Der Tagesspiegel, 26.08.2011
Vater, Mutter, Kind - so einfach wäre das. Aber so einfach ist es oft nicht mehr. Nach Scheidungen gibt es nicht selten Streit, Wut und verzweifelte Zweikämpfe zwischen den Eltern. Dann ist Hilfe von außen nötig: Wer darf wen wann sehen?
Der Mann und die Frau mit dem Notizblock sitzen in einem Garten bei Münchehofe, südlich von Berlin. Am Tisch unterm Vordach der Laube. Überm Dach hängt der Augusthimmel. Grau. Wolkenschwer. „Was schreiben wir?“, fragt die Frau. „Kino“, sagt der Mann.
Sie notiert das Wort. Er zieht an einer Zigarette. „Und?“, fragt sie. Ein Regentropfen fällt auf den Rasen. „Schwimmbad“, sagt er. Verzieht das Gesicht zum Fragezeichen. Zuckt mit den Schultern. Jetzt stehen zwei Worte auf dem Papier.
„Und?“ Immer mehr Regen. Die nächste Zigarette. Die Frau drängt. „Wenn eine Fee vorbeikäme, und Sie hätten drei Wün...“ Der Mann fällt ihr ins Wort. „Hier?“ Er verschluckt sich an der Frage und hustet. „Hier kommt doch keine Fee vorbei!“
Dann aber fällt ihm doch noch was ein. Sie schreibt: Eis essen. Drei Worte haben sie, drei bescheidene Wünsche. Die Frau wird sie der Tochter des Mannes vorlegen sowie deren Mutter, seiner Exfrau. Die beiden sollen entscheiden, was der Vater und die 14-Jährige am übernächsten Samstag gemeinsam unternehmen. Er weiß, sie würden alles ablehnen. Wenn es nicht doch so was wie Zauber gäbe.
Jahrelang hat seine Exfrau verhindert, dass er und seine Tochter sich sehen. Gutachten wurden erstellt, Prozesskosten erstattet. Sozialarbeiter, Jugendamt und Gericht fanden keine Beweise für die Anschuldigungen der Frau gegen den Vater. Dennoch sind die Worte Vergewaltigung und sexueller Missbrauch mittlerweile das Einzige, was das Kind noch mit ihm in Verbindung bringt. Er sagt, er habe ihr Laufen beigebracht, Fahrradfahren und Schwimmen. Bevor er sich von ihrer Mutter getrennt habe, sei sie ein Papakind gewesen. Heute nennt sie ihn: „der Arsch“. Nun hat eine Familienrichterin den unheilvollen Verlauf der Ereignisse gebremst. Wer ab jetzt auch nur einmal verhindert, dass Vater und Tochter sich regelmäßig sehen, zahlt 25 000 Euro Strafe.
Wenn Eltern sich trennen, lässt das Bürgerliche Gesetzbuch sie nicht einfach machen, was sie wollen. Unabhängig davon, wer das Sorgerecht hat: Dem Kind steht es zu, mit Vater und Mutter zusammen zu sein. Das sogenannte Umgangsrecht gilt auch für denjenigen, der fortan nicht mit dem Kind zusammenlebt. Bekriegen sich Paare nach der Trennung dauerhaft, anstatt sich abzusprechen, mischt sich der Staat ins Privatleben ein. Er schickt sogenannte Umgangsbegleiter. Mitarbeiter des Jugendamtes, des Kinderschutzbundes oder eines freien Trägers der Jugendhilfe sind anwesend, wenn das Kind beim anderen Elternteil ist, beaufsichtigen die Übergaben oder übernehmen sie gleich ganz, damit Vater und Mutter sich nicht begegnen.
Der Staat hat auch den Laubenbesitzer und die Frau mit dem Notizblock zusammengebracht. Der Mann musste sich erst daran gewöhnen, dass die Umgangsbegleiterin mit ruhiger Stimme seine äußerst beunruhigenden Angelegenheiten bespricht. Sie übt sich in Geduld, wenn er rauchend um Worte ringt. Schlecht sieht er aus. Er ist die tragische Figur in der Geschichte vom Verlust einer Tochter. „Wird schon“, sagt sie am Gartentor, bevor sie wieder in ihr Auto steigt. Ein Lächeln gerät ihm ins Gesicht, das erste an diesem Nachmittag, und es hängt schief. Er glaubt nicht dran, dass die Geschichte noch gut endet.
Das Auto von Cornelia Knöfel ist ein Taubenschlag. Ein Telefon vibriert immerfort. Nachrichten landen. Sie soll noch mal im Jugendamt Lübben vorbeischauen. Eine Pflegemutter in Straupitz möchte nicht, dass die Kinder am Wochenende schon wieder den Vater sehen. Ein Mann will mit der Tochter zusammen sein, hat aber kein Geld, um sie mit dem Bus von der Mutter in Mittenwalde abzuholen. Knöfel nimmt einen Schluck aus dem Becher, der rechts neben ihr steht, und achtet auf das andere Telefon, das sie durch den Landkreis Dahme-Spreewald navigiert. Der Kaffee ist kalt. Sie hat ihn heute Morgen zu Hause in Berlin aufgebrüht.
Sie ist 48 Jahre alt, verheiratet, und hat drei Kinder. Sie ist Sozialpädagogin, Erziehungsberaterin, Dozentin der Erwachsenenbildung und Chefin von „Familienbande Plus“, einer gemeinnützigen Truppe von Sozialpädagogen, die im Auftrag des Jugendamtes im brandenburgischen Dahme-Spreewald-Kreis dem Umgangsrecht auf die Sprünge hilft. Nachmittags, abends und an Wochenenden, immer wenn Eltern sich die Kinder überlassen, sind sie und ihre Kollegen auf Spielplätzen, in Kinos und Eiscafés zugange. Sie besuchen Zoos, den Zirkus oder das Spaßbad. Sie führen Elterngespräche und ringen mit Streitenden um verbindliche Absprachen. Sie stellen Hilfepläne auf und rasen am Weihnachtstag über Landstraßen, damit ein Vater in ihrem Beisein sein Kind beschenken kann.
An einem der wenigen schönen Sommersonntage dieses Jahres steht Cornelia Knöfel morgens in Luckau im Spreewald bereit, um die Übergabe eines kleinen Jungen zu übernehmen. Der Vater sitzt in ihrem Auto, als sie durch den Vorgarten geht und bei der Mutter klingelt. Das Kind steht schon bereit. „Hat se ooch die Zahnbürste einjesteckt?“, lässt sich der Exmann aus dem Auto vernehmen. „Ist die Zahnbürste im Rucksack?“, fragt Knöfels ruhige Stimme. „Na logisch“, faucht die Exfrau im Halbdunkel des Flurs. „Hat se wieder nich an die Krankenkarte jedacht?“ Der Mann im Auto randaliert wie ein eingesperrter Hund. „Die Krankenkarte doch sicher auch“, sagt Knöfel und lächelt zuversichtlich, obgleich das Kläffen des Vaters bis zur Haustür dringt.
Mit etwa 550 streitenden Elternpaaren ist der Landkreis befasst. Sie kommen aus allen Schichten der Bevölkerung. Ihr Benehmen ist in den Akten der Familiengerichtshilfen auf den Jugendämtern dokumentiert, sie selbst gehen in den Ämtern ein und aus. Noch vor acht Jahren gab man streitenden Eltern dort folgende Ratschläge: Reichen Sie sich die Hand, wenn Ihr Kind dabei ist, sagen Sie etwas zueinander, sehen Sie sich in die Augen! Heute hingegen führen Väter und Mütter erbitterte Zweikämpfe. Die verbalen Entgleisungen sind bedrohlich, der Respekt ist gleich null. Weil es das Internet gibt, braucht niemand mehr zu brüllen, damit die ganze Kleinstadt Bescheid weiß. Immer mehr Alkohol ist im Spiel, und gern wird auch mal mit gut gefüllten Waffenschränken gedroht. Heute, so sagt man im Amt, haben streitende Eltern ihr Kind aus dem Blick verloren. Immer öfter muss der sozialpsychiatrische Dienst alarmiert werden, weil das Wohl eines Kindes gefährdet ist.
Drei Kinder, deren Väter in den vergangenen Wochen im Jugendamt Lübben vorsprachen, waren noch nicht einmal geboren. Weil keine Vornamen eingegeben werden konnten, weigerte sich das Computerprogramm, sie überhaupt zu registrieren. Männer wollen mit zum Ultraschall gehen und bei der Geburtsvorbereitung dabei sein. „Sie wollen heute nicht mehr nur Beschützer, Verdiener, Unterhaltszahler, sondern wirklich ein Vater sein“, sagt Cornelia Knöfel. „Doch die Macht der Mütter ist ungebrochen. Auf Familiengerichten urteilen meist Richterinnen, in Jugendämtern sitzen vorwiegend Frauen. Will eine Mutter für ihr Kind sorgen, darf sie das, weil vorausgesetzt wird, dass sie es kann. Väter müssen es erst beweisen.“
Nur wenn Vater und Mutter zustimmen, werden in hochstrittigen Fällen Umgangsbegleiter eingesetzt. „Familienbande Plus“ übernimmt derzeit 20 Fälle: Eltern, die sich misstrauen und beschuldigen, die unter psychischen Problemen leiden, trinken, Drogen nehmen. Eine Mutter prügelt. Männer sind verzweifelt, weil sie ihre Kinder nicht zu sehen bekommen, Frauen leiden, da sie den Mann, der sie schlecht behandelt hat, nicht loswerden, weil er der Vater ihres Babys ist. Trennung bringt oft finanzielle Schwierigkeiten, meist dem, der mit dem Kind zusammenlebt. Ein Drittel des Streitpotenzials entsteht durch Armut. Drei Väter sind wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt. Verfahren laufen. Seit zwei Jahren, seitdem Knöfels Familienbande im Landkreis arbeitet, hat sich ein derartiger Verdacht aber nicht bestätigt.
Frau S., ein zartes, blondes Wesen, gerade 23 Jahre alt, hat den Streit im Gesicht. Sie ist verprügelt worden. Zwölf Tage ist das her, sie hatte selbst mehr als zwei Promille. Auch ihr Mann hatte gesoffen, dann war da noch der Ex, der ständig Stress macht, weil er seinen Sohn sehen will und keine Gelegenheit, die sie ihm bieten, recht ist. Es muss laut geworden sein. Jemand hat das Jugendamt gerufen, der Dreijährige und seine einjährige Schwester wurden zu einer Pflegemutter gegeben. Ein Gericht wird entscheiden, ob die Kinder zurückkommen. Heute dürfen die Eltern den Jungen und die gemeinsame Tochter für zwei Stunden sehen. Im Erdgeschoss eines Plattenbaus in Lübben hat die „Familienbande“ eine Wohnung eingerichtet. „Meine Frau braucht ein Taschentuch“, sagt Herr S., als Cornelia Knöfel die Tür öffnet. Der 28-Jährige trägt Sportsachen und wippt auf Turnschuhen wie einer, der loslaufen und sich selbst entkommen will. „Sie schämt sich so. Sie ist nicht mehr aus dem Haus gegangen. Ich musste sogar die Wäsche vom Balkon holen.“
In der Wohnung gibt es ein Spielzimmer. Der Junge lässt die Eltern beim Toben nicht aus den Augen. So oft sie können, versenken beide ihre Nasen in den weichen Haaren der Tochter. Die Umgangsbegleiterin sitzt am Boden und schaut der Familie zu, die es miteinander immer so schön wie jetzt haben könnte.
Zwei Stunden rasen vorbei. Bausteine, Bälle, Puppen, Matten und Kissen müssen aufgeräumt werden. Der Junge brüllt, als man ihm die Mütze aufsetzt. Er hört nicht mehr auf. Wie von Sinnen stürzt die Mutter ins Bad. Er soll die Tränen nicht sehen. „Er hat Tante zu mir gesagt!“, schreit sie, als das Auto der Pflegemutter mit den brüllenden Kindern vom Hof fährt. Seine Frau mit beiden Armen umklammernd versucht der Mann, sie zu beruhigen: „Nein, da hast du dich verhört!“ Cornelia Knöfel steht daneben. Erst nach einer Weile kommt ihre ruhige Stimme gegen die Eltern an. „Es ist doch gut so“, sagt sie. „Hätten die beiden nicht so geschrien, müsste ich mir Sorgen machen.“
In der Erdgeschosswohnung ist auch Raum, um Vätern und Müttern ungestört zuzuhören. Cornelia Knöfel hat Papier und Stift. Sie zeichnet: Mutter und Oma, die trinken. Einen Onkel, der prügelt. Einen Vater, der erst nach 17 Jahren im Leben des Sohnes auftaucht. Der seit zehn Jahren einen Besuch verspricht und bis heute nicht da war. Sie malt den Opa, der sich auf dem Dachboden das Leben nahm. Den Bruder, der ums Sorgerecht für sein Kind kämpfte, sich dann hinter der Garage erhängte. Als sie fertig ist, überreicht sie das Papier. Es sieht aus wie der harmlose Stammbaum der Familie S. und offenbart, dass Eltern und Kinder nicht nur Haarfarbe und Nasen, sondern auch unbeantwortete Fragen, Geheimnisse, Konflikte, Gewohnheiten, Krankheiten geerbt haben. „Ich will's nicht“, sagt Frau S. und schiebt ihre Familie weg. „Sie haben's in der Hand, ein paar Probleme zu lösen, die Ihre Verwandten nicht angepackt haben“, erwidert die Umgangsbegleiterin. „Es ist ein Geschenk.“
Auch der Mann mit der Gartenlaube bei Münchehofe kann noch mit einem Geschenk rechnen. Die Treffen mit seiner Tochter sind richterlich erzwungen. Cornelia Knöfel ist stets dabei, und es scheint, als wäre doch eine Fee vorbeigekommen. Als könnte zwischen Vater und Kind wieder etwas von dem entstehen, was mal war. Als könnte der Tag kommen, an dem das Kind zur Mutter sagt: Am Wochenende will ich zu Papa.
An einem Augustabend in der Küche der „Familienbande“. Herr F., ein Mann, der wie ein großer Junge aussieht, bereitet das Abendbrot zu. Vor einiger Zeit hat er seine Kinder von der psychisch kranken Mutter weggeholt und zu Pflegeeltern gebracht, weil er selbst seit der Trennung von ihr obdachlos war. Jetzt hat er zwar wieder eine Wohnung, aber dort sitzt er oft nur und kämpft mit Depressionen. Die Pflegeeltern wollen, dass er die Kinder, die er nur alle zwei Wochen sieht, zum Abendbrot zurückbringt. Aber er will das nicht. Er isst in der Erdgeschosswohnung mit ihnen. Aus einer Tasche holt er Hausschuhe und Sabberlatz. Und eine Liste der Lebensmittel, gegen die das Mädchen allergisch ist. Er studiert sie aufmerksam, wie eine Landkarte für unwegsames Gelände. „Oh“, sagt er. „Da kann ich die Nektarinen ja wieder mitnehmen.“
„Mama?“, ruft die kleine Nora. Sie läuft durch alle Zimmer der Erdgeschosswohnung. Cornelia Knöfel schüttelt mit dem Kopf. „Mama?“ Herr F. sagt: „Mama ist nicht da.“ Und seine Tochter weint. Er versucht, die Zweijährige hochzuheben, aber das gelingt nicht, weil er schon ihren kleinen Bruder auf dem Arm hält. Die Kleider der beiden passen nicht zu den ausgeleierten Socken und dem Schlabberpullover ihres Vaters. Sie leben jetzt in einem wohlhabenden Haus. Kürzlich hat das Jugendamt erfahren, dass die Pflegeeltern sich Mama und Papa nennen lassen. Ein Mitarbeiter ist hingefahren und hat vereinbart, dass das zu unterlassen ist. Dran gehalten haben die Pflegeeltern sich nicht. „Mama ist nicht da“, wiederholt Herr F. , das ist traurig. Noch trauriger ist: dass man nicht weiß, wen seine Tochter, wenn sie ruft, eigentlich sucht.
Cornelia Knöfel könnte helfen, den Abendbrottisch abzuräumen, aber sie rührt sich nicht. Herr F. soll es hinkriegen, dass zwei Kinder an ihm zerren und trotzdem das Geschirr nicht herunterfällt. Sie steht starr daneben, als er im engen Flur mit vier kleinen Schuhen, den Jacken und dem Gepäck jongliert. Sie wartet ab, bis er mit den Gurten in ihrem Auto klarkommt. Als sie bei den Pflegeeltern klingeln, hält er sich im Hindergrund, verschämt, als hätte er die Kinder heute Nachmittag gestohlen. Er müsste eine Therapie machen, seine Depression bekämpfen, das Sorgerecht beantragen. Er wäre kein wohlhabender, aber ein guter Vater. Der leibhaftige. Er winkt ab, wenn die Umgangshelferin ihm das vorschlägt. Er kann sich das nicht vorstellen. „Bitte!“, sagt sie. Das ist kein Wunsch. Sie braucht keine Fee. Sie arbeitet mit ihm. Sie wird ihn überreden.
Nadja Klinger