Der Tagesspiegel, März 2008
Drinnen kämpfen sie um ihren Arbeitsplatz, draußen rast die Zeit: Der Friedrichstadtpalast ist Europas größtes Revuetheater, doch das Genre stirbt. Ein neuer Manager soll jetzt eine Zukunft für das Haus finden.
Berndt. Es ist nur ein Vorname. Herr Schmidt heißt so. Er ist 43 Jahre alt und trägt Anzüge, die aussehen, als wären sie auf seinen Leib geschneidert. Er hat dunkle Haare, dunkle Augen, einen bronzenen Teint. Er sieht aus, wie andere aussehen, wenn sie aus der Maske kommen.
Schmidt ist in Karlsruhe aufgewachsen, hat in Augsburg studiert und in New York promoviert. Er ist Wirtschaftswissenschaftler. War im Musikgeschäft, beim Film, hat in Stuttgart zwei Musicalhäuser geleitet. Ende letzten Jahres ist er nach Berlin gekommen. Hier besitzt er eine Visitenkarte mit der Aufschrift „Europas größtes Revuetheater“. Allen 290 Mitarbeitern hat er das Du angeboten. Einige siezen ihn trotzdem. Sie halten Sicherheitsabstand zum neuen Geschäftsführer. In den letzten Jahren haben sie Chefs kommen und gehen sehen, sie haben viele Kollegen verloren, viel Publikum. Sie sagen: ?Wir sind gebrannte Kinder.“
Andere sagen gerne „der Berndt“. Es klingt, als wäre „der Berndt“ mehr als der Mann, der im Oktober um Bedenkzeit bat, um herauszufinden, ob er das Angebot des Aufsichtsrats annehmen und nach Berlin kommen sollte. Es klingt, als wäre er mehr als der Fremde, der rasch zur Erkenntnis kam, dass sein Risiko zu scheitern nicht groß ist. „Der Berndt“, das klingt wie ein Gebet.
Berndt Schmidt hat viel recherchiert, bevor er sich für Berlin entschieden hat. Alles, was er herausgefunden hat, gehört zu einer langen Geschichte. Sie beginnt in den 20er Jahren, als der Regisseur Max Reinhardt eine Markthalle am Schiffbauerdamm zum Großen Schauspielhaus umbauen ließ. Sie erzählt von Claire Waldoff, Marlene Dietrich und den Comedian Harmonists, von glamourösen Revuen in einer Stadt, die sich kräftig amüsierte, und von der berühmten Girlreihe - 32 Mädchen, 64 Beine - die tanzte, als die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche lag.
Die Geschichte erzählt davon, dass im Jahre 1984 an der Friedrichstraße in der Hauptstadt der DDR ein neuer Palast entstand: ein 32 Meter hohes Betonmonster mit 380 Metern Bauchumfang. Im Innern arbeiteten 800 Leute. Es gab Schneidereien, Malsaal, Ballettsaal, Werkstätten. Die Bühne war groß wie ein halbes Fußballfeld. Zur Bühne gehören die größte Laseranlage Europas, die größte Drehscheibe auf deutschen Bühnen, ein gläsernes Schwimmbecken, eine Zirkusarena, eine Eisfläche, 1800 Scheinwerfer, die 1,2 Millionen Farbtöne zustande bringen. Seit der Friedrichstadtpalast nicht mehr in der DDR steht, sondern unter das Gesetz von Angebot und Nachfrage fällt, ist diese gigantische Bühne eine Chance. Zugleich ein Problem.
Der Castingchef des Palastes reist durch die Welt und bringt Showstars und Artisten mit. Las Vegas, Londoner Westend, Pariser Lido, Zirkusfestival in Monte Carlo - in seinem Büro lagern 1070 Visitenkarten. Doch was auch immer er ankurbelt: Die Bühne verschluckt alles, was nicht prunkvoll in Szene gesetzt ist und wirklich großartig funktioniert. Mit jeder Revue begeben sich Dramaturgen, Regisseure, Sänger, Artisten, Orchester, Ballett, Schlosser, Schneider, Maler, Maskenbildner, Techniker in Gefahr: Es könnte sein, dass die Bühne nicht vibriert. „Ein stehendes Heer“, hat der Fotograf Jim Rakete die Palastmitarbeiter genannt.
Im Haus kämpfte das Heer an vielen Fronten: um Arbeitsplätze, ums Orchester, die Löhne fürs Ballett. Derweil raste draußen die Zeit. Nichts ist sicher. Außer: Europas größtes Revuetheater ist eins der letzten des Kontinents. Das Genre stirbt. An der Friedrichstraße steht ein Relikt.
Hunderte Entlassungen hat das Relikt verkraftet. Die Zahlen, die von der Auslastung des Zuschauerraums berichten, verkraftet es nicht. Nach 2004 ist sie von 90 bis auf 55 Prozent gefallen. Allein im ersten Halbjahr 2007 hat der Palast über zwei Millionen Euro Verlust gemacht. „Ein schwieriges Haus“, warnte man Berndt Schmidt in Stuttgart.
Am 15. Oktober 2007 kam er dann. Eben hatten die Mitarbeiter vom neuen Chef erfahren. Sie hatten ein Zeitungsfoto herumgereicht. Sie hatten das Interview dazu gelesen. Darin verkündete er, es würde Entlassungen geben. Als er dann kam, erkannte ihn der Pförtner sofort. Stumm winkte er ihn durch.
Im Parkett saßen alle 290 Leute. Schmidt betrat die Bühne. Er redete zu leise für den großen Saal, aber er redete nicht drumherum. Das Wort Entlassungen sprach er gleich noch einmal aus. Ein Scheinwerfer warf Licht über ihn und über den staubigen Boden. Er sprach von Madonna und Kylie Minogue. Davon, dass die Jugend Videoclips schaut. Dass die Revue eine zeitgemäße Kunstform sei. Er sprach wie der Klempner, der gekommen war, um zu reparieren. Er hörte gar nicht mehr auf zu reden. Über die Shows der vergangenen Jahre, die keine Nummernprogramme mehr waren, sondern versuchten, Musicals zu sein. „Kann es sein, dass man sich hier am Haus für die Revue schämt?“, fragte Berndt Schmidt. Die Welt, in welcher der Friedrichstadtpalast stand, schien plötzlich eine andere zu sein. Der Palast applaudierte. Schmidt war jetzt „der Berndt“. Jemand sagte: „Der Berndt stellt die richtigen Fragen.“
Für Jürgen Nass etwa waren die Momente, da seine Kollegen nach der Vorstellung von der Bühne gingen, oft ein Problem. Die Arbeit war getan, aber er war unzufrieden. Etwa 25 Stücke hat er am Palast gemacht. Er unterteilt sie so: Zwänge gab's immer, zehn waren reine Pflichterfüllung, nur eins fast seins. Nass ist klein, seine weißen Haare sind zum Igel gestutzt, im runden Gesicht hockt die runde Brille, unterm Pullover spannt der Bauch. „Nassi!“, rufen die Kollegen bei der Probe. Er hat 17 Jahre an der Staatsoper getanzt, Regie und Unterhaltung in Babelsberg studiert. Mitte der Achtziger kam er zum Friedrichstadtpalast, seit der Wende ist er Hausregisseur, Spielleiter. Der feste Job hatte seinen Preis. Nass bekam Anweisungen aus der Intendanz, führte aus, hielt für die Dresche der Kritiker seinen Kopf hin.
Einmal wurde sein ganzes Buch umgeschrieben. Zu verspielt, zu viel Revue. „Muss dit sein?“, hat er gefragt, als er die überarbeitete Fassung las, „dafür können die Leute doch in die Oper gehen.“
Für Revuen gibt es keine Vorlagen, man muss sie immer neu erfinden. Die Ereignisse im Auge behalten. Das Publikum. Vor fünf Jahren war es anders als heute. Jürgen Nass brauchte nicht weit aus dem Fenster zu schauen, um zu wissen, warum: die Lebenshaltungskosten stiegen, die Arbeitslosenquote, dann Hartz IV.
Jetzt kriegt Nass keine Aufträge mehr. Er soll sich was einfallen lassen. „Ich vertraue auf die Kompetenz der Kreativen im Haus“, sagt Berndt Schmidt. Nass arbeitet an einer opulenten Herbstrevue mit Eisshow und Flugartisten. Das Ballett wird steppen und wirbeln, die flimmernde Revuetreppe wird sich drehen, Licht und schrille Kostüme werden prächtige Bilder zaubern, die längste Girlreihe der Welt wird sich über die ganze Bühne spannen.
Nass sagt: „Konnte der Berndt nicht ein bisschen früher kommen?“
Früher, das ist für Anja Diefenbach nichts, woran zu denken wäre. Früher studierte sie an der Wimbledon School of Art Theaterdesign. Sie arbeitete in Mannheim in der Werbung. Seit 2004 ist sie im Palast Kostümdirektorin, Chefin von 33 Frauen, von der Schneidermeisterin bis zur Ankleiderin. Ihre langen Haare sind schwarz, auf ihrer Bluse rosa Totenköpfe. Es scheint, als wäre Anja Diefenbach für die Revue geboren worden. Als Kind hat sie nur mit Farben gemalt, die besser rochen als andere, einen helleren Klang hatten, süßer schmeckten. Niemals nahm sie Blau, blau waren der Himmel, die Jeans. Blau war der Alltag. „Mein Auftrag ist, das Publikum aus dem Alltag zu entführen“, sagt sie. Das Heute hält sie auf Trab.
Sie sammelt Verpackungen, Folien, Filz, Borten, Federn, Plastik. Sie nimmt die Fährten von Oberflächen, Licht und Mustern auf, schafft Stoffe aus der ganzen Welt ran. Wenn sie zu arbeiten beginnt, gibt es oft nur die Idee eines Stücks, ein paar Takte Musik. In zwölf Wochen entstehen 400 bis 500 maßgeschneiderte Kostüme. 1300 im Jahr. Zuweilen legt Anja Diefenbach an die Nähmaschinen Lektüre über Schneiderkunst. Die Kolleginnen sollen reinschauen, lernen. Sie hat die Bücher aus London mitgebracht. Keine ihrer Frauen spricht Englisch.
Bislang hat Anja Diefenbach nirgendwo länger als drei Jahre gearbeitet. Demnach wäre ihre Zeit am Palast eigentlich um. Noch immer spürt sie, dass sie als Fremdkörper in gewachsene Strukturen geraten ist. „Man hat es nicht leicht: als Frau, wenn man energisch ist. Als Westlerin.“ Platzt sie beim Hausregisseur rein und ruft: Erzähl mal, was du so machst!, dann ist ihr, als fühle der sich angegriffen. Der Friedrichstadtpalast ist eine Herausforderung. „Wenn er in Bewegung kommt, ist seine Energie gewaltig.“ Er fesselt sie. „Er wird immer offener.“ Er passt mehr und mehr zu ihr. Den neuen Chef duzt sie gern.
Guido Herrmann ist am dichtesten dran am neuen Chef. Sie teilen sich das Vorzimmer. Herrmann ist Verwaltungsdirektor, hütet das Geld. Er gehörte zur Doppelspitze, die im Oktober abgesetzt worden ist. Er war im Jahr 2000 aus der Senatskulturverwaltung ans Haus gekommen. Hat Flure streichen, die Fassade reinigen, den Zuschauerraum renovieren lassen. Er hat die jährlichen Ausgaben um zwei Millionen Euro gesenkt. Zugleich verringerten sich die Subventionen um drei Millionen. Erfolg und Niederlage waren für Herrmann immer dicht beieinander. Er ist groß, hager, trägt Hemd und Anzug. Beides blau. Er ist der Alltag schlechthin.
Auch in den Jahren 2002 bis 2004, als es dem Haus gut ging, hat er seine Kollegen kurz gehalten. Kein Showkonzept, keine Besetzungsidee passierte unbehelligt sein Büro. „Antrag auf Ablehnung“, witzelten Regisseure und Casting-Mann. Heute ist er der Held. Er hat sechs Millionen gespart, deckt Verluste aus Rücklagen und verschafft dem Haus, was es jetzt dringend braucht: Zeit. „Der Palast ist eine ewige Regatta“, sagt er. „Ob Sturm oder Flaute, man muss segeln.“
Neben seinem Schreibtisch hängt ein goldenes Plakat. Sabine Hettlich ist da zu sehen. Die hat vor 15 Jahren am Friedrichstadtpalast getanzt, dann stand sie auf den großen Revuebühnen der Welt. Nun ist sie für ein halbes Jahr vom Pariser Lido nach Berlin zurückgekehrt.
Manchmal verlässt Guido Herrmann sein Büro und geht über lange Flure zur Bühne, wo Hettlich und das Ensemble proben. Wenn sie Pause machen, stellt er sich selbst drauf. Das bewirkt etwas. „Ein magischer Ort“, sagt er. Seinem neuen Chef ergeht es ähnlich. Berndt Schmidt liebt den Moment vor der Vorstellung: wenn die Bühne hinterm geschlossenen Vorhang „zu summen“ beginnt.
Im Herbst stieß Berndt Schmidt in der Brandschutzzentrale auf einen Zettel. Drauf stand etwas in kyrillischen Buchstaben. Schmidt ist viel gereist, Kyrillisch war ihm nicht fremd. Er las laut. „Wenn du das lesen kannst, bist du kein dummer Wessi.“ Er hat zur Jahrespressekonferenz nicht ins Grandhotel, sondern ins eigene Haus geladen. Es gab Currywurst.
Und es gab Entlassungen. 20 Leuten hat Schmidt gekündigt. Vorerst. Angst macht sich breit. Es ist eine besonders gemeine Angst, weil sie nicht in Wut umschlagen kann. Denn Schmidt will nicht auf Kosten der Belegschaft profitieren. Er will, was alle wollen: überleben. Da er das Du angeboten hatte, fielen ihm die Entlassungsgespräche schwerer. Genau das hatte er gewollt. Wenn's schwer ist, passt man mehr auf. Er sagt: „Dieses Haus hat eine eigene Identität, eine eigene Seele.“ Ist dies nicht genau das, wovor man ihn gewarnt hat? „Jedenfalls lasse ich mich nicht bremsen.“
Nadja Klinger