Der Tagesspiegel, November 2009
„An diesem Tag gingen alle Menschen in dieselbe Richtung“, sagt eine, die dabei war. „Gegen den Druck.“ Die Großdemonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz war die Generalprobe zur Wende - auch für die Mitarbeiter des Deutschen Theaters: Statt zu spielen, machten sie plötzlich ihre Vorstellungen wahr.
Hans Rübesame arbeitet überm letzten Treppenabsatz, unterm Dach. Das passt. Er ist ganz oben. Wo der Kopf sitzt. Wo die Erinnerung im Standby-Modus verharrt.
Wenn man ihn in Betrieb setzt, eine Frage stellt oder einen Auftrag erteilt, verschwindet er im Halbdunkel zwischen Regalen voller Schätze. Zwischen 150 Jahre alten Textbüchern, Bühnenmanuskripten, Rollen-, Souffleur- und Inspizierbüchern, Proben- und Vorstellungsprotokollen, Programmheften, Plakaten, Bildern. Rübesame ist Archivar des Deutschen Theaters in Berlin. Er ist dunkel gekleidet wie vor Jahrzehnten, als er Bibliotheks- und Musikwissenschaftler wurde. In seinem krausen Kopfhaar ringen graue Härchen um Aufmerksamkeit. Er trägt einen Vollbart. Er ist irgendwie zeitlos.
Den Auftrag, den er jetzt erledigt, hat er sich gewünscht. Er muss nicht tief ins Halbdunkel, um die Pappmappen zu holen, in denen der Herbst 1989 steckt und alles, was dazugehört. Der 4. November, jener Samstag, als das DT nicht an der Reinhardtstraße Theater spielte, sondern auf dem Alexanderplatz seine Vorstellungen wahr machte. Weil das genau 20 Jahre her ist, soll Rübesame einen Schaukasten zusammenstellen.
„Das ist nicht Vergangenheit“, sagt er. „Wir leben doch noch mittendrin.“
Einst hing im Deutschen Theater eine Wandzeitung, dort ging's geregelt zu, wie bei allen Wandzeitungen der DDR. Es gab Platz für Betriebliches, die Gewerkschaft, die Partei. Für niemanden sonst. Im Juni 1989 nagelte der Schauspieler Thomas Neumann, einer der drei Vertrauensleute des Ensembles, ein Brett an die Wand im Flur. Jedermann im Haus sollte sich äußern können. Das Brett war eine mutige Offerte, zugleich eine Kapitulation.
Denn draußen vorm Theater, wo das Publikum wohnte, war das Leben längst in Unordnung. Auf einer Demonstration waren Bürgerrechtler verhaftet worden. Berliner Schüler, die an der Wandzeitung ihre Meinung hinterlassen hatten, waren von der Schule geflogen. In einer Kirche hatte die Polizei zugeschaut, als Rechtsradikale die Gäste eines Punk-Konzerts verprügelten. Eine Zeitschrift, sowjetische Filme waren verboten worden. Man hatte das Volk bei den Kommunalwahlen betrogen. Es formierte sich Widerstand, vor der Leipziger Nikolaikirche bahnten sich Montagsdemonstrationen an. Thomas Neumann sagt: „Die Realität rückte uns auf den Leib.“
Fortan hinterließen seine Kollegen an der Wandzeitung Meinungen, Aufrufe, fieberhaft auf Zettel geworfen. Pamphlete, aus klapprigen Schreibmaschinen herausgeprügelt, Zeitungsartikel, Briefe. Du hast keine Ahnung, was im Land los ist, hatte der Bruder, der bei den Wasserwerken arbeitete, stets zu Neumann gesagt. Jetzt merkte der Schauspieler das selber. Die Vorstellungen am DT waren ausverkauft, man fuhr auf Tourneen in den Westen. Doch es gab auch Leute am Haus, die normal lebten. Die jetzt so wütend und verzweifelt waren wie die Mimen in Sternstunden auf der Bühne. „Es ist ja auch ein Privileg, mit Texten und Interpretationen zu arbeiten“, erkannte die Schauspielerin Simone von Zglinicki. Ihre Kollegin Johanna Schall machte sich an der Wandzeitung mit Filzstiftbuchstaben unübersehbar. In dem Gefühl, zu lange geschwiegen zu haben, preschte sie mit Schwung und bunten Farben voran.
Alle zwei Wochen entfernte Thomas Neumann Papier, trug es zu Hans Rübesame unters Dach. Der verstaute es in Mappen. In der ersten alles von Juni bis Oktober. Für November, Dezember 1989 brauchte er zwei Mappen. Das ganze Jahr 1990 passte in eine einzige. Die Wandzeitung im DT offenbarte, wie Schwung und Farbe ins Leben kamen und wieder verschwanden. Sie verriet, dass Hoffnungen dicht bei Enttäuschungen wohnen.
Thomas Neumann wohnt im Seitenflügel eines Berliner Mietshauses in einer Zigarettenrauchwolke der Marke Caro. Im Jahr 2000 hat er das DT verlassen. Er spielt auf Theaterbühnen, im Kino, im Fernsehen, unterrichtet an Schauspielschulen, führt Regie. An der Reinhardtstraße, wo er fast 20 Jahre arbeitete, ist der heute 63-Jährige mit dem millimeterkurzen grauen Haar nie wieder gewesen. Er sagt: „Es tut noch weh.“
Zu Herbstbeginn, DDR-Bürger flohen in den Westen, war die Wandzeitung schon x-mal vergrößert worden und reichte trotzdem nicht mehr. Die Berliner Theaterschaffenden trafen sich in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Als Neumann ankam, standen dort Panzer. Es war der 7. Oktober, der 40. Jahrestag der DDR. Er zuckte zusammen, obwohl er wusste, dass das Kriegsgerät nur auf die Parade wartete. Er hatte Angst. Am Stehtisch in der DT-Kantine stand fortan ein allen unbekannter Mann. Saß Neumann im Café, starrten Männer vom Nebentisch rüber. Er benahm sich so konspirativ, wie er es aus Theaterrollen kannte. Bevor er das Haus verließ, rief er dort an, wo er ankommen wollte.
Als sich die Theater am 15. Oktober erneut im DT trafen, war Neumann Versammlungsleiter. Die zwei Beruhigungstabletten, die er für diesen Auftritt genommen hatte, wirkten. Der Zuschauerraum war gerammelt voll. Es gab eine Redeliste, immer neue Wortmeldungen. Eine Kollegin reichte ihm einen Zettel, er las ihn, machte mit den Rednern weiter, dirigierte Töne und Stimmungen, da kam die Kollegin erneut und nahm den Zettel wieder weg. Nach Stunden sagte Neumann: Schade, es gab einen Vorschlag, der wurde zurückgenommen. Der Saal lauschte unersättlich. Für eine Demonstration am 4. November, fügte er hinzu. Beifall toste, der Termin war gesetzt.
Ende Oktober meldete die Wandzeitung, die Polizei habe die Demo genehmigt. Und sie verbreitete Gerüchte. Es hieß, die Demonstranten würden am Palast der Republik nicht links abbiegen, sondern zum Brandenburger Tor laufen. Es hieß, das Krankenhaus Friedrichshain rufe die Ärzte auf, in Dienstkleidung zu erscheinen. Es hieß, die Deutsche Reichsbahn fahre Menschen kostenlos nach Berlin, damit sie stören. Archivar Rübesame trug sich in eine Liste ein, er wollte Ordner sein. Auf der gelben Schärpe, die er bekam, stand: Keine Gewalt! Das war nur eine Bitte. Aber er wollte etwas tun.
„Der Alex war still“, sagt Thomas Neumann, „richtig unheimlich“. Am Morgen des 4. November formierte das DT vorm Berliner Verlag in der Karl-Liebknecht-Straße die erste Reihe. Man flüsterte, dass die Armee kommt, dann rollte Donner heran. Wieder zuckte Neumann, doch es war nur die S-Bahn. Er sah die Journalisten, die am Straßenrand auf Leitern standen, er rief: „Los!“ Doch keiner der Polizisten, die sein Kommando erwarteten, war in der Nähe. So machte er einfach den ersten Schritt. Still zogen sie vorwärts, das DT in enger Reihe, zusammen mit Theaterschaffenden aus dem ganzen Land. Vor ihnen stoppte die Polizei den Verkehr, räumte die Straße. Ein Weg tat sich auf, eine Möglichkeit.
Es gibt ein Schwarzweißfoto von diesem Tag, da steht Simone von Zglinicki auf dem Alexanderplatz, unweit des Lastwagens, an dem Hans Rübesame mit der Schärpe wachte und auf dessen Ladefläche ihre Kollegen Johanna Schall, Ulrich Mühe, Heiner Müller, Jan Josef Liefers, die Bürgerrechtler Jens Reich und Marianne Birthler, dazu Markus Wolf, Stephan Heym und Gregor Gysi in ein Mikrofon sprachen. Simone von Zglinicki ist 35 Jahre alt, eine kleine, bewegliche Frau im hellen Trenchcoat, mit Baskenmütze auf dem Hinterkopf. Sie sieht aus wie eine Kämpferin, doch sie hat die Arme vor der Brust verschränkt. Und ihr Gesicht erzählt, dass sie mit sich selbst kämpft.
Eine halbe Million Menschen waren gekommen. Sie hielten Transparente, applaudierten, riefen mit kräftiger Stimme. Als spräche endlich mal die ganze DDR. Simone von Zglinicki hörte aber auch: Das Volk würde stimmkräftig den Lauf der Dinge in die Hand nehmen. Sie bekommt glasige Augen, wenn sie sich heute auf dem Foto sieht. „An diesem Tag sind alle Menschen in dieselbe Richtung gegangen“, sagt sie. „Gegen den Druck.“ Sie schaut genauso wie einst in Schwarzweiß, als der Demonstrationszug diszipliniert am Palast abgebogen und auf dem Alex angekommen war. Als die Angst vorm Brandenburger Tor jedoch anhielt.
Am 9. November sagte eine Souffleuse zu Thomas Neumann: Die Mauer ist offen. Er antwortete: Ich muss Theater spielen. Am 10. hatte er einen Zahnarzttermin in der Charité. Der Arzt werkelte allein in seinem Mund, die Assistentinnen waren im Westen. Simone von Zglinicki probte im DT. Sie weiß nicht mehr, was sie taten, als sie erfuhren, dass die Mauer fiel. Ihr ist, als hätten sie Sekt getrunken. Sie weiß nur, dass im Radio „Let It Be“ lief.
An der Wandzeitung im DT wurde in den folgenden Wochen nicht mehr gestritten als zuvor, aber härter. Man redete weniger miteinander, wollte Meinungen behaupten. Es ging um Pressefreiheit, Theaterkonzepte, um Wiedervereinigung oder Ausverkauf der DDR, es wurde geurteilt, verurteilt, zugetreten. „Wir haben am 4.11. für Meinungsfreiheit demonstriert, weil wir für Meinungsfreiheit sind, auch an diesem Brett!“, schrieb Neumann zehn Tage nach der Demo. Im Theaterfoyer lag der Aufruf „Für unser Land“ aus, der die Eigenständigkeit der DDR forderte. Was denken Sie sich eigentlich dabei, kritzelte ein Zuschauer anonym darüber. Pfui!, schrieb ein Urologe aus Suhl.
Schließlich wurde Neumanns Brett im Flur leerer. „Bis zur Währungsunion war es eine lebendige Wandzeitung“, sagt Hans Rübesame, „dann ging's auch am Theater um Videorekorder, Autos und Mallorca.“ Nach wie vor baten die Schauspieler am Ende der Vorstellungen ihr Publikum, zu bleiben. Den Notizzettel, den Thomas Neumann zu diesem Zweck im Kostüm trug, hat Rübesame auch archiviert. „Wir können reden, zwanglos und in einer zufällig entstandenen Gemeinschaft“, steht darauf. „Beglückend war das, aber auch sehr anstrengend“, erinnert sich Simone von Zglinicki. „Und dann plötzlich war der Saal leer, und wir haben da gesessen und überlegt, ob wir auch für drei, vier Leute spielen.“
Elf Jahre lang hat Thomas Neumann am DT „Offene Zweierbeziehung“ gespielt, die Tragikomödie um eine Ehe. In der Caro-Wolke in seiner Küche führt er vor, wie sich das Publikum in diesen elf Jahren veränderte. Er sitzt auf der vordersten Kante des Stuhls, gespannt lauschend wie ein DDR-Bürger. Dann rutscht er, wie das Publikum nach der Wiedervereinigung, weiter und weiter nach hinten. Dann sinkt er nach unten, bis er die Füße auf den Küchentresen, also auf die Lehne des Vordersitzes legt.
Er und die anderen Vertrauensleute der Theater sind nach dem Mauerfall weiter aktiv geblieben. Sie wollten eine „Gewerkschaft Mensch“ gründen. Neumann fuhr mit einem Berater von der IG Medien durch die DDR. Die Ostdeutschen hingen nur dem Westmann an den Lippen. In Dresden sagte eine junge Frau zu Neumann: Ihr habt uns 40 Jahre belogen!
Dann haben die Vertrauensleute noch einen offenen Brief an Helmut Kohl geschrieben. Sie baten den Kanzler, die DDR-Bürger ihre Sache allein machen zu lassen. Neumann bekam dafür Ärger am DT. Wenn ihr mir euer Vertrauen gebt, müsst ihr mich auch machen lassen, sagte er. 1993 hat er gegen die Schließung des Schillertheaters protestiert. Er stand vorm Roten Rathaus zusammen mit Theaterleuten aus West-Berlin. Auf deren Transparent stand: Warum schließt ihr uns und nicht die Staatstheater im Osten?
Das Papier für den Gedenk-Schaukasten zum 4. November hat Hans Rübesame schnell zusammen. Es ist ja kein Riesenkasten, den er füllen darf, die Maße mussten stimmen, damit er mit dem Mobiliar harmoniert. Es ist ein Informationskasten geworden, ohne Wut und Hektik, ohne Durcheinander, ohne Seele. Er ist abschließbar, damit keiner ran kann. Möglicherweise bekommt Simone von Zglinicki vor der Glasscheibe wieder glasige Augen. Sie ist eine von wenigen Schauspielern, die 1989 am Haus waren und immer noch da sind. Sie sagt: „Es ist schön, wenn man das Privileg hat zu bleiben.“
Hans Rübesame hatte noch einen zweiten 4. November. Im Januar 1990 besetzte er zusammen mit Bürgerrechtlern die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße. Rübesame bewachte eine Treppe, wieder mit der gelben Schärpe: Keine Gewalt! Von der Schärpe besitzt er nur noch ein kleines Stück. Er hat sie zerschnitten. „Ich weiß, es war ein Fehler“, sagt er. Die Dinge sind nicht, wie sie sind, man kann sie ändern. Vergangenheit vergeht nicht. „Aber auch ich dachte irgendwann: So, das ist jetzt vorbei.“
Nadja Klinger
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