Der Tagesspiegel, Oktober 2006
Der Staat überlegt, das Verfahren für Privatpleiten zu ändern - für viele würde das Leben noch schwerer. Besuche in der Welt der Miesen.
Diese Nacht ist ein Event. Leute kommen durch die Toreinfahrt an der Schönhauser Allee. Sie huschen übern Hof, steigen lautlos die Treppe herauf, schlüpfen in die Beratungsstelle. Hier packen sie ihre Geschichten aus. Endlose Geschichten, mit denen sie längst nicht mehr fertig werden. Jedes Jahr im Herbst gibt es die „Lange Nacht der Schuldnerberatung“. Man kann unauffällig kommen und gehen. Das Wichtigste an dieser Nacht ist die Dunkelheit.
Die Geschichte von Frau S. begann Anfang der 90er Jahre. Damals verlor sie ihren Job als Altenpflegerin. Das war ihr so unheimlich, dass sie nicht zum Arbeitsamt ging, sondern putzen. Sie schrubbte Treppenhäuser, räumte Bauschutt weg. Das brachte Geld, um für sich und die Tochter einzukaufen, aber nicht um Rechnungen und Miete zu bezahlen. Sie floh mit dem Kind, ehe eine Wohnung geräumt wurde. Arbeitete im Obdachlosenheim, konnte laufende Kosten bezahlen, nicht aber die Schulden begleichen. Vor Schulden kann man nicht fliehen.
Wenn Frau S. von der Arbeit kam, schloss sie sich ein und ließ die Jalousien runter. Die Welt draußen war voller Gläubiger. Sie ging nicht ans Telefon. Wenn es klingelte, öffnete sie nicht die Tür. „Psst“, sagte sie immerfort zum Kind. „Psst.“ 2002 wollte sie so nicht mehr leben. Sie sah nur einen Ausweg. Sie nahm Tabletten. „Als ich den Entschluss gefasst hatte, mich so von den Schulden zu erlösen, war mir endlich wieder leicht ums Herz.“
In der Therapie, die auf den Selbstmordversuch folgte, erwähnte sie die Schulden nicht. Sie ließ sich zur Informationskauffrau umschulen. Im Mai 2005 fand sie Arbeit. Die Miete von einst, Kosten für Strom, Gas, Telefon, Versicherung, Räumungsklage, alles in allem 30 000 Euro, schleppte sie nach wie vor mit sich herum. Vor allem schleppte sie an der Scham.
Man kann nur Geld ausgeben, das man hat. So reden die Leute, auch die Kollegen. Frau S. fürchtet, dass jemand von den 30 000 erfährt und sie gekündigt wird. Im Schutz der Dunkelheit, den blonden Schopf hinterm aufgestellten Mantelkragen verborgen, kommt sie endlich zur Schuldnerberatung. Im Rucksack auf ihrem Rücken stecken Mahnungen und Post vom Gericht. „Sie haben 250 Kollegen“, sagt eine Beraterin. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass da nicht noch jemand eine Pfändung hat.“
Wie wird ein Mensch zum Schuldner? Er wird arbeitslos, krank oder zu alt, um zur Rente dazuzuverdienen. Er hat ein Kind in die Welt gesetzt, leichtsinnig Bürgschaften unterschrieben, sich scheiden lassen. Er ist ein Schwarzfahrer, Vieltelefonierer, Trinker, Spieler. Er hat sich Wünsche erfüllt, verrechnet, Hoffnungen gemacht. Er hat Dreck am Stecken oder Fehler begangen. Jedoch ist die Geschichte eines Schuldners keine rein private. Denn das Leben hat seinen Preis. Es lockt mit Angeboten. Ehe Menschen sich angewöhnten, mehr Geld auszugeben, als sie besitzen, kamen Banken auf die Idee, Kleinkredite zu vergeben. Zu seinen Käufern rechnet der Handel auch die, die gar nicht bezahlen können. Raten, Zinsen sind Alltag. Versandhäuser haben eigene Geldeintreiberbüros. Es kommt vor, dass Banken die Schulden ihrer Kunden an Inkassofirmen verkaufen. Die treiben das Geld mit Gewinn ein.
Gläubiger und Gerichtsvollzieher bleiben mit Recht dem Geld auf der Spur, für das Leistungen erbracht wurden. Auf Grundlage gesetzlicher Mahngebühren, Strafen und Pfändungen produzieren sie aber psychischen Druck. Erzeugen Scham und Schuldgefühle.
Jeder zwölfte deutsche Haushalt ist überschuldet, heißt es im „Schuldenreport 2006“ von Caritas, Rotem Kreuz, Diakonischem Werk und Verbraucherzentrale. Das heißt: Hinter jeder zwölften Tür ist es Menschen nicht möglich, ihre Schulden innerhalb eines überschaubaren Zeitraums zu bezahlen, ohne dabei die eigene Grundversorgung zu gefährden. In Berlin gibt es 165 000 derartige Fälle. Seit Ende der 90er Jahre können aber auch Privatpersonen, deren Schulden nicht aus vorsätzlich unerlaubten Handlungen entstanden sind, in Insolvenz gehen. Nach einer Wohlverhaltensphase von sechs Jahren, in denen ein Treuhänder ihren Besitz verwaltet und so viel Geld wie möglich an die Gläubiger verteilt, werden sie per Gesetz von allen Restschulden befreit.
Das sogenannte Verbraucherinsolvenzverfahren ist für viele Menschen die letzte Chance, ein normales Leben zu führen. Aber es kostet Geld, 2000 bis 2500 Euro, vor allem für die Arbeit eines Treuhänders. Und die Mehrheit der Verschuldeten, nach amtlichen Schätzungen 80 Prozent, kann es nicht bezahlen. Deshalb wurde Ende 2001 am Gesetz nachgebessert. Die Kosten können nun gestundet werden. Bis vier Jahre nach Verfahrensende kann der Staat sich das Geld von den Leuten zurückholen. Die Gesetzesnovelle war revolutionär. Erst jetzt konnte die große Masse der Schuldner ihre letzte Chance auch wirklich nutzen.
Doch an dieser Stelle, an der alles so gut klingt, müssen wir rechnen. Warum? Weil auch der Staat rechnet. Partout überlegt die Regierung, das Verbraucherinsolvenzverfahren zu ändern - zum Nachteil der Schuldner. Um die Staatskasse zu schonen, soll bei den Vermögenslosen unter ihnen künftig kein Treuhänder mehr eingesetzt werden. Das wollen zumindest die Länder, die die Kosten tragen müssen, falls der Schuldner das nicht kann. Doch erst wenn im Verbraucherinsolvenzverfahren der Treuhänder das Geld verwaltet, sind Schuldner vor Angriffen und Pfändungen geschützt. Sollte die Regierung ihre Pläne verwirklichen, betrifft das aber demnächst nur noch die reichen unter ihnen. Für den großen Rest ist ein Verfahren ohne Treuhänder und Vollstreckungsschutz geplant - in der Beratungsstelle an der Schönhauser Allee beläuft sich dieser Rest auf vier Fünftel.
Ende 2006 soll im Justizministerium ein Referentenentwurf vorliegen. Das wäre gerade erst fünf Jahre, nachdem die ersten Kosten gestundet wurden. Fast genauso viel Zeit hätte der Staat aber auch, sich das Geld zurückzuholen.
Carsten Liersch und seine Kollegen haben die Idee in ihren Gutachten schon kritisiert, da war erst der Entwurf zum Entwurf da. Liersch ist ein junger Anwalt. Seine Kanzlei befindet sich in einem alten Haus in Frohnau. Er trägt die Haare kurz geschoren. Seine Figur verrät, dass er das Leben sportlich nimmt. Als Treuhänder verwaltet er Besitz im Insolvenzverfahren. Schulden sind für ihn normal. Eine volkswirtschaftliche Falle. „Die Gesellschaft schafft Rahmenbedingungen für Verschuldung“, sagt Carsten Liersch. „Also muss sie es sich auch leisten, den Menschen zu ermöglichen, wieder aus den Schulden rauszukommen.“
Wilfried Jahn tut sein Möglichstes, um Schuldnern zu helfen. Aber er gehört nicht zum Staat. Er gehört zur Caritas. Auch er empfängt in der „Langen Nacht der Schuldnerberatung“ in der Schönhauser Allee Leute. Sein Büro ist klein und voll gestellt. Jahn hingegen ist groß. Er hat Überblick. Sein Schnauzbart trotzt den Gepflogenheiten. Mitte der 70er Jahre ist er bei der Kirche in der DDR Sozialarbeiter geworden. 1992 fing er bei der Schuldnerberatung an. Er lernte, aus dem Schweigen seiner Klienten die Angst herauszuhören.
Unter seiner Leitung arbeiten elf Berater. Sie sind Sozialarbeiter, Philosoph, Lehrer, Ingenieurökonom. Jeder betreut 70 und mehr Klienten, und wer derzeit einen Termin haben will, muss fünf Monate warten. Manchmal verspricht sich Wilfried Jahn und sagt anstatt Klienten Patienten. Er hat es mit seltsamen Krankheiten zu tun. Mit der Briefkastenphobie zum Beispiel. Leute sind unfähig, Briefkästen zu öffnen, in denen Rechnungen und Mahnungen stecken. Andere nehmen die Post, bringen sie in die Schuldnerberatung, ungeöffnet, in großen Plastiksäcken.
Susanne Vetter hat ein Büro auf demselben Flur wie ihr Chef, eine kleine, blonde Frau, die flink per Mausklick Informationen einholt. Sie glaubt nicht, dass am Verbraucherinsolvenzverfahren etwas geändert wird. „Das wäre einfach unvernünftig.“ Jedoch hat sie im Internet die Begründung des Justizministeriums gelesen: Schuldner bemühen sich nicht und missbrauchen das Verfahren. „Der Gesetzgeber hat ein negatives Menschenbild“, sagt Vetter.
Sie ist Sozialpädagogin. Ende der 90er hat sie fürs Diplom in Berliner Schuldnerberatungen recherchiert. Damals kreuzten dort vor allem Alleinerziehende, Wohnungslose und Suchtkranke auf. Seit Mai 2000 arbeitet sie bei Wilfried Jahn. ?Heute kommen kluge, geschickte Leute mit guter Ausbildung, die schreiben und sich verständigen können. Es kommen Selbstständige, die Firmen managen. Sie sitzen hier steif und ohnmächtig“, sagt sie.
Die Beraterin telefoniert mit Gläubigern. Sie sollen auf Geld verzichten, sich mit Kleinbeträgen begnügen. Zuweilen bittet sie. Oft muss sie verhandeln. Was sie sagt, lässt sich so zusammenfassen: Die Lebenshaltungskosten steigen ständig. Es sinkt die Wahrscheinlichkeit, von Überschuldeten Geld holen zu können.
Eine Realität, die sich so beschreiben lässt, bringt spezielle Sitten hervor. Die Hartnäckigkeit vieler Gläubiger ist so unfein wie die Lage, in die sie mehr und mehr geraten. Man hört zum Beispiel solche Geschichten: Anders als ihr Vorgänger Bewag übe die Energiefirma Vattenfall kräftig Druck auf säumige Kunden aus. Einer ihrer Klientinnen, erzählt Vetter, wurde der Strom abgedreht, obwohl die Mutter eines Säuglings durch die Härtefallregelung gesetzlich geschützt ist. Handyfirmen drohten mit Beugehaft. Fitnessstudios schickten Gerichtsvollzieher. Eine Inkassofirma hat das Konto einer Arbeitslosengeld-II-Empfängerin gepfändet, obwohl dort kein Cent zu holen ist. Gepfändete Konten werden schnell gesperrt, mit Schufaeintrag gibt's kein neues, ohne Konto keinen Arbeitsplatz.
„Schuld und Schulden, das ist nicht dasselbe“, sagt Rüdiger Gillar, der eine Etage unter Susanne Vetter und Wilfried Jahn sein Büro hat. Gillar spricht langsam, zum Mitdenken. Der kleine, fast kahlköpfige Mann, Betriebswirtschaftler, seit 1997 Schuldnerberater, hat sich angewöhnt, sehr genau zu sein. Ein Klient setzt sich an seinen Tisch, schiebt einen Stapel Rechnungen herüber und sagt: Das sind meine Schulden. „Ja“, erwidert Gillar. Er ist Helfer. Aus dem Dilemma herausbewegen kann sich nur jeder selbst. „Deshalb lassen wir die auch schön bei Ihnen liegen“, sagt er. Und schiebt den Stapel wieder zurück.
Wenn er bald in Rente geht, wird er die Schuldner vermissen. Obwohl die Schicksale ihm wehtun. „Empfindungsschmerz“, nennt er das. Solchen Schmerz braucht das Land. Gillar lässt sich erzählen, wofür die Leute Geld ausgeben. Oft ist ihm unklar, wie sie über die Runden kommen. „Sie sparen an Essen und Körperpflege“, sagt er. „Glauben Sie, meine Klientinnen gehen zur Vorsorgeuntersuchung zum Arzt?“ Kürzlich erlitt eine junge, erschöpfte Mutter einen Hörsturz, im Krankenhaus diagnostizierte man Krebs. Erschreckend viele seiner Klienten sind im letzten Jahr an Krebs erkrankt.
Von Empfindungsschmerz spricht Carsten Liersch in Frohnau nicht. Dafür liefert der Treuhänder die zu Rüdiger Gillars Schmerzen passenden Argumente. Die Hälfte seiner ganz armen Schuldner, die Gerichtskosten, Kosten für den Treuhänder stunden lassen, schaffen es schon während des Verfahrens, das Geld zurückzuzahlen. Mindestens zwei Drittel bringen es in den vier Jahren danach auf. „Die Leute sind bemüht, sie finden Arbeit“, sagt er. „Das Verbraucherinsolvenzverfahren finanziert sich wohl fast aus sich selbst heraus.“ Bevor der Staat das erfährt, bevor sich zeigen könnte, dass seine Hilfe ihn gar nichts kostet, überlegt er, sie zu verweigern. Liersch sagt: „Da ist scheinbar die böse Absicht der Realität voraus.“
Nadja Klinger