Der Tagesspiegel, Juli 2003
Drei Euro 40 kostet ein Fisch bei Harald Morgner. Bevor er das Tier verkauft, hat er es wochenlang gefüttert und gepflegt - wenn er es verkauft. Obwohl er von früh bis spät arbeitet, läuft sein Geschäft nicht, es ist mehr Zoo als Laden. Warum geht es dem Fachhandel heute so schlecht?
Das bunte Fischchen schwimmt immer um sich selbst. Normal ist das nicht. Harald Morgner stellt sich auf die Leiter, fischt es aus dem Wasser und setzt es in ein anderes Aquarium. Dort ist es allein. Er stellt das Futter um. Er schenkt ihm täglich einen Blick: Tiefe Stirnfalten hängen zwischen Morgners Augen, aus denen die Sorgen sprechen, während sein Mund etwas Aufmunterndes sagt. Nach Tagen werden die Kreise, die das Fischchen zieht, größer. Es wird gesund! Dann kann er es doch noch verkaufen!
Das Tier kostet drei Euro 40. Der Gewinn, den der Zoohändler macht, beläuft sich auf ein paar Cent. Wie jeder Fisch in seinem Angebot hat auch dieser viele Wochen im Laden gelebt. Morgner hat für Nahrung gesorgt, für Sauerstoff, für die richtige Wassertemperatur. Er hat das Aquarium beleuchtet und gereinigt. Man könnte eine Rechnung aufstellen, aus der sich ergibt, wie viele Tiere, Futter und Zubehör er verkaufen müsste, damit man überhaupt von einem Geschäft reden kann. Aber Harald Morgner rechnet nicht mehr.
Er streckt die Finger und klappt einen nach dem anderen um. Anzeigen-Hellmann: weg. Lebensmittel-Müller: weg. Foto-Fiedler: weg. Die Bäckerei, der Friseur, die Post, die Kohlenhandlung, die Drogerie: alle weg. Bleiben noch zwei Finger: „Der Glaser und ich“, sagt Morgner, „das ist die ganze Kuglerstraße.“ Eine Straße, in der die Leute nur noch wohnen. Sie kommen aus ihren Häusern und auf Morgners Laden zu. Er winkt durchs Schaufenster. Sie gehen vorbei. Sie eilen zum Großmarkt, wo's billig ist, oder ins Einkaufzentrum, wo es viele Dinge an einem Ort gibt. In den Bäumen der Kuglerstraße zwitschern Vögel, aber unter den Bäumen fällt mancher Tage kaum ein Wort. Es ist, als hätte sich das städtische Leben von hier verzogen.
Auf Morgners Kaffeepott steht THE BOSS. Auf den Armbanduhren, die als Werbegeschenke am Katzenfutter kleben, ist es 15 Minuten nach zwölf. „Mal sehen, wann ich den letzten Kunden hatte“, sagt the boss. 19 Minuten nach elf, antwortet die Kasse. Der Kunde hat ein Euro 80 bezahlt. „Was habe ich heute überhaupt schon eingenommen?“ Zwölf Euro 30. „Manchmal könnte ich wegrennen“, sagt the boss. „Aber dann öffnet sich die Tür und ich denke: Es geht weiter!“ Er rechnet nicht mehr, er hofft.
Er hofft, dass die Steuern gesenkt werden und die Lohnnebenkosten. Dass er die Miete zahlen kann. Dass die Stammkunden ihm treu bleiben. „Hallöchen!“, ruft er, wenn die Ladentür sich öffnet, und hampelt, als hätte man ihn bis zum Anschlag aufgezogen und jetzt den Schlüssel losgelassen. Herein kommt nur die Postfrau, sie lässt Briefumschläge da. Darin stecken Rechnungen. Harald Morgner hat folgende Ausgaben: Gewerbesteuer, Umsatzsteuer, Kirchensteuer, Solidarzuschlag und IHK, Berufsgenossenschaft, Miete und Telefon, Haftschutzversicherung, Wasser, Gas und Strom. Die Ausgaben steigen, während mittlerweile jeder zweite Stammkunde arbeitslos ist. Es gibt keine Gesetze, die einem kleinen Fachgeschäft diese schwierige wirtschaftliche Situation einfacher machen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe rechnet allein in diesem Jahr mit 10.000 Insolvenzen im Einzelhandel.
Morgner verkauft sehr gutes Futter, aber das Futter in den Drogerieketten ist billiger. Er spart Strom, manchmal leuchten nur die Aquarien, manchmal aber auch die nicht. Er macht kaum frei, steht von morgens bis abends im Laden, erledigt sonntags den Papierkram. Er hat sich mit einer Tierärztin zusammengetan, die Praxis ist nebenan. Er hat einen Hundesalon eingerichtet und nimmt in der Urlaubszeit Katzen in Pflege. Er könnte sich auf den Kopf stellen. „Aber ich kann nicht beeinflussen, wie der Laden läuft“, sagt er.
Vor 26 Jahren hat er in der Kuglerstraße in Prenzlauer Berg seine Zoohandlung eröffnet. Die Leute kauften alles, was da war. Morgner hat mit energischem Tonfall zugeteilt: Jeder nur für einen Groschen Wasserflöhe! Jeder nur fünf Tüten Sägespäne, damit alle was mitnehmen können! Er ist kaum dazu gekommen, Kaffee zu trinken. Es gab noch nicht solche Pötte wie heute, aber Morgner war damals wirklich der Boss. Erst hatte er einen Laden, dann auch noch den nebenan. Er thronte in einem Reich, mit zwei weit offen stehenden Türen. Seine Herrschaft bestand darin, jedem die Hand zu reichen. Die Kunden redeten übers liebe Vieh, man kam vom Hundertsten ins Tausendste, man entwarf Pläne, flickte Ehen, machte sich über den Alltag her, über Politik. „Tierhalter lieben Schlangen, Krokodile, Kakadus und Ratten. Sie haben ein Herz für alles“, sagt Harald Morgner. In seinem Laden konnte man den Puls der Stadt spüren.
Jetzt ist der Pulsschlag raus. Morgner betreibt kaum noch Handel. Er besitzt einen kleinen Zoo. 70 Aquarien, Vögel, Mäuse, Hamster, Ratten, Meerschweine. Die Stadt hat sich verzogen, in die Schönhauser-Allee-Arkaden beispielsweise. Das Einkaufszentrum saugt die Leute aus den Straßen heraus und in sich auf. Sie kaufen in drei Stockwerken alles zusammen, was sie brauchen, setzen sich dann und schwatzen. Nicht mehr mit jedem, der gerade auftaucht, so wie bei Morgner, dafür bei Kaffee oder Eis oder Pommes. Auch dem Zoohändler hat man Platz in den Arkaden angeboten. Die Miete war beträchtlich, aber vielleicht wären neue Kunden gekommen. Er hat abgelehnt. Er wollte den Kiez nicht verraten. Nun hat der Kiez sich von ihm abgewendet.
Morgners alter Stammkunde Lutze kommt öfter, aber nicht zum Einkaufen. Er ist auch Einzelhändler. Sein Gardinengeschäft hat nicht überlebt, also hat er in seinem Garten am Stadtrand einen Imbiss eröffnet. Die Leute haben mehr gesoffen als gegessen. Im Winter hat er sie ins Wohnzimmer gelassen, wo es warm war. Aber die Kneipe zu Hause war nicht zu ertragen. Jetzt verkauft er Munition, auch im Haus. Und hat sich einen fünf Wochen alten Frischling zugelegt. „Meine kleine Amanda!“, sagt Morgner. Amanda wackelt mit dem Schwänzchen und knabbert die Telefonstrippe an. „Aus!“, sagt Lutze. Die Wildsau weckt ihn nachts alle zwei Stunden. Sie ist eine Art Wachhündin. Er hat sie beim Finanzamt angemeldet, aber nicht um Hundesteuer zu zahlen. Er wird sie als Alarmanlage von der Steuer absetzen. Lutze foppt das Finanzamt. „Verkehrte Welt“, sagt Harald Morgner.
Einmal hat er Anhänger in der Stadt abgestellt, mit Werbung drauf. Das gab wieder Ärger mit dem Tiefbauamt, denn Anhänger ohne Zugmaschine dürfen nicht länger an einem Ort stehen. Morgner war zweimal vor Gericht, dann hat er die Anhänger für je eine Mark verkauft, was dem Staat keine Mehrwertsteuer gebracht hat. Er hat sie abgemeldet, auch dadurch hat der Staat Steuerverluste gemacht. Schließlich hat er sich einen Smart zugelegt, fünf Jahre steuerfrei. Das Auto ist seine Werbefläche, die platziert er stolz. „Die Anhänger hätten vielleicht neue Kunden angezogen. Ich hätte einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen können“, sagt er.
Früher hatte er vier Angestellte, jetzt kann er sich keine mehr leisten. Seine Frau hilft als Rentnerin stundenweise aus. Es gab die 16-jährige Daniela. Er hätte sie zur Einzelhandelskauffrau gemacht, aber der Verein, der sie finanziert hat, hat sie plötzlich wieder abgezogen. Es gab Christina. Weil er keine staatlichen Zuschüsse für sie bekam, hat er seine letzte und älteste Mitarbeiterin gebeten, sie entlassen zu dürfen, damit das Mädchen ausgebildet werden konnte. Sandra, 22, hat auch bei Morgner gelernt. Er hat ihr eine Ausbildung zur Hundefriseurin ermöglicht und einen Raum gegeben, in dem sie sich selbstständig machen konnte. Auf dem Arbeitsamt waren sie nicht freundlich zu ihr, da ist Morgner mitgegangen. Wenn jetzt keine Kunden kommen, versucht er, ihr gut zuzureden. Katzenstreu an der Tankstelle
Aber was soll er eigentlich noch sagen? Hinter ihm stehen zwei komplette Aquarienanlagen. Er hat sie seit über sechs Jahren im Laden und den Preis schon unter den Einkaufspreis gesenkt. Niemand kauft sie. Das Futter in den Drogeriemärkten ist von schlechter Qualität. Aber die Hunde und Katzen, die es fressen, sterben nicht daran. Auf billigem Terrain, in den Gewerbegebieten an den Ausfallstraßen der Stadt, führt fast jeder Baumarkt auch Kleintierzubehör. Es scheint, als wären der Kundschaft billige Preise mehr wert als gute Beratung, gute Qualität und ein Schwätzchen in persönlicher Atmosphäre. Es stört die Leute nicht, dass an der Tankstelle keiner mehr einen Reifen wechseln kann. Hauptsache, sie können nach Feierabend noch Katzenstreu dort kaufen. Du kannst im Baumarkt auch einen Kaffee trinken. Soll Morgner das zu Sandra sagen? Und bald werden sie dort auch deine Hunde frisieren.
„Ich habe hier ein Wildschwein!“, ruft er durch die geöffnete Tür den Leuten zu, die vorbeigehen. „Kommt doch mal rein!“ Eine Frau streichelt Amanda. Und da sie schon mal da ist, kauft sie Fischfutter. „Die war lange nicht mehr hier“, flüstert Harald Morgner. „Sie hat den Friseurladen um die Ecke. Sie musste die Preise erhöhen, da bin ich nicht mehr hin.“ Es klingelt das Telefon. Morgner steigt über Amanda. Dann horcht er und schweigt. Eine Kundin, erfährt er, hat sich das Leben genommen. „Die war doch erst Mitte 50 und so attraktiv“, sagt Harald Morgner, „aber finanziell in Nöten.“ Amanda und die Kundin stehen steif. „Der Sohn meiner Bekannten hat sich auch umgebracht. Er ist nach Schweden gefahren, hat sich voll laufen lassen und in den Schnee gelegt“, sagt Lutze. „Sein Laden war pleite.“
Einmal ist Morgner geflohen. Er ist mit seiner Frau nach Costa Rica in den Urwald gereist. Im Hotel beim Frühstück setzte sich ein Mann neben sie. Es war der, bei dem Morgner Zubehör für Hund und Katze kauft. Er kommt nicht weg von seiner Welt. Er schaltet früh in seinem Smart den Berliner Rundfunk ein, da senden sie gerade von der Eröffnung des Einkaufszentrums in Biesdorf. „Und das feiern die im Radio noch“, sagt er. Er steht vor seinem Laden. Die Kinder von heute, vor allem die im Osten, sagt Morgner, wünschen sich keine Tiere mehr. Soll er jetzt auch noch Gameboys verkaufen? Kopfschüttelnd schließt er auf. Er kommt nicht weg von hier. Aber ist das noch seine Welt?
Nadja Klinger