt Fritz. „So ist das oft im Leben.“
Am 22.Juni 2004 soll das goldene Turmkreuz aufgesetzt werden. Die Außenarbeiten sind dann beendet. Das Gerüst fällt. Am 30.Oktober 2005 wird die Dresdner Frauenkirche geweiht. Für den Tag gibt es schon so viele Anmeldungen, dass man ihn 30 Mal ausrichten müsste. Das ZDF wird live übertragen.
Gottfried Eimert hat sich Visitenkarten angeschafft. Auf denen steht: Gottfried Eimert, ehemaliger Polier, Frauenkirche. Wenn er täglich mehrmals den Bauzaun öffnet und fast 300 Besucher einlässt, wenn er in der Unterkirche Geschichten erzählt, einen Film zeigt, das Mittagsgebet spricht und darum bittet, beim Amen an die Bauleute zu denken, dann legt er den Menschen sein Leben zu Füßen. „Ich kann niemanden zu einem Christen machen. Ich kann davon erzählen, dass es sich lohnt, Christ zu sein“, sagt er. Wird die Zunge trocken, trinkt er aus der Thermosflasche. Kann er kaum noch stehen, geht er an seine Brotbüchse
Auch Gottfried Eimert durfte nicht studieren, weil er nicht in der FDJ war. Er konnte seinen Meister nicht machen. Aber immer tat sich eine Lücke für ihn auf, meint er. Gott hatte seine Hände im Spiel, als er nach der Wende lange die Arbeit behielt. Als es in zehn Jahren auf der gigantischsten Baustelle, die er je gesehen hatte, keinen schweren Unfall gab.
Je mehr die Frauenkirche Gestalt annahm, desto weniger Arbeit gab es für die Bauleute. Das große Gemeinschaftsprojekt hat ein Ende. Als die erste Mannschaft ging, hat sie sich zum Abschied eine Führung mit Gottfried Eimert gewünscht. In seiner Rede hat er den Männern gesagt, was für einen schönen Beruf sie haben. Er hat ihnen geraten, daran stets zu denken, auch wenn sie keine Arbeit mehr finden sollten. Er hat ihnen gesagt, dass sie beschützt werden wie die Frauenkirche.
Nach der Weihe wird sie wieder ein Gotteshaus sein. Das Baugeschehen wird nicht mehr im Mittelpunkt stehen, nicht die Spendenkonzerte und auch nicht die Geschenke und Zuwendungen aus aller Welt. Die Versöhnungsbotschaft werde abgelöst durch neue Inhalte, sagt man in der Stiftung. Man muss das wohl so sagen, denn man braucht Ideen. Ein Kantor wurde engagiert. Und Pfarrer Fritz hat sich eine Gemeinde ausgeguckt. „Wer sich gerade in der Kirche aufhält, ist die Gemeinde“, sagt er. Die Leute werden kommen und gehen. Es wird kurze Begegnungen geben zwischen Menschen, die nie etwas miteinander zu schaffen hätten.
Manchmal trifft Gottfried Eimert einen der Bauarbeiter, die er einst verabschiedet hat, in der Stadt. Die meisten sind arbeitslos geworden. Vor einiger Zeit hat Eimert erfahren, dass er eine schwere Krankheit hat. Das erzählt er auch. Nicht weil er klagen will, es gibt keinen Grund. Es gibt nur Grund zu hoffen. Solange die Krankheit ihn lässt, will er die Menschen durch die Frauenkirche führen.
Nadja Klinger