„Einmal im Leben“, Merian 2012
Es ist höchste Zeit. Das Streulicht der Abenddämmerung verhüllt die Kontraste des schroffen Felsens. Seit dem frühen Morgen sind sie am Berg unterwegs. Robert voran, Daniela ihm auf der Spur. Obwohl er eigentlich gar keine Spur hinterlässt. Jedenfalls nichts, was ihr das Klettern erleichtert.
Sie benutzt die eigenen Muskeln. Profitiert von ihrer Ausdauer. Vom Konzentrationsvermögen. Von ihrem Talent, die Füße sicher aufzusetzen, mit den Händen geeignete Stellen zu finden und sich eventuell nur mit den Fingerkuppen festzuhalten. Für heute jedoch sind Danielas Energiereserven so gut wie aufgebraucht. Auch Robert ist im Zustand eines fast leeren Akkus. Höchste Zeit, dass sie sich schlafen legen.
Sie müssen nur noch das Bett machen. Sozusagen. In das Lager, das sie errichten, würden sich die meisten Menschen niemals hineinbegeben. Es ist aus gelbem, reißfestem Stoff gemacht. Vor allem aber besteht es aus Vertrauen in einen sechs Zentimeter langen und zehn Millimeter dicken Metallhaken. Aus der Erfahrung mit dem Gestein, dem Wissen um physikalische Kräfte. Sie verspannen es zu einer Art Zelt. Es schaukelt, als sie sich hineinlegen, es schaukelt, wenn sie sich drinnen bewegen. „Wir können uns ausstrecken, anstatt die Nacht auf einem abschüssigen Felsvorsprung angegurtet in der Hocke zu verbringen“, sagt Daniela. „Es ist Luxus.“ Es ist sinnbildlich für das, was sie und Robert mit einander verbindet: Lust auf eine Affäre mit der Gefahr.
Wie ein großer, gelber Einkaufsbeutel hängt in einer Augustnacht 1999 ein Biwakzelt am Genfer Pfeiler, einer überhängenden Felspartie, die wie ein Schiffsbug aus der steilen Nordwand des 3970 Meter hohen Eiger in den Berner Alpen ragt. Drin schlafen Daniela und Robert Jasper. Auf ein paar Millimetern Stoff und über 700 Metern Abgrund. Den Metallhaken, an dem ihr Lager hängt und damit ihr Leben, hat Robert angebracht. Er hat einen Spalt in der Wand gefunden. Den Felskörper abgeklopft, um hineinzuhorchen. Es hat sich auf das Geräusch konzentriert, das beim Einschlagen des Hakens entstand. Pling, pling. pling. „Immer der gleiche Sound“, erinnert er sich. „Das bedeutet: alles gut.“
Daniela wurde 1971 geboren. Sie ging in Schopfheim im Südschwarzwald zur Schule, War 16, als sie ein paar Jungen zum Sportklettern folgte. Sie band das blonde Haar im Nacken zum Zopf, damit es sich nicht im Karabiner verfing. Mit 19 kletterte sie die höchsten Schwierigkeitsgrade. Sie studierte in England, um Lehrerin zu werden. Mit 21 bekam sie einen Sponsoringvertrag angeboten. Er ermöglichte es ihr, vom Klettern zu leben. „Profibergsteigerin ist kein Beruf. Man ist eine finanzierte Athletin. Man braucht die Öffentlichkeit“, sagt sie. „Aber das war eigentlich nicht das, was ich geplant hatte.“
Ihr Name ist bekannt. Sie zählt zu einer Elite von Bergsteigerinnen. Die Öffentlichkeit, für deren Kameraaugen sie mitunter zwei blonde Zöpfe flicht, die das Mädchen unterm Helm eindeutig erkennbar machen, meint es gut mit ihr. So kann man's sehen. Daniela sagt: „Frauen werden im Bergsport nicht wirklich wahrgenommen.“ Sie ist meist mit Robert unterwegs. Sie gerät ins Blickfeld. Aber was sieht man, wenn man sie sieht? Da zieht ein Mann die Frau die Wand hoch? „Ich klettere in seinem Schatten. Die Leistungen werden wohl ausschließlich ihm zugeschrieben.“
Robert, 1968 geboren, verbrachte schon als kleiner Junge den ganzen Tag im Freien. Er stieg auf Bäume, raste auf Skiern bergab, erklomm mit zehn Jahren am Seil seine erste Wand. Klettern wurde zu seiner Lebenshaltung, Kletterer hatten lange Haare, trugen robuste Kleider, waren auf Abenteuer aus, auf Freiheit. Sie trafen sich nicht im Gasthaus, sondern unterm Himmel am Felsen. „Heute gibt's welche, die Steuerberater oder Anwalt werden und im Anzug rumlaufen“, sagt Robert. „Das war einst unmöglich.“ Er wurde Berg- und Skiführer.
Vor 18 Jahren war er mit einem Seilpartner im Basler Jura unterwegs. Plötzlich regnete es in Strömen. Sie flohen. Aber nicht nach Hause, sondern an einen Felsen, der überhing und daher nicht nass wurde. Dort kletterte auch Daniela mit einem Freund. „Sie sah wunderschön aus in der Wand“, sagt Robert. „Wie ein Engel.“ Er verriet ihr nicht, dass er 1991 innerhalb eines Jahres solo durch die drei größten Nordwände der Alpen - des Eigers, des Matterhorns und des Grandes Jorasses - gestiegen war. Stellte sich als Bergführer vor. Sie erwiderte: „Ich würde gern mal in die Alpen.“
Sie wurden ein Liebespaar, das andere Wege nahm als andere Paare. Wege, die über die Vertikale führten und in Seillängen und Schwierigkeitsgraden vermessen wurden. Die nicht unbedingt dafür geschaffen waren, überhaupt einen Menschen passieren zu lassen.
Unterwegs sprachen sie nicht viel. Sie hörten einander atmen. Erfuhren beizeiten, wie der andere sich benimmt, wenn es schwer wird: wenn Sturm aufkommt, die Temperatur die Konsistenz eines Planes verändert, Möglichkeiten schwinden. Während sie in Basislagern hockten und auf besseres Wetter warteten, schnappten Zweifel nach Daniela. Sie sah den Felsen hinauf und haderte mit ihren Kräften. Robert ertrug es sowieso kaum, die Wand zu sehen, ohne sie anpacken zu können. Sie brachten einander dazu durchzuhalten. Und sie ermunterten sich abzubrechen. „Umkehren gehört zum Vorwärtskommen dazu“, sagt Robert, „Scheitern ist lediglich eine Frage des Empfindens.“
Die Hochzeitsreise verbrachten sie in der 900 Meter hohen, steil überhängenden Wand des Vagakallen, einem Berg aus gelbgrauem Granit, der vor der norwegischen Küste aus dem Europäischen Eismeer ragt. In den Alpen stiegen sie in Felsen und über gefrorene Wasserfälle. Im Steileis nahmen sie die schwierigsten Routen Europas, wagten Erstbegehungen, wurden Pioniere genannt. Daniela kletterte dreimal durch die berüchtigte Eigernordwand. Robert ist über 100 der schwierigsten Routen in den Alpennordwänden solo geklettert, kam 17 Mal durch die Eigernordwand, war in Patagonien unterwegs, im Himalaja, in Alaska. 2003 wurde er von einem deutschsprachigen Klettermagazin zum weltweit erfolgreichsten Mixedkletterer gekürt. Zahllosen Routen hat er Namen gegeben.
Die Route am Vagakallen heißt „Freya“ wie die nordgermanische Göttin der Liebe. Die Eigerroute, auf der die Jaspers 1999 eine Nacht im gelben Hängebiwak verbrachten, war die schwierigste, die bis dahin je in einer Nordwand geklettert worden war. Sie nannten sie „Sinfonie de Liberté“. Auf einer Klettertour, die einst fast geplatzt wäre, weil ihnen beim Aufbruch daheim ihr Kater nicht von der Seite wich, legten sie die Route „Hodger“ in den Fels. So hieß das anhängliche Tier, das sie kurzerhand mitgenommen hatten.
In Jaspers Küche im Haus in den hügeligen Wiesen am Rande von Schopfheim steht ein riesengroßer Holztisch. Daniela gießt grünen Tee auf, bringt einen Korb mit Brezeln, Butter und Messer. Als sie zu essen beginnt, holt Robert Teller, schiebt ihr einen unter. „Wir sind doch nicht am Berg“, sagt er.
Wie einst Robert steigen Stefan und Amelie, acht und sechs Jahre alt, auf Bäume. Entdeckt Daniela die Kinder weit oben, bleibt sie ruhig, weil nur Ruhe Sicherheit gibt. Robert erklärt ihnen, dass Birnbaumholz schnell bricht. Dass sich junge Nussbäume für Ausflüge in die Höhe sehr gut eignen. Die Ehe der Jaspers ist von der Lebenshaltung der Bergsteiger inspiriert. „Bei uns gibt's keine Rollenverteilung zwischen Mann und Frau“, sagt Daniela. „Man geht durchs Leben wie durch eine Kletterroute. Jeder muss für das, was gerade ansteht, Verantwortung übernehmen.“
Zugleich spielt sich das Zusammenleben der beiden auf dem Boden der Realität ab. Auch nachdem er Vater wurde, fabriziert Robert in den Felsen weiterhin Höchstleistungen. Er bricht Schnelligkeitsrekorde. Begibt sich in Höhen und Extremsituationen. Reist nach Patagonien, legt eine neue Route in die Nordwand des Cerro Murallòn. Erklimmt den 3128 Meter hohen Cerro Torre, obwohl bereits ein Sturm naht, dem er dann in einem 32-Stunden-Marsch gerade noch so entkommt. In Alaska steigt er innerhalb von vier Tagen zweimal auf den 6194 Meter hohen Schlechtwetterberg Mount McKinley und kämpft auf zwei Routen gegen das Erfrieren. Nach wie vor steht er in der Öffentlichkeit. Sein Publikum bekommt spannende Geschichten. Er übt seinen Beruf aus. Lebt seine Leidenschaft.
Einst auf der Hochzeitsreise stand Daniela am Vagakallen auf einem Felsvorsprung in der Wand, um ihren Mann, der voran kletterte, zu sichern. Es dauerte. Sie wurde müde und fror. Es fiel ihr schwer, sich nicht zu bewegen. Das ist auch jetzt so. Doch die Mutter bleibt mit den Kindern zu Hause. Wartet auf Roberts Rückkehr. Hat plötzlich Angst um ihn. Lässt sich nichts davon anmerken, wenn er mit dem Satellitentelefon anruft. „Ich halte ihm den Kopf frei“, sagt sie. Daniela, die erfolgreiche Bergsteigerin, sichert die Route der Familie durchs Leben.
Wegen der Kinder werden sie extreme Touren sobald nicht zusammen unternehmen. Das scheint vernünftig zu sein. Doch fahren sie Auto und fliegen auf Vortragsreisen. Dort reden sie über Risikomanagement. Auch Firmen riskieren etwas, auch Geschäftspartner sind eine Seilschaft. Jaspers erzählen, dass man gegenseitig die Ausrüstung kontrollieren sollte, vor allem den Knoten am Gurt des anderen.
Sie rechnen vor: Wer fünf Meter überm letzten Haken ausrutscht, stürzt zehn Meter in die Tiefe. Sie erklären, dass man auf keiner Tour alles richtig macht. Dass nicht lange lebt, wer nicht hinterher über die Fehler spricht. „Grenzgänge sind gar nicht so gefährlich, weil man sie bis ins kleinste Detail kalkuliert. Angst macht vorsichtig. Man lernt sich selbst kennen und kann sich in Grenzsituationen angemessen verhalten“, sagt Robert. „Wer am Berg in die Tiefe guckt, sieht den Tod. Beim Autofahren sieht man ihn nicht.“
Vor ein paar Jahren, Amelie war grad geboren, übernahmen er und Daniela Hauptrollen im IMAX-Film „Die Alpen“. Von Kameras beobachtet, mit Tontechnik ausgestattet stiegen sie erneut durch die Eigernordwand. Das amerikanische Filmteam hatte seine Vorstellungen von der Dramatik dessen, was passierte. Das Drehbuch sah vor, dass Daniela an Rückenschmerzen leidet. Dass Robert sie auf dem Gipfel überredet, sich vom Berg holen zu lassen. Sie befestigte das Seil, das der Hubschrauber herabließ, an ihrem Körper, ließ sich wie eine Figur aus dem Spiel nehmen und winkte ihrem Mann. Sie hätte protestieren können: Sollte Robert doch Rückenschmerzen haben! Jedoch befand sie sich in einer merkwürdigen Distanz zum Geschehen. Unten im Tal warteten zwei Kinder auf die Mutter. „Um meine Rolle am Berg zu streiten, war mir plötzlich nichts wert.“
Ein Paar, das am Berg miteinander arbeitet, hat es schwerer als andere Seilschaften. Der Toleranzvorrat ist schneller aufgebraucht. Meinungsverschiedenheiten wiegen wie Gepäck. Emotionen stören, denn der Kopf muss frei sein. Robert sagt: „Ich möchte etwas leisten und mich mit anderen messen.“ Daniela sagt: „Wichtig ist mir zu wissen: Ich kann's auch ohne Robert.“
Auf seiner Homepage gibt's ein kleines Videofenster. Man sieht: Felsen, Schnee, Steilheit, Abgrund. Roberts Fingerkuppen am Gestein, die Füße, die in Kletterschuhen den Berg berühren, als würden sie mit ihm eine Verbindung eingehen. Das Video ist eine Visitenkarte. Robert zieht den Schlitten mit Expeditionsmaterial durchs Eis in die unendliche Weite. Robert wendet sich auf einem Gipfel einer kleinen Person mit weißem Helm und zwei blonden Zöpfen zu. Sie umarmen und küssen sich. Und: Robert klettert an einem tonnenschweren, fast zehn Meter langen Eiszapfen, der am Fels hängt wie unter einer Tischplatte. Er holt mit dem Eispickel aus, um sich Halt zu verschaffen. Da bricht der Zapfen. Stürzt mit ihm in den 100 Meter tiefen Abgrund.
Am Tag bevor das Unglück geschah, waren er und Daniela viele Stunden lang einen extrem schweren Wasserfall geklettert. Um sich filmen und fotografieren zu lassen, wagte sich Robert noch einmal an den Eiszapfen, den sie beide während der Tour passiert hatten. Um ihren Mann zu sichern, hing Daniela am Standhaken in der Wand. Zwar hatten sie am Vortag Zwischensicherungen im Zapfen angebracht, doch beschlich sie plötzlich ein beunruhigendes Gefühl. Es gab keinen sichtbaren Grund, doch ihr schien, als hätte sich das Eis über Nacht verändert. Sie rief ihren Mann.
Robert erinnert sich: „Ich habe keine Eisschrauben eingedreht, weil Daniela es plötzlich so wünschte.“ Sie erinnert sich: „Obwohl es nur ein Bauchgefühl war, habe ich ihn gezwungen, zehn, fünfzehn Minuten relativ ungesichert zu klettern.“
Gleich zweimal hat er den Absturzmoment im Video verarbeitet. Wäre er mit Schrauben verankert gewesen, wäre er wohl mit dem Zapfen bis ganz nach unten gestürzt. Vielleicht hätte er auch Daniela, an deren Seil er überlebte, dann in die Tiefe gerissen. Zweimal stürzt er aus dem Bild. Zweimal verschwindet er quasi aus seiner eigenen Homepage. Zweimal eine Schrecksekunde, dann bricht die Sequenz ab. Denn glücklicherweise war da noch seine Frau.
Nadja Klinger