Der Tagesspiegel, November 2003
Sie wird angeschrien für Regeln, die sie nicht gemacht hat, und ab Januar wird es noch mehr Ärger geben: Dann steigen die Kita-Gebühren. Barbara O'Grady ist Sachbearbeiterin im Bezirksamt, sie steht zwischen Mensch und Gesetz. Und sie sagt: „Es geht um Existenzen.“
Der Wetterbericht hat Dunkelheit und Kälte vorausgesagt. Es kommt anders. Die Leute gehen auf der Sonnenseite der Straße. Sie heben die Köpfe ins Licht. „Ist es nicht wunderbar, wenn alles anders kommt?“, fragt der Mann im Radio.
Die Sonnenseite ist nicht die Seite der Prenzlauer Allee, auf der das Bezirksamt Pankow steht. Der große Backsteinbau wirft Schatten. Hinter den Fenstern hängt Neonlicht. Ein Fenster geht auf und eine Frau mit kurzen, aschblonden Haaren erscheint. Ihre Bürgersprechstunde ist zu Ende. Sie raucht erst mal eine Zigarette. Anstatt sich in die Herbstluft zu verziehen, senkt sich der Qualm im beheizten Büroraum nieder. So ist das immer, die Frau hätte es wissen müssen. Sie wedelt mit der Hand. Der Qualm kräuselt sich und zuckt. Sie wedelt weiter und weiter, da zieht er wirklich nach draußen.
Es gibt zwei Möglichkeiten, dass etwas anders kommt als vorausgesagt: Entweder der liebe Gott bewegt die Hand oder eine wie Barbara O'Grady.
Es gibt einen Unterschied zwischen den beiden Möglichkeiten. Der liebe Gott - nennen wir ihn Naturgewalt, Zufall oder Bundeskanzler - ist mächtig. Barbara O'Grady hingegen hat keine Macht. Sie ist Sachbearbeiterin, sie hat Gleitzeit und den Computer. Sie hat Berechnungstabellen und Fristen. Sie kommt morgens um sechs ins Büro, sammelt Unterlagen, überprüft, fordert Geld ein. Sie macht die Gesetze nicht, sondern wendet sie an. Im Registerschrank hängen 800 grüne Aktenmappen. In den Mappen stecken Menschen und jeder hat eine Nummer. Barbara O'Grady sagt: „Es macht mir Spaß, mit Menschen zu arbeiten.“ Aber viele Bürger halten sie nicht für eine gute Partie, sondern für den Feind. Sie hat den Gesetzgeber im Rücken. Die Bürger jedoch kommen direkt aus dem wahren Leben. Mitunter erkennt Barbara O'Grady, dass die Gesetze im wahren Leben nicht funktionieren. Trotzdem kann sie die Akten nicht liegen lassen und nach Hause gehen. Sie macht die Schmuddelarbeit für den lieben Gott.
Seit 13 Jahren bearbeitet sie Verträge für die Kindertagesstätten im Prenzlauer Berg. Mit den Jahren ist sie strapazierfähig geworden. Sie bewältigt Papier, Termine, Maßgaben. Sie bewältigt Schicksale. Sie weiß, wie Eltern mit miesen Einkommen die Möglichkeiten eines Gesetzes ausschöpfen können, um in der Berechnungstabelle eine Spalte nach unten zu rutschen. Sie telefoniert wie eine Weltmeisterin nach allein stehenden Müttern, bittet sie zu sich, damit ein entsprechender Weg gefunden und der Kita-Platz bezahlbar wird. „Immer mit der Ruhe“, sagt sie. „Eins nach dem anderen.“ Sie macht Sprüche, die uralt sind. Nicht von heute. Heute ist alles eher beunruhigend.
Die Bürger sind in den 13 Jahren immer weniger strapazierbar geworden. Sie verhalten sich kaum noch normal. Sie sind von einer tiefen Dankbarkeit erfüllt, weil sie einen Kitaplatz bekommen haben - obwohl der ihnen rechtmäßig zusteht. Vor lauter Glück nicken sie immer nur. Oder sie werden unsicher, kaum haben sie den Platz erhalten, und wollen ihn wieder abgeben, ehe die erste Rechnung kommt. Oder sie jammern. Oder sie rasten aus. Das Glück derjenigen, die nicht bezahlen können, vergeht schnell.
Barbara O'Grady ist in Prenzlauer Berg geboren. Hier hat sie den Mann mit dem irischen Nachnamen geheiratet. Hier hat sie einen Sohn zur Welt gebracht. Hier hat sie in einem Kindergarten als Wirtschafterin gearbeitet, bis zur Wende, dann wurde nicht mehr gewirtschaftet wie bisher. Jetzt ist sie eine von elf Sachbearbeiterinnen für Kitakosten im Bezirksamt. Die Arbeit sei die gleiche wie früher, als sie das Essengeld eingesammelt habe, sagt sie, nur sei alles etwas größer. Wenn alles größer wird, wird der Mensch automatisch kleiner. Früher hat man ihren Nachnamen bestaunt. Jetzt fragt man, wenn sie sich am Telefon meldet: Sind Sie der deutschen Sprache mächtig? Irgendwann will sie mit ihrem Mann nach Irland reisen.
Mit einer Kollegin teilt sie sich das Büro. Auch die hat 800 Akten im Schrank. Sie hat die Fähigkeit, am Schreibtisch gegenüber zu sitzen und gleichzeitig nicht da zu sein. Sie hört nicht zu, wenn Barbara O'Grady Fragen beantwortet. Sie hört nicht, dass die Stimme, die fragt, lauter wird. Dass auf die Gesetze geschimpft wird. Sie hört auch nicht, wie die O'Grady sagt: „Ich bearbeite die Sache, ob es mir gefällt oder nicht. Beschweren Sie sich an anderer Stelle! Gehen Sie auf die Straße, das ist Ihr Recht!“ Außer dem Weghören beherrscht die Kollegin auch dies perfekt: Genau im richtigen Moment kehrt sie aus der Abwesenheit zurück. Springt vom Schreibtischstuhl auf und steht bereit zum Kampf. „Ich komme wieder!“, brüllt ein wütender Bürger da gerade. Er zeigt auf Barbara O'Grady, die sitzt und schweigt. Die Kollegin schweigt ebenso. An der Zimmerdecke surren die Neonröhren. Pflegeleichte Topfpflanzen stehen steif. Drei junge Hündchen glotzen vom großen Foto an der Wand. Das Radio murmelt vor sich hin. „Ich komme, wenn Sie allein sind!“, brüllt der Mann.
“Ich glaub, mein Hamster fegt durch die Tür“, sagt die Kollegin vom Schreibtisch gegenüber, als sie mit Barbara O'Grady wieder allein ist. Die lässt ihr Raucherlachen raus. So lange, bis das Lachen wieder mal erstickt. Auf manchen Akten könnten die Sachbearbeiterinnen Vorsicht, bissiger Hund! Vermerken. Könnten. Zur Sicherheit haben sie die Namen der bissigen Hunde im Kopf.
Es gab die Zeit kurz nach der Wiedervereinigung, da ist alles anders geworden, die Gesetze und die Bedingungen. Für die Kinderbetreuung gab es plötzlich Verträge und - im Gegensatz zu den paar Pfennigen pro Tag in der DDR - Preise. Barbara O'Grady hat gelernt, was es zu lernen gab. Sie hat langsamer und langsamer gesprochen, damit die Bürger verstehen, nach welchen Vorgaben ihr Leben jetzt funktioniert. „Ich habe eine Servicefunktion“, sagte sie sich. Sie redet auch heute noch extrem langsam, wenn sie etwas erklärt. Es gibt extrem viel zu kapieren. Oft zu viel. Zu den Bürgern sagt sie: „Sie müssen nicht unbedingt verstehen, wie das alles geht.“ Der Satz ist ihr Angebot, die Sache in die Hand zu nehmen. Das ist alles, was sie bieten kann. Nicht mehr. Und nicht weniger. Man hat sie immer machen lassen.
Es gibt Familien, deren Verträge hat sie etliche Male korrigiert. Sie hat den Eltern Briefe geschickt, wenn die Gesetze sich änderten und immer wieder gesagt: „Sie müssen das alles nicht verstehen.“ Aber auch die Eltern haben sich verändert. Sie wissen: Diese Sachbearbeiterin weiß Bescheid. Sie müssen nicht kämpfen, zumindest nicht mit ihr. Sie können sie anrufen. Sie können in aller Ruhe abwarten, was ihr einfällt. Sie können ihr vertrauen wie vor 13 Jahren. Aber heute ist nicht vor 13 Jahren.
„Ich brauche Vollzeitplätze“, sagt eine Mutter, die zwei Kinder unterbringen muss, weil sie 45 Stunden in der Woche arbeitet. Die Berechnungstabelle zeigt, was die Plätze kosten. „Ich bekomme einen Hungerlohn“, sagt die Frau. „Ich hab seit fünf Jahren keine Gehaltserhöhung, kein Weihnachtsgeld, kein Urlaubsgeld.“ Während die Sachbearbeiterin auf die Tabelle starrt, erzählt die Frau aus ihrem Leben. Das will sie eigentlich gar nicht, jedenfalls nicht hier. Gleich fängt sie an zu heulen. Eigentlich sei sie glücklich, dass die Leute ihr gegenüber offen reden, sagt Barbara O'Grady später. Jedoch setzt jede Geschichte sie unter Druck. Sie muss, sie will unbedingt einen Weg finden.
Zu Beginn nächsten Jahres stehen wieder Veränderungen an. Die Kitakosten sollen beträchtlich steigen. Auch ist nicht klar, wer dann noch einen Bedarf anmelden kann. Etwa 14.500 Kitaplätze gibt es in Pankow. Wem die Plätze zustehen, das ermitteln Barbara O'Gradys Kolleginnen im Zimmer nebenan. Ein Kind muss drei Jahre alt sein, dann hat es einen Rechtsanspruch. Ist es jünger, müssen die Eltern Arbeit vorweisen oder einen Zettel vom Arbeitsamt, der sie als „arbeitssuchend“ einstuft. Nicht jeder, der auf dem Arbeitsamt gemeldet ist, bekommt so einen Zettel. Warum nicht? Dafür erscheinen Mütter in der Kostenstelle, die Erziehungsgeld beziehen und trotzdem „arbeitssuchend“ sind. Wie geht das? Überall müsse man mehr ausgeben, erzählen die Bürger. Die BVG erhöhe auch schon wieder die Fahrpreise. Und wo könne man, bitteschön, Geld verdienen? Barbara O'Grady hört zu, ist aber dabei schon am Grübeln. Sie könnten ihr nach wie vor Vertrauen schenken, die Bürger. Aber sie haben nichts mehr zu verschenken.
Wer sein Kind nicht unter bekommt, kann auch keine Arbeit annehmen. Wer, umgekehrt, keine Arbeit hat, kann aber auch kein Kind unterbringen. „Es geht um Existenzen“, sagt Barbara O'Grady. Es geht komisch zu auf dem Bezirksamt, aber mit rechten Dingen. „Gesetze müssen durchdacht sein bis ins Letzte“, sagt sie noch, „aber das ist oft nicht der Fall.“
Kein Chef im Amt hat Barbara O'Grady gesagt, wie es ab Januar zugehen wird. Kein Chef kann das sagen. Also hat sie Zeitungsartikel ausgeschnitten und verglichen. Überall stand etwas anderes. Das sagt sie den Eltern, die ausrechnen wollen, wie viele Stunden Kita sie sich ab Januar noch leisten können. Wie viele Stunden sie arbeiten gehen können. Ob es sich lohnt, zu arbeiten, weil möglicherweise der Kitaplatz das Einkommen frisst. Sie sagt: „Rufen Sie mich immer wieder an!“ Nun klingelt das Telefon ohne Pause.
Es gibt Härtefälle, die sogar das Gesetz als Härtefälle anerkennt. Barbara O'Grady schickt sie zur Hauptsachbearbeiterin, die sitzt ein paar Türen weiter. Sie schlägt sich mit den schriftlichen Beschwerden der Bürger herum. Meist sind die Absender nicht im Recht. Sie schreiben sich Frust von der Seele. Sie schimpfen auf die Zustände. Betonen, dass Kinder die Zukunft sind und dass, wer keine Arbeit hat, auch nichts kaufen könne. „Mein Mann kann nicht unterschreiben“, steht am Ende eines Briefes, „denn er ist auf dem Sofa eingeschlafen, weil er so hart arbeiten muss.“ Briefe wie diese sind im Bezirksamt irgendwie an der falschen Adresse. Hier sitzt eine Hauptsachbearbeiterin und schwitzt. Soll sie schreiben: ,Ich bin ganz Ihrer Meinung'? Soll sie dazu raten, zur Stadträtin zu gehen, zum Senat, zum Bundestagspräsidenten, der um die Ecke wohnt? Soll sie jemandem freundlich antworten, der sie ausdrücklich beschimpft? In ihren Briefen trauen sich die Bürger noch viel mehr, als sie sich bei Barbara O'Grady im Zimmer trauen.
„Bewegen Sie Ihren dicken Hintern“, hat neulich ein Mann zu ihrer Kollegin gesagt, „in dem Hintern stecken schließlich meine Steuergelder!“ Barbara O'Grady hat an ihrem Kaffee genippt. „What a beautiful day“, stand auf der Tasse. Dann sagte sie: „Es bringt nichts, sich mit Ihnen zu unterhalten.“ Dann ist sie zum Aktenschrank gegangen und hat dabei ein Lied gepfiffen.
Mittwochs ist im Bezirksamt keine Sprechstunde. Der Mittwoch ist der Sonntag der Sachbearbeiterinnen. Sie nennen ihn „bürgerfrei“.
Die Bürger sind in der Kita-Kostenstelle überwiegend Frauen. Allein stehende Mütter. Mütter mit Kindern und vielen Vätern dazu. Mütter, die mit den Vätern nicht zusammenleben, aber ein Kind nach dem anderen von ihnen bekommen. Es ist alles möglich. Die Verhältnisse sind nie ganz klar. „Der Papa“, nennt Frau O'Grady die abwesenden Männer oder: „der Kindsvater“. Die Kindsväter sind arbeiten. Oder noch im Bett. Oder weg. Seit der Geburt. Seit der Scheidung. Die Frauen, die bei Barbara O'Grady sitzen, bekommen oft keinen Unterhalt. „Ich weiß nicht, wo der ist!“, sagen Mütter über Väter.
Die Sachbearbeiterin versucht, auf dem Laufenden zu bleiben. Sie verwaltet das Alleinsein, Hochzeiten, Trennungen. Sie ist mitunter die Erste, die erfährt, wenn ein Elternteil sich aus einer Familie verabschiedet. Scheinbar sitzt sie nur hinterm Schreibtisch. In Wahrheit steht sie mitten im Leben drin. Es teilt sich ihr mit, und sie macht was draus. Vor vier, fünf Jahren sind viele Frauen aus ihren Familien gegangen und haben die Kinder bei den Vätern gelassen. „Es war wie ein Trend“, sagt Barbara O'Grady. Die Männer saßen bei ihr im Amt und heulten. „Ich kann nicht mehr“, haben die Frauen in ihren Abschiedsbriefen geschrieben. Barbara O'Grady hat immer und für alles eine Lösung gefunden. Ich kann nicht mehr - das ist das Einzige, wozu ihr gar nichts einfällt.
Nadja Klinger