Der Tagesspiegel, Dezember 2005
Eine Frau geht zum Jobcenter. Soll und will sich umschulen lassen. Und hat es fortan mit einer Behörde zu tun, die seit Hartz IV nicht mehr weiß, was sie tun soll.
Die folgende Geschichte spielt dort, wo Geschichten endlich einmal gut ausgehen sollten: in Deutschland, 2005. Sie ist voller tröstlicher Hoffnungen. Voll mit niederschmetternden Auskünften. Mit Papier, Gesetzestexten, Telefonaten, Wartezeit. Über ihr schwebt die unheilvolle Zahl von viereinhalb Millionen Erwerbslosen. Die Geschichte spielt in der Arbeitsmarktreform.
Drei Mal füllt Angelika Irling den Antrag aus. Zuerst Ende letzten Jahres, 2004. Denn ab Januar 2005 wird sie nicht mehr arbeitslos sein, sondern Arbeitslosengeld-II-Empfängerin. Im Jobcenter Berlin-Mitte werden Leinen gespannt. Eine Menschenreihe schlängelt sich wie bei der Einreise in die Vereinigten Staaten von Amerika durchs Foyer. Ordner streifen herum wie Terrorismusfahnder. „Wenn ich in der Schlange stehe, denke ich an Karl-Eduard von Schnitzler“, sagt Angelika Irling. Der Scharfmacher des DDR-Fernsehens hatte im „Schwarzen Kanal“ den Zuschauern einst den bösen Westen gezeigt. „Ich fühle mich, als stünde ich in einem seiner Fernsehbilder.“
Das zweite Mal bearbeitet sie die 18 Antragsseiten, als sie wegen Hartz IV aus der Zweiraumwohnung in Prenzlauer Berg in ein Zimmer nach Mitte zieht. Es ist Frühling. Normalerweise können Akten per Post in andere Stadtteile geschickt werden. Wenn Reform ist, ist nichts normal.
Nach dreieinhalb Monaten Arbeitslosengeld II, im April, hat Angelika Irling einen ersten Termin beim Arbeitsvermittler. Herr Pinsler hat Beschäftigungsmaßnahmen im Schubfach. Irling, die jahrelang Sekretärin war, will in den sozialen Bereich wechseln. Sie hat sich beworben, kann weder Ausbildung noch Berufserfahrung vorweisen. Obwohl er sie zum ersten Mal sieht, nichts über sie weiß, zieht Herr Pinsler eine RBM-Stelle, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen heißen nun so, aus dem Schubfach. Er sei optimistisch, sagt er, dass Irling von dort an eine Ausbildung käme. Ab Juni dann arbeitet sie in einer Seniorenfreizeitstätte in Kreuzberg.
Schon nach zwei Wochen rät ihr der Bildungsträger, der sie dort beschäftigt, die Sache mit der Ausbildung anzugehen. Er finde, dass sie sich sehr für die Altenpflege eignet. „Suchen Sie sich eine Schule, dann gebe ich Ihnen den Bildungsgutschein“, sagt Herr Pinsler im Jobcenter.
So ein Bildungsgutschein ist ein seltsames Papier. Man muss damit losgehen und jemanden finden, der einen ausbildet. Ist die Suche erfolgreich, hat man die Chance, dass das Jobcenter Geld für die Ausbildung gibt. Bildungsgutschein klingt, als bekäme jemand etwas geschenkt. Man bedankt sich.
Die DRK-Fachschule für Altenpflege in Berlin- Friedrichshain will Angelika Irling nehmen. Sie soll ein Heim suchen, das die Praxisausbildung übernimmt. Irling rennt und rennt und findet eins.
Inzwischen zieht das Jobcenter um. Im neuen Haus findet man ihre Unterlagen nicht mehr. Gut, dass mir das nicht passiert ist, denkt Irling. Sie ist 38, hat einen Sohn. Das bisschen Geld, das sie zum Leben bekommt, braucht sie pünktlich.
Im neuen Haus ist nicht mehr Arbeitsvermittler Pinsler für sie zuständig. Der neue heißt Kohlmann. Er gibt ihr den Bildungsgutschein. Das könnte er sich sparen. Er erklärt, dass sich inzwischen das Gesetz geändert hat: „Das Jobcenter sorgte jetzt nur noch für die Ausbildung, aber nicht für den Lebensunterhalt.“
So verwirrt und entmutigt wie Angelika Irling sein Büro verlässt, sieht sie viele Menschen durch die Türen des Hauses kommen. Die meisten gehen benommen über den Flur nach Hause. Sie verstehen kaum genug von den Regeln der Arbeitsmarktreform, um zu erkennen, wann Unrecht geschieht. In ihren Köpfen fechten sie wilde Kämpfe aus, in den Beraterzimmern halten sie still.
Angelika Irling läuft nicht weg, sondern in die Leistungsabteilung. Dort sitzt Frau Hagenbruch, Urlaubsvertretung der zuständigen Sachbearbeiterin Frau Riebe. „Klar erhalten Sie Arbeitslosengeld II“, sagt sie. Vermittler Kohlmann in seinem Büro runzelt erneut die Stirn. Die Nachricht erstaunt ihn sehr.
Es ist Ende August. Irling rennt und rennt. Die DRK-Schule füllt den Bildungsgutschein aus, gibt ihr einen Vertrag ohne Unterschrift, da die Direktorin im Urlaub ist. Anfang Oktober soll es losgehen.
Anfang September unterschreibt die Direktorin nicht. Sie will erst den Vertrag vom Pflegeheim sehen. Angelika Irling bringt ihn. Die Direktorin unterschreibt wieder nicht. An dem Papier ist etwas nicht korrekt. Irling kann nur rennen und rennen, weil die Seniorenfreizeitstätte sie immer wieder von der Arbeit weglässt. Das Pflegeheim bittet um vier Wochen Geduld, bis der korrekte Vertrag fertig ist. Noch drei Wochen bis Oktober. Geduld? Angelika Irling tut das Einzige, was sie tun kann: sie hofft.
Mitte September erscheint sie mit dem ausgefüllten Bildungsgutschein und dem nicht unterschriebenen Schulvertrag im Jobcenter bei Herrn Kohlmann. Der sitzt da wie beim letzten Mal, als hätte er sich die ganze Zeit nicht bewegt. Das hat er aber sehr wohl. Und dabei herausgefunden, dass er Recht hatte. Im dritten Sozialgesetzbuch Kapitel 2, Paragraf 7, Absatz 5 steht ein Satz, der besagt, dass Angelika Irling bei der Agentur für Arbeit keinen Anspruch zur Sicherung des Lebensunterhalts hat, weil es für die Ausbildung, die sie antreten will, Bafög gibt.
Kohlmann hat Recht, zugleich ein Problem. Die Frau, um die er sich zu kümmern hat, ist über 30. Ihr steht kein Bafög mehr zu. Der Bildungsgutschein, den er ihr vor Wochen aushändigte, ist ein leeres Versprechen.
Es gibt eine Schule, den Praxisbetrieb, den Ausbildungstermin. Die Dinge haben sich so gefügt, dass eine arbeitslose Frau die Chance hat, Pflegerin zu werden - was in der alternden Bundesrepublik als aussichtsreicher Beruf gilt. Jedoch kann Kohlmann diese Frau nicht fördern. Traut er sich angesichts dessen, etwas von ihr zu fordern? Er erteilt einen Rat: „Überlegen Sie sich die Sache mit der Ausbildung noch mal.“ Frau Hagenbruch in der Leistungsabteilung sagt Minuten später: Eben weil der Frau kein Bafög zustünde, bekäme sie Arbeitslosengeld II. Schließlich würde die Ausbildung sie aus der Arbeitslosigkeit führen.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Mitarbeiter des Jobcenters verschiedene Ansichten vertreten. Sicherheitshalber fragt Hagenbruch im Nebenzimmer nach. Dann ruft sie Kohlmann an und klärt ihn auf. Sie habe einen Antrag auf Arbeitslosengeld II auf dem Tisch. Es ist der dritte für Angelika Irling, denn ihre Unterlagen sind nicht wieder aufgetaucht.
Am 15. September gibt sie ihn ausgefüllt ab. Die Sachbearbeiterinnen gehen Fragebögen, Kopien, Anhänge durch. Sie beglückwünschen die Antragstellerin. Für einen Moment scheint es, als glimme die Arbeitsmarktreform als Sternchen am Himmel über dem Jobcenter auf. „Nun werde ich meine RBM-Stelle kündigen“, sagt Angelika Irling. Die Frauen blicken verdutzt.
Obgleich im Antrag öfter davon die Rede ist und eine Lohnbescheinigung des Bildungsträgers beiliegt, haben sie die RBM-Stelle übersehen: „Wenn Sie in RBM sind, können Sie keine Ausbildung beginnen.“
Eine Reform regelt die Angelegenheiten völlig neu. Man muss sich reinfuchsen. Man muss sich ihr ausliefern, aber auch spüren, dass sie Sinn hat. Nicht nur im Jobcenter Mitte nimmt sich Hartz IV zuweilen wie eine absonderliche Sportart aus. Mitarbeiter sprechen von „Kunden- Ping-Pong“. Es geht so: Einer teilt dem Arbeitslosen mit, dass er für eine bestimmte Sache nicht zuständig ist, also versucht der es bei jemandem anderen, der sagt, er sei auch nicht zuständig und der Kunde kehrt zurück. So geht das hin und her.
Ehe sie Angelika Irling wegschicken, befragen die Sachbearbeiterinnen der Leistungsabteilung den Teamleiter. Der setzt der Angelegenheit die Krone auf. Eine Ausbildung zur Altenpflege werde sowieso nicht bewilligt, lässt er ausrichten, da niemand garantieren könne, dass es dort je Arbeit gibt. Irling wankt in sein Zimmer. „Würden Sie mir das schriftlich geben?“ Der Teamleiter verneint.
Angelika Irling sitzt auf dem Flur, während Arbeitsvermittler Kohlmann im Haus herumtelefoniert. Nach einer Stunde sagt er: „Wir konnten uns in der Sache nicht einigen.“ Eine Bereichsleitersitzung ist anberaumt. Die Mittagszeit verstreicht. Irling ruft die Chefin der Freizeitstätte an: Sie warte noch immer im Jobcenter. Worauf? Sie antwortet: „Das kann man niemandem erklären.“ Um eins teilt Kohlmann mit: „Auch die Bereichsleiter können das Problem nicht lösen.“
Noch einmal behelligt sie den Teamleiter. Wenn sie eine schriftliche Ablehnung will, soll sie das schriftlich beantragen, sagt er. Sie geht zur Geschäftsleitung, erzählt der Sekretärin ihre Geschichte. Irling solle das aufschreiben. Sie solle sich um einen Termin bei der Bereichsleiterin bemühen, schriftlich. Irling schreibt und schreibt und schreibt. Und wartet.
Manuela von Nell, Bereichsleiterin Leistungen, spricht freundlich. Sie spricht von Einzelfällen, Durchsetzungsbestimmungen, Leistungsausschluss. Von Maßnahmeförderung, SBW, SGB und RBM, Erhebungsbögen, Trainingsmaßnahmen. Sie fasst die Vorgänge an der Arbeitslosenfront in tückischen Begriffen zusammen. Als läge zwischen ihrer und der restlichen Welt eine Grenze, die man unbedingt mit Wörterbuch passieren sollte. Nell, die mit Hartz IV vom Sozialamt ins Jobcenter wechselte, hat sich nicht darum gerissen, eine andere Sprache zu sprechen als ihre Mitmenschen. Mitunter hört sie sich selber und muss lachen. Aber das ist eher selten. Im Jobcenter reden alle so.
Die Arbeitsmarktreform hat Manuela von Nell und ihren Kolleginnen neue, helle Büros eingebracht. Die Büros der Arbeitsvermittler sind aber nur zu 60 Prozent besetzt. In der Leistungsabteilung sieht es ähnlich aus. Irgendwann sollen knapp 630 Leute im Jobcenter arbeiten. Erst dann hat jeder Berater so wenig Arbeitslose, dass er sich angemessen um jeden kümmern kann. Bis dahin hat er das Gesetzbuch. Und Durchführungsbestimmungen der Agentur für Arbeit. Sie ändern sich regelmäßig.
„Wir halten uns an den Wortlaut des Gesetzes“, sagt Bianka Marohn, Teamleiterin Leistungsabteilung. Dabei entdecken sie, dass das neue Gesetz Lücken hat wie im Fall von Angelika Irling. Sie erörtern das in Teambesprechungen und Beratersitzungen, teilen es der Geschäftsleitung mit, damit die das Problem zur Zentrale nach Nürnberg trägt. „Das ist der normale Dienstweg“, sagt Marohn. Der normale Dienstweg ist zeitraubend lang. Der Einzelne geht verloren. „Legen Sie Widerspruch ein, gehen Sie zum Sozialgericht!“, rät Manuela von Nell Angelika Irling. „Ein Gerichtsurteil würde uns auch helfen.“
Weder in der DRK-Fachschule, wo Irling ab Oktober ausgebildet werden soll, noch in der Seniorenfreizeitstätte, wo sie arbeitet, noch unter Freunden versteht man, was passiert. Ein Freund ruft in Nürnberg an und spricht mit Siegfried Kokoska. Der arbeitet im Kundenreaktionsmanagement. Schon wieder so ein tückischer Begriff: Die Beschwerden der aufgeregten Leute sollen gemanagt werden.
Auch Kokoska hat seine Vorschriften. Verbindliches darf er am Telefon nicht sagen. „Die Anrufer sind erregt und voller Erwartungen. Sie verstehen meistens etwas anderes, als ich meine“, sagt er. Er merkt das an E-Mails oder Briefen, die den Anrufen folgen. Es ist oft so bei Hartz-IV- Geschichten: Nach gesundem Menschenverstand verlaufen sie unlogisch. Der Mann in Nürnberg kann den Unmut der Leute verstehen. Aber er kann nicht helfen. Der Freund von Angelika Irling bittet ihn, dafür zu sorgen, dass der lange Weg über Widerspruch und Sozialgericht abgekürzt wird. „Das ist Sache der Agenturen“, antwortet Siegfried Kokoska per Mail, „der unmittelbare Kontakt mit der für Frau Irling zuständigen Stelle sei Ihnen gegebenenfalls angeraten.“
Seit Oktober lernen in der Friedrichshainer DRK-Fachschule die Schüler, unter denen Angelika Irling auch hätte sein können. Viele bekommen von Jobcentern Geld zum Lebensunterhalt. „Das ist ungesetzlich“, sagt Bianka Marohn.
Die Schulleiterin verspricht, noch ein paar Wochen auf Angelika Irling zu warten. Sie hat gehört, dass es ab 2006 keine Bildungsgutscheine mehr gibt. Dass der, den die Frau jetzt hat, ihre letzte Chance ist. Bianka Marohn und Manuela von Nell haben davon nichts gehört. Sie telefonieren. „Es ist nicht wahr“, sagt Marohn. Wahr ist: Ab 2006 werden nur noch zwei Jahre Ausbildung finanziert. Die Pflegefachschule dauert drei. Im letzten Jahr müssen die Schüler sehen, wie sie über die Runden kommen.
In besonderen Härtefällen, so steht es im dritten Sozialgesetzbuch, kann die Arbeitsagentur Lebensunterhalt als Darlehen zahlen. Doch ein Härtefall ist Angelika Irling nicht. Sie war nicht lange genug arbeitslos.
Nadja Klinger