Der Tagesspiegel, April 2010
Interviews, Talkshows - und manchmal Rockmusik: Ulrich Schneiders Zuhause ist die Bühne. Der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ist Lobbyist in Sachen Armut. Sein Geheimnis: Man muss sich davon berühren lassen.
Es ist kurz nach neun, die Band legt los. Schlagzeug, Keyboard und Gitarre nehmen den Sound auf. Lautstärke fällt übers „Rickenbacker's“ her. Auf den Tischen der Musikkneipe an der Bundesallee steht frisch gezapftes Bier. Es ist Ende März. Publikumsknie wippen, Köpfe nicken im Takt. Die großen Jungs auf der Bühne nennen sich „Late Departure“. Sie haben schon was vom Leben mitbekommen. Bauch, graues Haar oder Glatze. Sie versprechen „Blues Rock von AC/DC bis ZZ Top und Eigenes“. Ihr Frontmann lehnt noch am Tresen. Seine Jeans sind ausgewaschen, das karierte Hemd trägt er offen überm schwarzen T-Shirt, am Hals schimmert die Kette. Er lutscht ein Salbeibonbon für die Stimme und gegen die Aufregung. Heute war er nicht arbeiten, hat frei genommen, um zu üben. Jeder Auftritt muss gut sein.
Vier Takte, vier große Schritte, dann ist er da: Uli Schneider, voc, git, harp. Ein Griff zum Mikrofonständer, in der Hand die Mundharmonika, er fängt an zu singen, und der Körper wird zum Rocker, windet sich wie unter Schmerzen. Als ziehe die rote Gitarre nach unten, knickt der Rumpf klappmesserartig ein. „Come together right now over me!“, singt der Frontmann, das Licht wechselt die Farben, die Leute tanzen. „Heart of Gold!“ Die Frau, die im Tänzerpulk die Arme schwenkt, ist seine Pressesprecherin.
Kürzlich hat er in einer Woche 120 Interviews gegeben. Zeitungen, Radio, Fernsehen. Er hat gesagt, was er schon seit Jahren sagt, in Worten, die jeder versteht, und in einem Ton, der gute Musik macht. Eigentlich ist Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, unser Mann für Deutschland. In dieser Woche hat er auch noch in fünf Talkshows gesessen. Seit Jahren steht er auf der Bühne vor der Öffentlichkeit. Spricht als Sachverständiger vor Bundestagsausschüssen, in Parteien, Fraktionen, mit Politikern unter vier Augen. Er ist ein hochgewachsener Mann mit rundem Kopf und Knubbelnase. Seine Halbglatze wird von kurz geschorenem Hellgrau gekränzt und auf den Wangen hängen lange Koteletten.
Die Märzwoche mit den vielen Medienauftritten begann mit einer Nachricht aus der SPD. Die Partei behauptete, Fehler erkannt und überlegt zu haben, wie es auf dem Arbeitsmarkt künftig fairer zugehen soll. Sie schlug vor, länger Arbeitslosengeld I auszuzahlen, Arbeitslosengeld-II-Empfängern nicht mehr die Ersparnisse zu rauben, Langzeitarbeitslosen mehr öffentlich geförderte Beschäftigung anzubieten. Sie sang das Lied von Ulrich Schneider. Dessen Telefon klingelte fortan. In Interviews hätte er sich darüber auslassen können, dass die SPD ja nicht aus heiterem Himmel die Agenda 2010 zerhaut: dass sie zerrissen ist, Fans verloren hat und bald in Nordrhein-Westfalen gewählt werden will. Aber er haut nicht mit Worten auf andere ein. Außerdem wuchs er in Oberhausen auf, einer Arbeiterstadt, in der die Zechen starben und „die sozialen Probleme einen anbrüllten“. Seinen Studienort Münster erschloss er sich als Sozialarbeiter. Für ihn war der Himmel nie heiter.
Er wurde 1958 geboren. Der Vater war Bierfahrer, trug eine lange Lederjacke und fuhr einen großen Lastwagen. Manchmal nahm er den Sohn nach der Schule mit. Während er vor den Gasthöfen mit Fässern und Kisten rackerte, trank der Junge drinnen Limonade. Ulrich Schneider war Messdiener und Pfadfinder. In der Pfarrgemeinde erklärte man ihm: Es geht nicht allen Menschen gut. Die Ausflüge der Pfadfinder führten zu alten Menschen, denen sie Kaffee machten und etwas Gemeinsamkeit schenkten. Wer lange dabei war, bekam einen Pfadfindernamen, entliehen aus dem „Dschungelbuch“. Jeder wollte Mogli sein, das tapfere Menschenkind in einer Welt, in der das Leben schwer und bedroht ist. Doch alle wurden Tiere. Wesen mit Dschungelbegabung, ohne deren Hilfe selbst der Tapferste nicht überlebt hätte. Noch heute ist Schneider unzufrieden damit, was man einst aus ihm machte. Er war einer der vier ulkigen Geier.
Traurig und allein hockt Mogli im Dschungel, als die Geier ihn entdecken. Sie spüren seine Nöte. Sie sind musikalisch. „Bist du allein? Wer kommt sofort? Wer macht dir Mut? Wer hält sein Wort?“, singen sie. „Und gehst du traurig durch das Land, wer reicht dir die Hand?“ Sie finden die richtigen Worte. Mogli steht auf, singt mit, und es wird getanzt wie im „Rickenbacker's“. Als der Tiger aus dem Dickicht springt und angreift, helfen die Geier, den Jungen zu retten. „Und scheint vorbei das Seelenheil, wer eilt schnell herbei wie ein Pfeil? Ehrenwort, in Erster Hilfe halten wir sogar den Weltrekord!“ Kann der Mensch lernen, auf das Wohlsein anderer zu achten und sich verantwortlich zu fühlen? Geier Schneider meint: „Er muss früh damit anfangen.“
Seinen Zivildienst absolvierte er bei stark verhaltensauffälligen Jugendlichen. Er studierte Erziehungswissenschaften, saß anbei am Sorgentelefon des Kinderschutzbundes, arbeitete mit Jugendlichen und Obdachlosen. An Wochenenden verdiente er mit der Gitarre zum Bafög dazu. Er war nicht einer der vielen Reinhard Meys. Er war der unvergessliche Neil Young. Kümmerte sich um Zigeuner, die von Sozialhilfe lebten, um arme Landfahrer, die ihn zum Dank kostenlos Autoscooter fahren ließen.
1988 wurde er sozialpolitischer Sprecher des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Frankfurt. Dort arbeiteten die Kollegen an einer Broschüre über die Bundesrepublik. Sie notierten alles, was sie aus täglicher Arbeit über bedrohliche Lebenssituationen in Deutschland wussten. Es war nicht das erste Mal, dass so etwas aufgeschrieben wurde. Doch in Frankfurt beschlossen sie, dem Problem den Namen zu geben, den es verdiente. „Wir waren so hochmütig, unseren Report Armutsbericht zu nennen“, sagt Schneider.
Im November 1989 fuhren sie mit der Broschüre nach Bonn in die Bundespressekonferenz. Sie trug auch eine hochmütige Überschrift: „Wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land.“ Der Saal war proppevoll. Zum ersten Mal gehörte Armut in Deutschland zu den wichtigen Fernsehnachrichten. Es war ein historischer Tag, dieser 9. November. Am Abend fiel die Mauer. Die Industrie bekam ein neues Absatzgebiet. Auch der Wirkungsradius der Sozialbranche, die vor allem dort vonnöten ist, wo das Zusammenleben der Menschen nicht funktioniert, sollte sich bald erweitern.
Für Ulrich Schneider stellte sich in Bonn die Frage, die ihn bis heute beschäftigt: Welchen Charakter muss ein Problem haben, damit es vom sozialen zum politischen wird? Er hat zwei Antworten. Die erste: Es müssen viele betroffen sein. Denn Betroffene sind Wähler. Die zweite: Das Problem braucht Transformationsbeschleuniger. Einst kamen viele Menschen zu Demonstrationen zusammen, und das machte Politikern Angst. Schneider sagt: „Sechs Talkshows ersetzen heute jede Demo.“
Mit einem riesigen Funktelefon, einem Stapel Visitenkarten, einem Zivildienstleistenden reiste er für den Wohlfahrtsverband durch Ostdeutschland, brachte den Zivi dazu, in seiner Band mitzuspielen und installierte fünf neue Landesverbände. Seit 1999 führt er die Geschäfte des Paritätischen Gesamtverbandes. Regiert 10 000 Organisationen, Einrichtungen und Gruppierungen im Sozial- und Gesundheitsbereich, in denen eine Million Ehrenamtliche, 545 000 Hauptamtliche, 13 500 Zivis und 5100 junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr arbeiten. Bis zu ihrem Tod konnte er seiner Mutter nicht zufriedenstellend erklären, wie er in einem Büro in der Oranienburger Straße in der schicken Mitte von Berlin, wo er seit 2003 sitzt, Sozialarbeit macht. Sie war stolz, wenn er im Fernsehen war.
Er ist ein Hauptgeschäftsführer, der mitunter kaum dazu kommt, Geschäfte zu führen. Denn er ist Problemtransformationsbeschleuniger. Auf der gesellschaftlichen Bühne hat er das Wort Armut so oft ausgesprochen, bis andere mitsangen.
Im April 2001 legte erstmals eine Bundesregierung einen Armuts- und Reichtumsbericht vor. Brav listete Rot-Grün die Zahlen auf, die Helmut Kohl verursacht hatte. Schneider war zufrieden. Dann las er: Armut gibt's nicht, es gibt Sozialhilfe. Und: Da Armut sich nicht definieren lässt, kann man sie nicht messen. Schneider war außer sich. Es gibt tatsächlich keine Definition, die sagt, wo Armut in der Wohlstandsgesellschaft anfängt und wo sie aufhört. In der EU kann man per Rechenverfahren ergründen, wie viele Menschen viel weniger Geld haben als andere im Land. Man hat sich allerdings schon 1985 darauf geeinigt, dass man die wesentliche Frage nicht rechnerisch beantworten kann: Wie viele Menschen sind von einer Lebensweise ausgeschlossen, die in unserem Land als Minimum hinnehmbar ist? Schneider sagt: „Armut kann immer nur das sein, worauf sich eine Gesellschaft verständigt, was Armut ist.“
Es drängte sich ihm also eine weitere Frage auf: Was bleibt von einem Problem übrig, wenn es vom sozialen zum politischen geworden ist? „Ich muss aufpassen, dass das Problem im politischen Geschäft nicht den Bezug zum Menschen verliert.“
Es kamen der zweite und dritte Armutsbericht von Rot-Grün. Schneider sagt: „Jubelpapiere“. Es kam die Arbeitsmarktreform. Es kam Hartz IV. Wenn öffentlich darüber geredet wurde, war Schneider dabei. Er rechnete vor, dass Arbeitslosengeld II für ein würdiges Leben in diesem Land nicht reicht. Dass Kinder zu wenig Geld bekommen. Er sagte, Menschen würden von der Gesellschaft abgehängt. Er strapazierte das Wort Gerechtigkeit.
Einst nach der Pressekonferenz in Bonn wurde eine Talkshow in der Kulisse eines Raubtierkäfigs abgehalten. Der Moderator ermutigte die Gäste, sich gegenseitig zu zerfleischen. Schneider brauchte keinen Dompteur, er war sowieso auf Angriff aus. Mittlerweile ist er kein junges Raubtier mehr, sondern ein alter Fuchs. Sympathie hält er für wirkungsvoller. Er lacht herzhaft und laut. Seine Kleidung ist wohlausgesucht. Er hat sich in Journalismusseminaren als Interviewpartner zur Verfügung gestellt. Seine Frau ist Fernsehjournalistin. Er war mit ihr im Schneideraum und lernte, solch umständlich formulierte Sätze, wie sie dort aus Beiträgen entfernt werden, gleich zu vermeiden. Sein Kampf gegen die Armut ist organisiert wie ein Feldzug. Schneider ist Stratege der öffentlichen Meinung. Am 9. Februar sagte er in einem Radiointerview: „Das ist ein historischer Tag für unseren Sozialstaat.“ Nicht die Politik hatte ein Problem gelöst, sondern das Bundesverfassungsgericht. Komischerweise trifft er seitdem immer wieder Politiker, die angeblich schon lange dafür waren, die Hartz-IV-Regelsätze neu zu berechnen.
„Sich von Armut berühren zu lassen, kann man lernen“, sagt er auf seinem Feldzug immer wieder. „Wer kein Problem dabei empfindet, wenn er sich im Supermarkt an der Fleischtheke bestes Schweinefilet einpacken lässt, während zehn Meter weiter eine alte Frau billigste Nudeln und zwei Eier in ihren Einkaufswagen legt, der wird auch kaum von Armut sprechen.“ Eigentlich will Schneider uns sagen, dass es einfach ist zu lernen. Aber in all dem, was er zu sagen hat, steckt auch die traurige Erkenntnis, dass nicht lernen muss, wer nicht will.
„Schalt mal den Fernseher ein, ich bin da gleich in so einer Liveshow“, sagt ein Junge ins Handy. Er ist mit der Schulklasse in Berlin, sie waren im Gefängnis, mit dem Schiff auf der Spree, jetzt stehen sie vor einem Studio am Brandenburger Tor. „Es geht um Rente, kein brennendes Thema, aber da duellieren sich zwei.“ Einer der Duellanten ist Wirtschaftsweiser, Politikberater, Rentenfachmann, heißt Bert Rürup und nennt den Gegenüber immer nur „Schneider“. Der trägt zum dunkelblauen Anzug die Krawatte mit den kleinen, weißen Punkten, die im Fernsehen nicht flimmert. Mittlerweile kommt es vor, dass er wie ein Maskottchen behandelt wird. Man duelliert sich nicht mit ihm, sondern mimt ein Duett. Man nickt, wenn er spricht, als wollte man dasselbe sagen. Weil es ihm zu viel um die Rentenformel geht, legt er das Wort Altersarmut auf den Tisch. Da Rürup weiter über Zahlen redet, legt er das Wort Langzeitarbeitslosigkeit dazu. „Recht hat er“, sagt Rürup, „da bin ich ganz bei Schneider.“
Ausgerechnet am „historischen Tag“ im Februar hätte Ulrich Schneider beinah eine Talkshow abgesagt. Es hieß, sein Sohn würde auf der Elternversammlung in der Schule mit seiner Rockband spielen. Dann aber war der Verstärker kaputt, und Schneider ist ins Studio gefahren. Seine Kinder sind zehn und 13. Ihr Vater ist ein Star. Sie singen seine Lieder. „Die Arbeitsmarktproblematik haben sie drauf“, sagt Schneider. „Und sie haben eine klare Haltung.“ Seine. Der Sohn will mal im Frisiersalon arbeiten, die Tochter Kassiererin sein. Sie werden wohl ein Problem haben, weil ihr Lohn zum Leben nicht reicht. Das hat der Vater ihnen auch gesagt. Sie haben ihm fest in die Augen gesehen, dem Problemtransformationsbeschleuniger.
Nadja Klinger