Der Tagesspiegel, Januar 2007
Rote Zahlen, der Gedanke an Selbstmord - das letzte Jahr war schwer für Heidi Hetzer, Berliner Opel-Händlerin und Dame der Gesellschaft. Aber aufhören? Über das Gewicht von Pflicht.
Kaum hatte die Chefin den Hörer aufgelegt, war es, als würde das Mobiliar, die Fotografien an den Wänden, die Pokale und Andenken in den Regalen schlagartig aufhören zu existieren. Als wären diese Dinge nun gestorben. Heidi Hetzer stand hinterm Schreibtisch am Fenster. Draußen auf der Stadtautobahn wälzten sich Fahrzeuglawinen vorbei. Alles hier im Büro hatte mit Autos zu tun. Autos, das war ihr Leben gewesen. Jetzt war da dieses Telefongespräch.
Ihre Angestellten beobachteten sie. Sie kam die Treppe vom Büro herunter, ging durchs Autohaus mit ihren kleinen Schritten. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, zog sie an den Modellen vorbei, die zum Verkauf bereitstanden. Sie, die 1937 ins Unternehmen des Vaters hineingeboren worden war, die das Opel-Symbol an der Kette um den Hals trug wie ein Sternzeichen, ließ Astras, Vectras, Corsas hinter sich. Sie rannte weg.
Ein Kollege, der das beobachtete, rief ihre Tochter an. Er schickte sie der Mutter hinterher. Zum Glück. „Ich wollte vom Balkon springen“, sagt Heidi Hetzer. Der Satz ist kurz. Im Nu setzt er ihre leuchtend blauen Augen mit den getuschten Wimpern unter Wasser. Obwohl die Geschichte ein Jahr her ist.
Es ging um ein Grundstück, das Hetzer seit 25 Jahren gepachtet hatte. Jetzt sollte es verkauft werden. Die einzige Einfahrt zum Autohaus führte drüber weg, fast alle ihre Wagen parkten dort. Sie musste das Grundstück dringend erwerben, wenn sie ihr Unternehmen weiter betreiben wollte. Am Telefon erfuhr sie: Es gab einen anderen Käufer. Sie hätte bedenken können, dass sie bald 70 sein würde und sowieso langsam aufhören sollte zu arbeiten. Doch ihre Gedanken rasten auf den Moment zu, da sie den Angestellten mitteilen würde, dass sie die Arbeit verlieren. Ein Leben lang hatte sie den Moment gefürchtet. Es ging nicht um drei Autohäuser in Steglitz, Charlottenburg und Mitte. Es ging nicht um Geld, sondern um Erbe und Verantwortung. Um 130 Angestellte und ihre Familien, deren Schicksal in ihren Händen lag. „Es ging um das Wichtigste, was ich besitze“, sagt sie, „um den Verlust der Ehre.“
Es gibt viele Geschichten von Heidi Hetzer. Die kleine, fröhliche Blondine, Rallyefahrerin, ist ein Berliner Gesicht. Zeitungen berichten, welche Partys und Filmpremieren sie besucht. Einmal hat sie sich bei einer Rallye überschlagen. Man holte sie schwer verletzt aus dem brennenden Wrack. Nach drei Operationen meldete die Presse, dass Heidi Hetzer von Thüringen in ein Berliner Krankenhaus verlegt wird. Im Sommer 2004 hat sie die olympische Flamme durch die Stadt getragen. Mit der Flamme sei sie die wichtigste Frau der Welt, sagte man ihr. Ein Motorrad fuhr neben ihr her. Fackel in die andere Hand!, schrie der Fahrer. Sie nahm die Sache ernst. Ließ sich dirigieren, rannte. Langsamer!, schrie der Fahrer. Sie kam viel zu früh ans Ziel. Die traurige Geschichte von der verlorenen Ehre passt nicht zu ihr. Sie ist eine, die siegt. Das mit der Ehre passt nicht zu ihrer Zunft. Heidi Hetzer ist Unternehmerin.
Von Unternehmen in Deutschland hört man anderes. Es geht um undurchschaubare Verträge, Preiserhöhungen, Gerichtsvollzieher, die Kunden besuchen. Manche Unternehmergeschichten sind Atem raubend. Ein Personalvorstand schmiert den Betriebsratsvorsitzenden mit 200 000 Euro und bezahlt ihm eine Geliebte. Ein Vorstandssprecher meldet die Rekordzahlen seiner Bank, gibt zugleich den Abbau von 6000 Arbeitsplätzen bekannt. In dem Jahr, da das Arbeitslosengeld II über die Bevölkerung kam, soll jener Mann 11,9 Millionen verdient haben. Kürzlich stand er wegen Untreue vor Gericht. Ein Konzern schließt aus Finanznot seine Handysparte, zugleich genehmigt sich der Vorstand eine Gehaltserhöhung von fünf Millionen Euro. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Korruption, Leute aus der Führungsetage werden verhaftet.
In Geschichten, die aus der Unternehmerzunft zu uns dringen, kann Ehre nicht verloren gehen, weil gar keine Ehre drin vorkommt. Oft jedenfalls.
Ende 2006 verfasst Heidi Hetzer im Büro Feiertagspost an die Belegschaft. Sie trägt ihr saftiggrünes Kostüm mit dem engen Rock. Der blonde Pony wellt sich über die Stirn. Sie zupft nervös daran. Anstatt nach Worten zu suchen, würde sie lieber durchs Haus gehen, nach dem Rechten sehen. Wenn sich irgendein Rädchen nicht dreht, bleibt sie genau dort stehen und fragt nach. Angestellte bezeichnen das als Talent. Es macht kaum Spaß, mit dem Talent konfrontiert zu werden.
Beim Reden lässt Heidi Hetzer die Worte einfach los. Wartet kurz, was geschieht, jagt Worte hinterher. Mit Erklärungen gibt sie sich nicht zufrieden. Ist alles gesagt, fügt sie was hinzu. Ein Gespräch mit ihr gleicht einer Testfahrt auf der Autobahn: Sie gibt Gas, immer mehr, denn erst ab 150 Kilometern pro Stunde lassen sich Unwuchten feststellen. In der Buchhaltung trifft es das Lehrmädchen. Es hat gestern die falsche Marke auf einen Brief geklebt, der kam heute zurück. Ausgerechnet die Chefin hatte ihn zur Post gegeben. Das reicht als Strafe. Aber Heidi Hetzer wedelt mit dem Umschlag. „Sie können doch wohl Post nach Westdeutschland schicken, oder ist das zu viel verlangt?“ Das Mädchen steht stumm. „Jetzt wissen Sie, warum Sie Lehrling heißen“, sagt die Chefin. Außer ihr lacht niemand.
Im Ausstellungsbereich stehen Gebrauchtwagen, die seit Wochen keiner kauft. „Die stehen rum, weil Sie sich nicht engagieren“, sagt Heidi Hetzer zum Verkaufsleiter. „Das stimmt nicht“, erwidert der. „Doch“, sagt sie. „Die gehen weg“, sagt er. „Und wie?“, fragt sie. „Senken Sie die Preise, oder beten Sie jeden Abend?“
Irgendwann fiel ihr auf, dass Kollegen, mit denen sie geredet hatte, tags darauf fehlten. Sie hatten die Art ihrer Chefin nicht verkraftet. Hetzer, die Tempomacherin, ließ sich zurückfallen. Sie bat Kollegen, an ihrer Stelle zu reden.
Mit 21 Jahren hat sich die Tochter von Siegfried Hetzer aus dem Autohaus, das er 1919 gegründet hatte und in dem sie groß geworden war, davongemacht und eine Autovermietung eröffnet. Das Geld borgte sie von seinen Angestellten. Daraufhin brachte der Vater ein Schild an: „Für Schulden meiner Tochter komme ich nicht auf.“ Bis sie getilgt waren, ging sie noch in einer Zigarettenfabrik arbeiten. Später wurde sie für 1000 Mark im Monat Vaters Sekretärin. Investiere, sagte sie zu ihm, kauf das Grundstück, auf dem wir sitzen! Schulden machen wir nicht, antwortete er. Eines Tages investierten andere. Hetzer wurde aus der Bismarckstraße vergrault.
In Charlottenburg fand sich ein Haus samt Grundstück. Siegfried Hetzer nahm einen Kredit auf. Als er kurz darauf starb, erbte seine Tochter vier Millionen Schulden. Sie war 31, lief durchs Autohaus und bat darum, sie nicht mehr Heidi, sondern Frau Hetzer zu nennen. „Fortan hatte ich Angst, etwas falsch zu machen und pleitezugehen“, sagt sie. „Fortan bis heute.“
Das Gefühl, Unternehmerin zu sein, war blitzartig da. Es ließ nicht locker. Es kam abends mit nach Hause, legte sich mit ins Bett. Nachts stahl es den Schlaf, stellte Fragen: Hast du die richtige Entscheidung getroffen? Hast du was vergessen? Vom Vater wusste sie alles über Autos, viel übers Wirtschaften. Dass ein Handschlag unter Unternehmern etwas zählt. Dass die Firma vor allem die Leute sind, die hier arbeiten. Manche hat noch der Vater eingestellt. Sie rutscht mit dem Finger über die Mitarbeiterliste, stoppt hier und da, wie an Sehenswürdigkeiten. Ein Mann hat 1956 angefangen, andere sind seit 1961, '64, '71 da. Sie merkt, dass die Älteren abbauen, schneller kaputt sind. Sie ist stolz, sie noch immer bei sich zu haben. „Das ist schön doof, die wirst du nie wieder los“, sagen andere Unternehmer zu ihr.
„Ich hab mich lange wie Vatis Kind benommen“, sagt sie. Aus Dankbarkeit für den Viermillionenkredit blieb sie Kundin der Bank, die ihn vergeben hatte, obwohl sie dort viel zu viele Zinsen zahlte. Es verging Zeit, eh sie begriff, dass ein Handschlag eher ein Risiko ist. „Wenn die Zeiten schlechter werden, muss man mit den Wölfen heulen“, sagt sie. „Man kann aber trotzdem Anstand behalten.“ Ihren Kindern müsste sie heute sagen, dass es überhaupt gar keinen Handschlag mehr gibt. „Soll ich ihnen ihr Vertrauen ausreden?“, fragt sie sich. „Vertrauen, das ist doch Lebensqualität.“
Weder die 38-jährige Tochter will Opel-Hetzer übernehmen noch der 35-jährige Sohn. Er hat erneuerbare Energien studiert. „Er will was für die Welt tun, weil die sonst untergeht. Schöne Sache“, sagt seine Mutter. „Autos passen da nicht rein.“ Wenn sie 70 ist, wird ein Geschäftsführer ihre Arbeit übernehmen. Tochter und Sohn sollen die Chance haben, noch mal zu überlegen.
Auf einem Motorroller ist Heidi Hetzer 1953 die erste Rallye gefahren. Ihr Büro ist voller Trophäen. Sie fuhr über Mallorca, von Sylt nach Hamburg, 1000 Meilen von Brescia nach Rom und zurück. 1989 wurde sie Dritte bei der Tour d' Europe, ein anderes Mal gewann sie mit dem Damenteam. Eine Rallye ist wie ein Unternehmen führen. Straßen, Wege sind unbekannt, Höchstgeschwindigkeit ist selten möglich, da es Hindernisse und Verkehrsregeln gibt. Man muss die Karte lesen, Entfernungen berechnen, den Überblick behalten. Man braucht einen fähigen Beifahrer. Heidi Hetzer hat viele ausprobiert. „Die meisten sind schlecht“, sagt sie.
Der Rennverlauf von Opel-Hetzer ist nachzulesen in Tabellen auf Papier, das aneinandergeklebt wurde. Wie ein welker Zeitstrahl liegt die Unternehmensgeschichte auf dem Tisch. Mitte der 60er wurden jährlich bis zu 1200 Autos verkauft. 1969, als Siegfried Hetzer starb, waren es 1600 Wagen. In den nächsten 20 Jahren ist der Verkauf nicht gestiegen. Das waren die Jahre, in denen Heidi Hetzer den Kredit abzahlte und zwei Kinder zur Welt brachte. Es waren die Jahre, in denen ihr Ehemann, der in Berlin eine Bowlingbahn besaß und auf keinen Fall der Mann vom Autohaus sein wollte, ihr ab und zu einen Rat gab. Entschieden hat sie immer allein. Mitunter ging es um herbe Verluste und drohende Insolvenz. Jede Entscheidung hatte Folgen. Die wagemutige Sekretärin von einst, die den Vater kritisiert hatte, knüpfte ein Netz aus Prinzipien, das ihr half, die Last der Verantwortung zu tragen: Nichts auf morgen verschieben! Nachts im Kopf die Ereignisse des Tages überdenken! Vorsicht, eine Nachlässigkeit kann der Untergang sein!
Wurden 1989 noch 1342 Autos verkauft, waren es 1990 weit mehr als das Doppelte. Die untergehende DDR, die faktisch vor der Tür von Hetzers Autohaus lag, rüstete auf. Schon ein Jahr später stürzte die Verkaufszahl wieder. 1995 waren es wieder 1323 Wagen. Dann ging es wieder bergab. Ende 2006 will Heidi Hetzer 1000 Autos verkauft haben. Die Preise auf dem Berliner Markt sind am unteren Limit, in Ostdeutschland wird noch billiger verkauft.
Sie handelt mit Gebrauchtwagen und Ersatzteilen, in ihren Werkstätten repariert man jeden Typ. Sie bräuchte mehr Platz. Umbauen hieße investieren. Sie bräuchte knapp drei Millionen. Hieße: Kredit. Das will sie nicht. „Ich bin jetzt auch wie Vati“, sagt sie.
Milk die Kuh, solange sie Milch gibt, hat der Vater gesagt, wenn nichts mehr kommt, dann schlachten! Nach den letzten zwei Jahren müsste die Tochter kurzen Prozess machen. Stattdessen spricht sie mit zwei Mitarbeitern, die zur wöchentlichen Besprechung in ihr Büro kommen, über die Feiertage. „Ich will jedem 300 Euro Weihnachtsgeld geben“, sagt Heidi Hetzer. Weihnachtsgeld gehört für sie zum guten Ton. Seit zwei Jahren schreibt sie rote Zahlen. Eigentlich kann sie sich den guten Ton nicht mehr leisten. Sobald die Buchhaltung leer ist, sagt sie zu einem der Männer, soll die Heizung abgedreht werden. An den Feiertagen würde sie gern öffnen. Aber was, wenn's schneit und die Leute in den Wald gehen und nicht ins Autohaus? Bei Schnee müsste der Winterdienst bestellt werden. Heidi Hetzer seufzt. Der ist teuer und kostet auch, wenn keine Flocke fällt. „Soll ich aufgeben, wenn ich noch nicht pleite bin?“, fragt sie. „Ich hab keine persönlichen Wünsche, will nur Miete und Mitarbeiter bezahlen.“ Sie steckt das Geld, das sie angespart hat, ins Geschäft. „Dann erben meine Kinder eben nichts“, sagt sie.
Auch wenn Heidi Hetzer mit sich selbst redet, gibt sie ordentlich Gas. „Hab ich am Ende alles, was ich erarbeitet habe, verballert?“ Sie wartet die Antwort ab. „Ja. Ich bin mit nichts gekommen. Wenn ich sterbe, ist alles wieder weg.“ Und weiter geht's: „Heidi, du hast mindestens 40 Jahre lang weit über 100 Familien ernährt.“ Die Erklärung stellt sie nicht zufrieden. „Das ist eine Ausrede! Es gibt ja Leute, die Millionen erwirtschaftet haben.“ Nein, sie ist auch mit sich selbst ungnädig. „Ich schäme mich“, sagt sie.
Nach dem Abend vor einem Jahr, als die Tochter sie davon abgehalten hatte, vom Balkon zu springen, hat Heidi Hetzer wieder nachts nachgedacht. Am Morgen schrieb sie Briefe an den Grundstücksbesitzer, der den anderen Käufer bevorzugt hatte. Sie drohte mit einem Zeitungstext, der von 130 Leuten berichtet, die ihre Arbeit verlieren. Sie rief beim Opel-Chef an und sagte: „Wenn Sie wollen, dass Firma Hetzer weiter existiert, müssen Sie mir jetzt helfen.“ Der Satz fiel ihr verdammt schwer. Sie hält es für unter ihrer Würde, um Hilfe zu bitten. Das überlebenswichtige Grundstück an der Knobelsdorffstraße hat sie letztlich gekauft. Der Preis war viel zu hoch, was die Euro betrifft. Es war der Preis fürs Überleben.
Nadja Klinger