Der Tagesspiegel, Mai 2008
„Was weg ist, ist weg“, sagt der eine. Ein anderer will etwas gutmachen: Er hat reglos zugesehen, als vor 40 Jahren die Universitätskirche verschwand. Die Stadt begeht nun den Jahrestag - und streitet.
Am Leipziger Augustusplatz befindet sich die Bühne. Man kommt nicht gleich darauf, dass es eine Bühne ist. Kräne rackern, schweres Gerät plagt sich mit Eisen und Beton, Funken sprühen, es lärmt und stinkt metallisch, verbrannt. Nikolaus Krause steht hier in legerem Hemd und praktischer Hose. Niemand kann erkennen, dass er Pfarrer ist. Niemand weiß, dass er eigentlich auf diese Bühne gehört, auch wenn er die Stadt vor Jahren verließ. Krause horcht, was die Menschen reden, die hier ebenfalls stehen und schauen. Soll er sich einmischen? Der Wind weht Betonstaub in seinen weißen Bart. Was hat er zu erzählen? Diese Frage stellt Krause sich sonst nie. In seiner Tasche steckt die Rückfahrkarte nach Dresden. Er geht zum Bahnhof. Was weg ist, ist weg, sagt er sich.
Das Stück, das sie am Augustusplatz im Zentrum Leipzigs geben, handelt vom Zusammenleben der Menschen. Es ist kompliziert. Und etwas fehlt. Der Vorhang, der irgendwann fällt. Die Antwort auf die Frage, ob sich Geschichte, die verloren ging, einfach wiederherstellen lässt.
Der Tag, an dem Nikolaus Krause zurückkehrte, liegt erst ein paar Wochen zurück. Die Geschichte der Aufführung aber begann Mitte des 13. Jahrhunderts. Ein Dominikanerorden weihte seine Kirche St. Pauli, einen schlichten Bau im Stil der Bettelordenarchitektur. Unweit gründete sich 1409 die Leipziger Universität. Die bekam, als sich zur Reformationszeit der Dominikanerkonvent auflöste, die Klostergebäude. Aus St. Pauli wurde 1545 die evangelische Universitätskirche. Ein neuer Geist zog ein. Martin Luther reiste an, predigte. Ein Predigerkolleg gründete sich, akademische Gottesdienste wurden eingeführt. Wissenschaft und Kunst erweiterten das Gedankenuniversum. Im 18. Jahrhundert spielte Johann Sebastian Bach die Orgel. 1847 lag Felix Mendelssohn Bartholdy dort aufgebahrt. 1907 wurde der Komponist Max Reger Universitätsmusikdirektor.
Als die Royal Air Force im Dezember 1943 auf Leipzig zuflog, stand St. Pauli nach Umbauten mit neogotischer Fassade da. Die Stadt verdunkelte sich. Nach dem schweren Luftangriff lag Leipzig in Trümmern. Inmitten von Asche und Rauch stand, fast unversehrt, die Kirche.
Was der Krieg nicht schaffte, besorgte die DDR, und niemand weiß das besser als Nikolaus Krause. Krause ist einer, der in sich zu ruhen scheint, er eifert nicht. Er hat eine Haltung, das ist alles. Krause ist Seelsorger am Dresdner Universitätsklinikum, er hat dort ein Zentrum aufgebaut. Er besucht Kranke, spricht mit Ärzten, Schwestern, Angehörigen. Immer geht es um Leben und Tod, um Möglichkeiten und Grenzen der Medizin. 2004 hat Krause für seine Arbeit das Bundesverdienstkreuz bekommen. Was aus ihm geworden ist, hat auch in der Universitätskirche begonnen.
Als der Pfarrerssohn Nikolaus Krause in den 60er Jahren aus Meißen bei Dresden zum Theologiestudium nach Leipzig kam, war die Universität eine sozialistische. Wie der Platz, an dem sie stand, trug sie den Namen Karl Marx. Die Universitätskirchengemeinde war wieder aufgeblüht. Wie eh und je galt dort das freie Wort, egal, ob es um den Vietnamkrieg ging, den Sozialismus in der DDR, den Prager Frühling. In Gottesdiensten redeten Bischöfe, Pfarrer und Universitätsprediger von der Kanzel herab gegen die starre Denkungsart der SED an. Die Gottesdienste in St. Pauli waren überfüllt. Sie waren gesellschaftliche Ereignisse.
„Das Ding muss weg“, sagte der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht Anfang der 60er Jahre. In den Bauplänen für eine neue Leipziger Universität fehlte die Kirche. Die Uni protestierte, Denkmalpfleger, Künstler, Geistliche begehrten auf. Krause, damals 23, organisierte den Widerstand der Theologiestudenten. Eine Mischung aus Ungehorsam, jugendlichem Enthusiasmus und tiefem Glauben trieb ihn an. Er schrieb dem Chefarchitekten, sammelte Unterschriften, plante Sitzstreiks, scharte in der Mensa Kommilitonen um sich, um gemeinsam vor die Kirche zu ziehen. Am 23. Mai 1968 beschlossen die Leipziger Stadtverordneten die Sprengung von St. Pauli. Die Leipziger machten keine Probleme. Sie standen auf dem Augustusplatz, schauten, legten Blumen ab. Die Kirche wurde geräumt, der Paulusaltar, die barocke Kanzel wurden weggetragen, Grüfte geleert.
Am Vormittag des 30. Mai 1968 bezog Ulrich Stötzner Stellung am Augustusplatz. Er war Geophysiker, 31 Jahre alt, er arbeitete in einem Unternehmen, das Sprengungen überwachte. Stötzner war ein kleiner Mann mit großem Respekt vor Gewalten. Er hatte die Kamera dabei, mit der er sonst die Familie filmte. Heimlich richtete er sie vom Arbeitsplatz im Messwagen aus auf die Universitätskirche. Nach einem dumpfen Knall sackte sie, die den Dreißigjährigen Krieg, den Siebenjährigen Krieg und zwei Weltkriege überstanden hatte, zusammen. Auch Stötzner hatte nicht protestiert. Sein Mut reichte aus, das Ereignis festzuhalten.
Wenn er daheim auf der Leinwand die gewaltige Staubwolke sah, verspürte er einen heftigen Schmerz. Er fuhr in den Südosten der Stadt, wo die Kirchenreste lagen, überwand Absperrungen, stahl sich am Posten vorbei, schleppte Reste der Kirche weg, die er zu Hause lagerte.
Nikolaus Krause hatte noch seine Examenspredigt in der Universitätskirche gehalten. Als sie gesprengt war, verließ er frustriert die Stadt. Im September verhaftete und verurteilte man ihn wegen Staatsverleumdung zu 22 Monaten Gefängnis. In Leipzig baute man die neue Universität. An die Fassade montierte man ein 33 Tonnen schweres Bronzerelief mit dem Antlitz von Karl Marx. Genau dort, wo einst die Kirche gestanden hatte. Es war der neue Altar einer neuen Geschichte.
1989 ging sie zu Ende. Ein Studienfreund fragte Nikolaus Krause am Telefon, ob er sich für den Wiederaufbau starkmachen wollte. Krause überlegte. Er war Gemeindepfarrer bei Dresden, stellvertretender Landesjugendpfarrer. Er kümmerte sich um junge Menschen, stand ihnen bei, wenn sie wegen ihrer unabhängigen Geisteshaltung in Bedrängnis gerieten. Er hatte die Universitätskirche mit sich genommen. Sie lebte in ihm. Er lehnte ab und legte den Hörer auf.
Ulrich Stötzner kann das nicht, den Lauf der Dinge akzeptieren. Es gibt etwas gutzumachen. Im Erdgeschoss an einer schmalen Straße in Leipzigs Stadtmitte sitzt der Paulinerverein. Hier lagern Pressemeldungen und Post, Archivmaterial, Bilder, Modelle und Fotografien von der Universitätskirche. Das Büro hat riesige Schaufenster. Stötzner hat die Trümmer reingelegt, die er vor 40 Jahren vom Schuttberg in Probstheida holte. Er kann sie nun doch gebrauchen, er ist der Vorsitzende des Paulinervereins. Was ihm fehlt, ist ein gutes Ende.
Anfang der 90er Jahre ergaben Umfragen, dass die Leipziger die Universitätskirche wiederhaben wollen. Der Paulinerverein wurde gegründet. Viele Mitglieder haben die Sprengung erlebt. Sie sagen, das Unrecht müsse wiedergutgemacht werden. Sie haben Geld für die Kirche gesammelt, aber niemand will es. Sie sind rund 300 Leute. „Wir haben nichts zu sagen“, sagt Stötzner. „Wir sind nur das Volk.“ Aber das stimmt nicht ganz. Nicht mehr.
Das Volk will gar keine Kirche mehr, das haben alle jüngeren Umfragen ergeben. Vielleicht sind die Leipziger genervt von der sächsischen Staatsregierung, die mal für einen Wiederaufbau war, aber nicht gewillt ist, einen Ort von besonderer historischer Bedeutung auch besonders zu behandeln. Vielleicht kapitulieren sie vor den Politikern im Rathaus, die die Uni nicht verprellen wollen und es nicht wagen, der Stadt die Kirche zu verordnen. Vielleicht haben sie nachgedacht und sind darauf gekommen, dass sie gar nichts mit einer Kirche anzufangen wissen. So wie die Universität.
Nächstes Jahr wird sie 600 Jahre alt. Zum Geburtstag bekommt sie in der Innenstadt einen neuen Campus. Zwei Architekten bauen seit 2002 daran. Anstelle des Gotteshauses planten sie am Augustusplatz eine Aula, dagegen protestierten Paulinerverein, Kirchenleute, Musiker, Politiker. Die Theologische Fakultät murrte. Doch die Universität will selbst entscheiden. Der Rektor spricht von Lehrzwecken und Raumbedarf, von einer Lehranstalt des 21. Jahrhunderts. 30 000 Studenten stehen hinter ihm. Christin Melcher, deren Sprecherin, sagt: „Hier geht's ums Studieren.“ Die Philosophiestudentin sitzt als Studentenvertreterin in der Baukommission. Nach Berechnungen wird der Campusneubau sehr viel Energie schlucken, wenn er in Betrieb ist. Melcher will, dass die Uni das noch verhindert. Streitet darum, welche Glühlampen eingeschraubt werden. Sie fragt: „Warum erregt sich die Öffentlichkeit nicht wegen dieser Energieverschwendung?“ Sie ist dicht dran an den aktuellen Problemen und weit weg von der Kirche.
2004 einigen sich Universität, Stadt und Freistaat darauf, die Aula durch ein Aula-Kirchen-Gebäude ersetzen zu lassen, das Außenmaße und Silhouette der Universitätskirche hat und ihr im Innern sehr ähnelt. Es ist ein Kompromiss.
Doch für viele im Paulinerverein kommt kein Kompromiss infrage. Der kleine Haufen verzankt sich. Medizin-Nobelpreisträger Professor Günter Blobel, der zwei Jahre lang Vorsitzender war, dem Verein zu einem beachtlichen Image und 60 000 Euro verholfen hat, geht. Ulrich Stötzner folgt auf ihn. Er wird bald 70, will endlich ein gutes Ende für den Augustusplatz, er versucht zu schlichten. Da spricht ein paar Straßen weiter die Universität ein Machtwort. Sie lässt den Entwurf für den Innenraum noch mal verändern. Säulen verschwinden, weder der alte Altar noch die Kanzel sind vorgesehen. Eine Glaswand soll den Kirchenraum von der Aula trennen.
Mit 70 ist man nicht zu alt, sich noch für die Kirche zu regen, bei deren Vernichtung man reglos zusah. Also kämpft Stötzner. Er fordert, das gerettete Inventar an den Augustusplatz zu holen, den Altar aufzustellen, die Kanzel zu restaurieren. Die Glaswand soll weg!, sagt er. Und er zieht den Trumpf, der bei solchen Anlässen gern ausgespielt wird: Prominenz. Neben anderen unterschreiben die Pfarrer Friedrich Schorlemmer und Christian Führer, der Schriftsteller Erich Loest, der Trompeter Ludwig Güttler und Udo Reiter, der Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks, Stötzners Protestpapier.
Georg Christoph Biller setzt sich sogar mit Stötzner in die Pressekonferenz. Der große Mann mit dem lockigen Haar ist Thomaskantor, Leiter des berühmten Thomanerchors. Wann immer die Stadt sich auf ihre Tradition beruft, nennt sie seinen Namen in einem Atemzug mit Johann Sebastian Bach. 1968 war Biller 13 Jahre alt. Er sah die Universitätskirche fallen - in der Thomaskirche, wo er mit seinem Chor singt, steht deren Altar. Die Universität kann ihn nicht gebrauchen.
Seit Tagen ist das Telefon in Stötzners Büro kaputt. Es kommt keine Verbindung zwischen Paulinerverein und Außenwelt zustande. Ausgerechnet vorm 40. Jahrestag der Sprengung. Am Freitagmorgen werden in Leipzig alle Glocken läuten. In der Nikolaikirche wird es einen Gottesdienst geben. 2000 Einladungen haben sie verschickt, um elf werden sie am Bauzaun stehen, Reden halten, Musik machen. Stötzner wird mit den Augen auf der Baustelle sein. Seiner Stadt war nicht vergönnt, was den Dresdnern mit der Frauenkirche widerfuhr. Ist das ein Zeichen? Bedeutet es, dass die Universitätskirche nur noch als Andeutung zu Leipzig gehört? Grübelnd wird Stötzner die Stelle suchen, wo die Glaswand hin soll. Er sagt: „Sie kann vor der Geschichte nicht stehen bleiben.“ Es klingt, als fühle er sich mieser als 1968 im Messwagen.
Nikolaus Krause hat sich den Termin freigehalten. Aber er wird nicht predigen. Er will nicht Teil einer Erinnerungsveranstaltung sein. Zum Erinnern empfiehlt er den Schuttberg als Museum. „Man sollte dort erfahren, dass Leipzig vor 40 Jahren keine Heldenstadt war.“ Die Kirchensilhouette im Universitätsneubau gefällt ihm. „Zur Geschichte der Universität gehört auch, dass es die Kirche nicht mehr gibt“, sagt er.
Nadja Klinger