Der Tagesspiegel, Juli 2009
Sie war arbeitslos, eine von fünf Millionen. Elke Reinke kandidierte für die Linke - und schaffte es als erste Hartz-IV-Empfängerin in den Bundestag. Die Leute fanden sie toll, die Partei eher peinlich: Noch einmal soll sie nicht ins Parlament. Ein Lehrstück über kleine und große Politik.
Donnerstag ist Markttag. Aschersleben streift um Auslagen und Buden und kauft. Am Hennebrunnen beim Rathaus kommen die Menschen an Infoständen der Parteien vorbei. Hier ist alles kostenlos. Und doch findet ein Geschäft statt. Es ist Wahlkampf. Es wird Politik verkauft.
Den Stand aus weißem Plastik, an dem Elke Reinke die Politik der Linken veräußert, haben ihre Genossinnen am Morgen aufgestellt. Er wackelt. Wenn sie ihn loslässt, um auf Menschen zuzugehen, droht er umzufallen. Sie fummelt, dann zerlegt sie den Stand in seine Einzelteile, setzt ihn neu zusammen. Sie ist Ingenieurin. Ein praxisbezogener Mensch. Sie sucht Wege, die zum Ziel führen. Auf einem dieser Wege ist sie in eine Geschichte geraten.
Die Geschichte fing schön an. Im September nach der vergangenen Bundestagswahl saß Elke Reinke in der Ascherslebener Stephani-Kirche und ging ihrem Ein-Euro-Job nach: Besucher begrüßen und beaufsichtigen. Da klingelte ihr Handy. Jemand jubelte, sprach von Prozenten. Die Wahlzettel waren ausgewertet. Es stand fest: Fortan würde Elke Reinke nicht mehr das Aschenputtel am Rand der Gesellschaft, sondern Politikerin im Berliner Reichstag sein.
Sie war Technologin in der Industrie gewesen, hatte zwei Kinder großgezogen, war vom Amt umgeschult, beschäftigt worden, hatte sich mit Arbeitslosengeld II durchgeschlagen, nicht resigniert, sondern protestiert, Montagsdemos organisiert. So war sie auf der Kandidatenliste der WASG, dann auf der Landesliste der Linken in Sachsen-Anhalt gelandet. Nach 13 Jahren Arbeitslosigkeit ging sie ins Jobcenter, um sich zu verabschieden. Man gab ihr ein Formular, das nach dem neuen Arbeitgeber fragte. Sie schrieb: „Das deutsche Volk.“
In dem Moment, da sie das schrieb, hatten fünf Millionen Deutsche keine Arbeit. Und zum ersten Mal kam eine Langzeitarbeitslose in den Bundestag. Die Linksfraktion prahlte mit der „lebendigen Hartz-IV-Person“ in ihren Reihen. Elke Reinke war ein Maskottchen.
Zwar machte sie als Maskottchen keine markigen Sprüche, raste sie in Interviews durch Sätze, stockte urplötzlich, stolperte über sperrige Worte, verhedderte sich in Gedanken, es war putzig oder peinlich, je nachdem; trotzdem stellten die Genossen sie ans Rednerpult, um auf die Regierungserklärung der Kanzlerin zu antworten.
Heute, vier Jahre später, tröstet Reinke sich damit, dass ehemaligen Abgeordneten erst einmal Übergangsgeld zusteht. „Aber dann“, sagt sie, „werde ich mich wohl mit meinen Mitarbeitern bei der Arbeitsagentur melden müssen.“ Die schöne Geschichte, das hat sich herausgestellt, ist nur ein Märchen.
Immer wieder erzählt Reinke, dass Vizekanzler Müntefering, als sie damals vorm Parlament sprach, nur einmal kurz von der Zeitung aufsah. Sie ist 51 Jahre alt. Sie hat in den letzten Jahren gelernt, ihre Aussagen mit wirkungsvollen Episoden zu spicken. Doch ausgerechnet die Müntefering-Episode verrät, dass es Dinge gibt, die sie partout nicht begreifen will: dass Politiker im Plenarsaal Zeitung lesen, dass in vielen Debatten nur Fachpolitiker ausharren, andere Abgeordnete sich mit Journalisten treffen oder im Restaurant speisen. Dass man in den Fraktionen zusammenrückt, damit es nicht so leer aussieht im Parlament. Und: dass Anträge der Opposition, und seien sie noch so vernünftig, grundsätzlich abgelehnt werden.
In Berlin geht die Abgeordnete Reinke gewissenhaft ihren Pflichten nach. Sie bereitet Ausschuss- und Fraktionssitzungen vor, nimmt Termine wahr. Ihre Anwesenheitsquote im Plenarsaal ist ungewöhnlich hoch. Aber erst in Aschersleben geht sie in ihrer Arbeit richtig auf. Ihr Büro ist Beratungsstelle, Bewegungszentrum. Reinke hört zu, ruft im Amt an, um die Probleme der Leute zu klären, macht Notizen für Berlin. Stellt Papier, Stifte, Kopierer zur Verfügung, spendiert Bahnfahrkarten zu Demonstrationen, gründet das Sozialforum Aschersleben e.V., finanziert es maßgeblich. Sie ist genau die Politikerin, die sie sich wünscht: ansprechbar, aufmerksam, selbstlos, verlässlich. „Jedes Mal, wenn ich zu Beginn der Sitzungswoche in der großen Halle des Berliner Hauptbahnhofs ankomme, lese ich: 400 Meter von hier regiert das Volk“, schreibt sie auf ihrer Homepage. „Jedes Mal sage ich halblaut: Schön wär's.“
Im November, kurz vorm Wahljahr 2009, wird sie zum Landesvorsitzenden der Linken Sachsen-Anhalts bestellt. Matthias Höhn, Mitglied des Parteivorstands und Landtagsabgeordneter, ein Mann in Anzug und Krawatte, der in Reden gekonnt Pausen für Beifall lässt, will sie nicht mehr im Bundestag haben. Er hat einen Grund. Die Linke ist zerstritten und zersplittert. Es geht um Leute und Ideen. WASG-Kämpfer kabbeln mit PDS-Reformern. Es geht um die richtige Richtung: Kapitalismus abschaffen oder sinnvoll verändern?
Matthias Höhn müsste jetzt sagen, dass er eine Abgeordnete braucht, deren Worte einschlagen. Eine Politikerin, deren Eifer vor allem der Partei dient, die Strippen zieht, anstatt mit Arbeitslosen vor der Arbeitsagentur zu zelten. Vielleicht bringt die Situation Matthias Höhn aus dem Konzept, Elke Reinke könnte seine Mutter sein. Jedenfalls sagt er genau das Falsche: Elke, du machst zu viel Betroffenenpolitik.
„Warnt mich, wenn ich mich verändere!“, hatte sie den Ascherslebenern zugerufen, als sie einst den Zug nach Berlin bestieg. Sie trägt jetzt eine flottere Brille, elegantere Kleider, das gleiche rote Haar wie andere Fraktionsfrauen. Doch sie verändert sich nicht, solange sich die Lage der Arbeitslosen nicht verändert.
„Linke sägt Hartz-IV-Expertin ab“, schreibt die Presse. In Regionalzeitungen melden sich Genossen anonym zu Wort: Reinke habe außer bei Hartz IV politisch nicht stattgefunden, der Bedarf nach ihr sei gestillt, blamieren könne man sich selber. In Reinkes Bundestagsbüro trudelt solidarische Post ein. Ende März wählen Sachsen-Anhalts Linke ihre Bundestagskandidaten. Eine Genossin bedankt sich bei der Partei für die Betroffenenpolitik. „Wir brauchen jemanden, der brennt!“, sagt eine andere: „Die Elke mit ihren vielen Schwächen!“ Es gibt eine Stichwahl um den letzten aussichtsreichen Listenplatz. Reinke verliert.
Man kann sagen, sie eignet sich nicht für große Politik. Man kann sagen, sie ist ein Opfer von Parteiquerelen. Man kann sagen, Mandate gibt's nicht auf Lebenszeit. All das stimmt. Aber ist, was stimmt, auch gut? Fragt man Bürger, warum sie nicht zur Wahl gehen, antworten sie: Weil wir nichts bewegen können. Die Demokratie lässt sich als Pyramide darstellen, aus deren Breite die Spitze ragt. Aber darf sie wie eine egozentrische Gipfelbesteigung organisiert sein?
Ende Mai, bald ist Sommerpause vor der Bundestagswahl, befindet sich Elke Reinke auf einem Podium im Reichstag. Sie ist in ihrem Element, die Linke veranstaltet eine Konferenz zum Kampf gegen Hartz IV. Betroffene wurden eingeladen. Es gab schon mal so ein Treffen, zu Beginn der Wahlperiode, da kamen mehr als 1000 Arbeitslose, man musste in den großen Sitzungssaal der CDU/CSU ausweichen. Die Leute stürmten die Mikrofone. Reinke sagte: „Ich könnte immer wieder heulen, wenn sie erzählen.“ Heute sind etwa 100 Besucher gekommen. Reinke sagt: „Wir wissen, Hartz IV muss weg. Aber man muss auch kleinere Brötchen backen.“
Zwei Stühle neben ihr sitzt Katja Kipping. Die 31-jährige Dresdnerin war mit 21 Stadträtin und Abgeordnete im Sächsischen Landtag, mit 25 stellvertretende Parteivorsitzende. Sie ist sozialpolitische Sprecherin der Fraktion. Wenn sie von Politik spricht, verwendet sie Worte, über die Elke Reinke stolpern würde: Prioritäten, Relevanzen, Äquivalenzketten. Kipping redet leise, langsam, gut. Sie vernetzt Kräfte, löst im rechten Moment Konfrontation aus. Sie trägt farbenfrohe Kleidung, ein Tuch im halblangen Haar. In ihrem Bundestagsbüro steht ein Sofa. Politik ist ihr Lebensdomizil. „Wer sich um das Thema Hartz IV richtig kümmert, hat viel zu tun“, sagt sie. „Das reicht.“
Kipping und Reinke haben eine Hartz-IV-Broschüre herausgegeben. Sie heißt: ?Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.“ Beide sitzen sie im Fraktionsarbeitskreis Gesundheit und Soziales. „Elke ist inhaltlich eine enge und verlässliche Verbündete“, sagt Kipping. Reinke arbeite ein bisschen wie ein Messgerät. „Ihre Perspektive auf Erwerbslose ist anders. Sie achtet darauf, wie man über sie spricht, und grenzt sich da auch innerhalb der Partei strikt ab.“ Außerhalb der Linken und des Parlaments hat Kipping das Messgerät Reinke auch ausschlagen sehen. Auf einem Empfang beim Sozialverband wurden sie mit Sekt und Martini begrüßt. Das Thema des Abends war Kinderarmut. „Ich nehme Wasser!“, rief Reinke. Sie beschwerte sich lautstark über das reichhaltige Büfett. „Vielleicht hat sie im Bundestag nie richtig gewusst, wo ihr Platz ist“, sagt Kipping. „Aber für mich war sie immer bei sich.“
Neben Kipping sitzt Diana Golze. Die 34-jährige Sozialpädagogin schloss sich schon als Schülerin der Brandenburger PDS an. Sie ist Kreistags- und Stadtverordnete. Parlamentarische Politik war ihr nicht fremd, als sie mit Reinke 2005 den Bundestag betrat, doch erst seit kurzem fühlt sie sich angekommen. Sie kann endlich umfassend auf Sachfragen antworten, gewandt in Themen einsteigen, auch wenn es nicht die eigenen sind. „Lange Zeit habe ich meiner Meinung nicht getraut“, sagt sie. „Ich dachte immer, die anderen wüssten es besser.“
Golze sitzt mit Reinke im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, sie teilen ein Büro. „Anders als für mich war für sie alles neu: die Partei, der Bundestagsapparat, die Themen“, sagt sie. Sie war dabei, als Kollegen in Ausschusssitzungen Kaffee holten, wenn Reinke zu sprechen begann, als man in der Regierungsfraktion über ihre Kunstlederjacke spottete. „Für manche ist Elkes Anwesenheit hier scheinbar unerträglich“, hat Diana Golze einmal gesagt. „Aber sie ist härter geworden.“
Als Reinke von ihrer ersten Parlamentsrede zum Platz zurückkehrte, stand Golze auf, umarmte sie. Reinke nahm Kommunikationstraining, sah sich ihre Auftritte auf Video an, übte. Sie hielt 19 Reden vor dem Bundestag. Wenn sie das Pult verließ, wurde in der CDU gern gelacht. „Äußerst schwach!“, tönte es aus der SPD-Fraktion. „Meine Reden sind kein rhetorisches Feuerwerk“, sagt Reinke im März vor der Stichwahl den Magdeburger Genossen. „Ich arbeite dran und gelobe Besserung.“
In der Mitte des Hartz-IV-Podiums im Reichstag sitzt Klaus Ernst. Der bayerische Gewerkschafter, stellvertretender Parteivorsitzender der Linken, ist etwa so alt wie Reinke und sozusagen ihr Mann: Er gründete die WASG. „Die PDS hat durch uns eine Chance bekommen“, sagt er. Im März hat er den Genossen in Sachsen-Anhalt geraten, Elke Reinke für den nächsten Bundestag gut aufzustellen. Klaus Ernst sitzt lässig auf hartem Sitzungsmobiliar, redet gewandt, zuweilen flapsig, lacht über Witze, die er selbst macht, über das Leben, die Politik. Den guten Politiker erkennt er daran, dass er die Ziele erreicht hat, mit denen er angetreten ist. Klaus Ernst wollte das Thema soziale Gerechtigkeit etablieren. „Gelungen!“, sagt er. Für ihn ist der Bundestag eine Spielwiese, auf der er Tore erzielt.
Aufs Volk hören und dessen Sprachrohr sein? So geht das Politikspiel nicht. Auch dazu hat Klaus Ernst Witziges parat: „Der Wähler steckt seine Stimme in eine Urne. Sie wird beerdigt.“ Zuweilen legt Elke Reinke sich mit ihm an, weil er auch über Themen flapsig redet, die sie nicht zum Lachen findet. „Sie streitet nicht so witzig wie er“, sagt Katja Kipping, „aber sie ist sehr überzeugend.“
André Lüderitz findet sie auch überzeugend. Deswegen sitzt der 50-jährige Ingenieurökonom und Kreisvorsitzende mit grau meliertem Dreitagebart im Büro der Linken in Wernigerode, schaufelt Milchpulver in einen Kaffeepott und hält in der Bürgersprechstunde für sie die Stellung. Wernigerode liegt im Harz, und so heißt auch der Bundestagswahlkreis, zu dem Aschersleben gehört. Menschen, die hier nicht leben, schreiben oft „Hartz“ statt Harz. Irgendwie passt es, dass Elke Reinke hier Direktkandidatin ist.
Es ist ihre letzte Chance, über die Erststimme auf direktem Wege wieder nach Berlin gewählt zu werden. Die Harzer könnten sie einschleusen. „Was im Bundestag als Schwäche gilt, macht sie hier stark“, sagt Lüderitz: „Sie spricht normale Sätze, sagt normale Sachen, geht auf die Probleme zu. Die Leute merken schon an ihren Gesten, dass sie sie versteht.“ Dass die Parteiführung Reinke im Moment nicht gut brauchen kann, interessiert hier niemanden. In der Kommune stehen Bürger- über Parteiinteressen. „Bei uns zählt es als Vorteil, dass sie sich mit Parteipolitik schwertut“, sagt André Lüderitz. Er würde sich gerne für sie ins Zeug legen. Dazu müsste sie aber hier sein.
Besser gesagt: Sie müsste hier und dort sein. Sich bemerkbar machen, weiterziehen. Lüderitz würde sie keine Grundsatzrede halten lassen, sondern in kleine Räume stellen, an Infostände, um zuzuhören. „Das kann sie nämlich immer noch“, sagt er. Doch wenn Sitzungswoche ist, sagt sie jeden Lokaltermin ab. Schon wieder wählen?, maulen die Leute in Wernigerode, wenn Lüderitz alleine hier steht. Wie viele Stimmen hab' ich, hat das denn Zweck? Wenn Elke Reinke auftaucht, kommt neuerdings immer dieselbe Frage: „Wenn du noch einmal in den Bundestag kämst, würdest du weiter Betroffenenpolitik machen und dich für uns einsetzen?“ Sie antwortet: „Das ist mir Herzenssache.“ Und fügt hinzu: „Ich verstehe die Frage gar nicht.“
Nadja Klinger