Auf unserem Friedhof steht unsere Bank: verrostetes Skelett, ramponierte Latten, auf denen man sitzen und an die man sich lehnen kann. Der morbide Anstrich dunkelbraun. Anders als wir, die mit dem neuen Tag schon morgens den Kampf aufnehmen, indem wir uns angemessen kleiden, die Pausen einlegen, um ihn zu unterbrechen, und die an der Überzeugung festhalten, ihm zur Nacht einfach den Rücken kehren zu können, lässt unsere Bank Tag für Tag einfach verstreichen.
Wir sind zu zweit. Sitzen nebeneinander und schauen. So wie Zuschauer in Parkett. Unsere Blicke wandern die Trampelpfade entlang, die zu den Verstorbenen führen. Gleiten über das Gras, das die Gräber säumt, die Erde, unter der die Toten verschwanden und die das Leben birgt: Erinnerung, Einsicht, Verlangen, Leid. Wir sehen Grabsteine, in die der Steinmetz seine Muskelkraft gegeben, und Inschriften, über die jemand nachgedacht hat. Währenddessen reden wir. Die Gespräche drehen sich um uns – was wörtlich zu nehmen ist, weil vieles, was wir zu bereden haben, nicht aus uns heraus, sondern irgendwie zu uns kam.
Unsere Sätze beginnen stets so: „Damals ...“, „Vor kurzem ...“ , „Gestern ...“, „Vorhin ...“. Wir sprechen darüber, was uns so passiert ist. Wir verwenden die Vergangenheitsform, aber das, wovon die Rede ist, beschäftigt uns gerade in diesem Augenblick. Wir fügen Gedanken hinzu, die plötzlich auftauchen, erheben Einwände, die wir eben noch gar nicht hatten. Wir vergegenwärtigen Gewesenes. Wägen ab, sortieren, zögern, werfen weg, was uns nutzlos erscheint. Und immer klammern wir uns an die Zukunft, an unsere Wünsche.
Wir saßen mit Mützen und Handschuhen hier und teilten durch die kahlen Baumkronen hindurch dem Himmel mit, dass wir langsam kalte Füße bekommen. Im Frühlingswind zogen wir die Reißverschlüsse der Jacken auf und legten den Bäumen ans Herz, sich doch auch endlich zu öffnen und die Blätter herauszulassen. Als das Laub da war, warf es Schatten, vor denen wir auf der Bank wegrückten. Eines Tages hatte ich Schokolade dabei. Ich brach Stücke, legte sie zwischen uns, auf eine der Latten, und als wir zulangen wollten, waren sie miteinander verschmolzen. Das war ein erstes Anzeichen des Sommers. Der Mitte des Jahres. Des Zentrums unserer Wünsche an das Dasein, das morgens schon hell sein, sich am Tage wie eine einzige große Pause anfühlen und uns in der Nacht mit seiner wohligen Kühle umfangen soll. Der, der auf dem Friedhof immer neben mir sitzt, sagte: „Ist das nicht schön.“ Kein Fragezeichen, sondern ein Punkt.
Das schicksalsträchtige Leben, da sind wir uns einig, besteht aus zahllosen schönen Augenblicken. Sackt man viele ein, trägt man das Glück mit sich herum. Warum also habe nicht auch ich gleich noch einen Punkt gesetzt? Ich erinnere mich, dass die Vögel lärmten und die Hummeln wie besoffen von Blüte zu Blüte taumelten. Ich erinnere mich, dass ich mit diesem Blick, der weiß, dass er immer nur den Übergang vom Vorher zum Nachher einfängt, die Sonne schon wieder hinter Wolken verschwinden sah.
Unsere Bank steht direkt neben zwei Grabstellen. Schwarze Steine auf Sockeln. Der linke ist schmaler und größer und hat gerade Seiten, der rechte ist kleiner, breiter und seine Kanten sind geschwungen. Die Steine sehen aus wie Mann und Frau. Wie ein ausgewogenes Paar: ER besiegt das Leben, indem er sich groß und eine gute Figur macht, SIE nimmt das Leben in sich auf und geht also aus dem Leim. Die beiden Grabstellen liegen etwa zwei Fußbreit auseinander, die Inschriften auf den schwarzen Steinen jedoch zeigen, dass sie zusammengehören: Paul und Horst, zweimal Alfred, Else, Renate, Gertrud und Ursula.
Gertrud, 1905 geboren, wurde 100 Jahre alt. Das sahen wir zuerst. Die Hundert ist selten. Eine Art Vollendung. Der Punkt. Die 100 ist das, wonach man auf Friedhöfen, in anderer Leute Leben, unweigerlich sucht. Hat sich Gertrud die 100 gewünscht? Ist sie, als der Wunsch erfüllt wurde, endlich zufrieden gewesen oder wurde ihr klar, dass sie mit dem Wünschen leichtfertig umgegangen war? Oder hat sie immer so gelebt, als hätte sie nicht mehr viel Zeit, und ist dann auch so gegangen, entkräftet und außer Puste?
Die Männer sowie Gertrud und Renate haben denselben Nachnamen. Gertrud könnte die Frau von einem der Alfreds gewesen sein, der 1900 geboren wurde. Dann hat sie ihn um vier Jahrzehnte überlebt. Waren das gute Jahrzehnte? Gab es Kinder, so dass Gertrud sich nicht ganz so allein fühlen konnte? Renate, die erst 1954 zur Welt kam, kann nicht die Tochter der beiden gewesen sein. Kam sie in die Familie, weil sie den anderen Alfred heiratete, einen zwölf Jahre älteren Mann, der verstarb, als sie gerade mal 41 war? Oder wurde sie die Frau von Horst? Er lebte nur drei Jahre länger als Alfred. Hatte Renate einfach kein Glück? Oder hatte sie das Glück zu erfahren, dass das mit der einen großen Liebe des Lebens gar nicht stimmt, dass Liebe ein Zustand ist, dem man sich ausliefert, und der, so wie das Atmen und das Schlucken, das bereits Vollbrachte durch neuerliches Tun nicht infrage stellt?
So viele Fragezeichen. Und das an einem Ort, der einem die Antworten verschweigt. Jenseits der Friedhofsmauer, etwa 100 Meter von unserer Bank entfernt, macht die Straße Radau. Dort ist man unterwegs, auf Rädern, auf Schienen, zieht das Tempo an, um von woher nach wohin zu gelangen. Hinter der gegenüberliegenden Mauer, etwas weiter entfernt, wird seit Jahren gedröhnt: zertrümmert, beiseitegeschafft, gehämmert, geschraubt. Dort bauen sie ein Hochhaus um. Anders als die Stadt, die immerfort wird und entsteht, ist der Friedhof, sind die Fragezeichen das, was bleibt. Hier ruhen in Frieden, steht auf den beiden dunklen Steinen neben unserer Bank. Das ist die Inschrift auf den meisten Gräbern. Es gab fürchterliche Kriege, kürzlich, hier, wo die Toten begraben sind, denen man demnach wohl nichts besseres wünschen konnte. Jedoch verwendete man den Grabspruch schon früher, schon seit dem achten Jahrhundert. Zahllose Leichenprediger und Grabredner haben ihn ausgesprochen, Generationen von Steinmetzen ging er von der Hand. Er war ein Wunsch. Ein gut gemeinter Rat. Die Hoffnung, dass die Ruhe und der Frieden die Fragen ermöglichen. Denn in der Erde bei den Toten sind unsere Geschichten verwahrt.
Damals, vor kurzem, gestern, vorhin. Alles, was wir uns auf unserer Bank einander erzählen, sogar das, was eben erst geschah, ist in dem Moment, da wir es hören, Vergangenheit. Geschichten ergreifen von uns Besitz, nehmen etwas an sich, was eben noch schwer gewesen ist. Manchmal wird einer von uns beiden mitten im Reden wütend, manchmal brechen wir die Gespräche genervt ab, oft wissen wir nicht, wie weiter. Wir erleichtern uns, wenn wir erzählen. Und in den Minuten, in denen wir zuhören, hinterlassen wir selbst Vergangenheit und reihen uns in den langen Lauf des Lebens ein. Da wir schon manches erschaffen und einiges kaputtgemacht haben, zweifeln wir nicht daran, dass wir existieren. Doch wir müssen uns immer wieder ausspannen. Wir brauchen keinen Friedhof, auch keine Bank, aber die Geschichten. Drin steckt unser Ursprung, unsere Gegenwart, der Beginn von etwas Zukünftigem: der Grund für unsere Anwesenheit.
Renate lebt noch. Wir würden auf unserer Bank zusammenrücken, ihr Platz machen, käme sie jetzt auf den Friedhof. Warum wurde ihr Name schon in den Grabstein graviert, obwohl sie noch gar nicht tot ist? Hat man in ihrer großen Familie zu wenig Fragen gestellt und gibt es deshalb zu viele Traditionen? Oder hat sie sich die Inschrift gewünscht, weil damit alles geklärt ist: ihre Zugehörigkeit, der ganze Verwaltungskram, das Finanzielle? Oder ist Renate – wie man so sagt, wenn das Leben einem den Appetit, den Durst, den Atem nimmt – schon gestorben?
Auch Ursula könnte auftauchen, sich auf die Bank setzen und auf ihren eigenen Namen schauen. Sie ist fast 90. Den Frauen in ihrer Familie scheint ein langes Leben vergönnt zu sein. Ist das ein Segen? Ursula könnte Renates Mutter sein. Ist Renate eine traurige Tochter? Während sie denselben Nachnamen trägt wie die meisten Personen auf den beiden schwarzen Steinen, hat Ursula einen anderen. Haben Renates Eltern eine böse Scheidung hinter sich? Hat die Mutter rasch neu geheiratet, auf den Namen verzichtet, der sie mit Renate verband, und damit – Papier ist Papier, aber Gefühl ist auch Gefühl – ebenso auf die Tochter?
Vom Geburtsjahr her würde Ursula perfekt zu dem nur zwei Jahre jüngeren Paul passen. Die beiden ein Paar? Das wäre schön, denn auch Paul lebt noch. Oder wäre es nicht schön? War Ursula etwa seine zweite Frau? Ist ihm weggelaufen, hat sich schnell zurück in ihren Mädchennamen gerettet, weil die Ehe mit Paul unter dem Stern von Else stand, seiner ersten Liebe? Paul und Else sind auf dem linken Stein verewigt, während sich Ursula auf dem rechten Stein ganz unten wiederfindet.
Else wurde 1913 geboren. Sie war 16 Jahre älter als Paul. Das ist viel. Sie könnte auch seine große Schwester sein. Dann jedoch müsste sie jemanden geheiratet haben, der in der Familie nicht gelitten war, denn kein Mann auf den zwei Steinen heißt wie sie. Was hatten die anderen gegen ihre Heirat? War ihr Bräutigam eigenartig? Hatte er eine Art an sich, die sie nicht vertrugen? Einen schlechten Ruf? Oder kam er aus falschem Hause? Welches Haus war falsch? Und gab es hinreichend Kriterien, auf deren Grundlage man in der Familie entschied, welches Haus das richtige ist? Konnte überhaupt gar niemand Elses Mann leiden oder haben einige ihn und seine Frau hin und wieder besucht? Taten sie das heimlich? Wurde ein Teil der Verwandtschaft wegen der Besuche vom schlechten Gewissen heimgesucht – was besonders fies war, weil die Heimgesuchten die Gewissensbisse zwar für borniert und unmodern hielten, dennoch drunter litten? Oder gab es Streits? So richtige, in denen auf Tische gehauen und mit den Türen geschlagen wurde? Sind Hände ausgerutscht? Wurde Liebesentzug als Strafe verhängt? Hat das gewirkt?
Oder haben wir es mit einer modernen, wenn auch nicht besonders mutigen Familie zu tun? Ging es hier allen nur um die große Glocke? Lautete die interne Ansage etwa so: Die Sache mit Else und ihrem, na ja, nicht ganz so idealen Mann, wegen der Leute, na ja, wissen wir ja, es wird geglotzt und geredet, na ja und so weiter, was gehen uns die Leute an, sollen sich mal ganz schnell alle um ihren eigenen Dreck, also, wer auf die Else und ihren, na ja, jedenfalls auf diesem Gefühlsschnickschnack besteht, möge das bitte so vollziehen, na ja, dass die Nachbarn nichts merken?
Möglicherweise war Else aber doch Pauls erste Liebe. Sie eine Frau, er noch ein Junge, den sie in die größten Abenteuer seines gerade erst so kurzen Lebens stürzte. Den sie sanft von sich stieß, weil sie von ihm nicht schwanger werden durfte, und in den Armen hielt, wenn er stöhnte oder schluchzte – das vermochte sie nicht zu unterscheiden. In welchem Alter auch immer sie Paul kennengelernte, wenn sie geheiratet haben, muss sie mindestens Mitte 30 gewesen sein. Hatten sie dann doch noch ein Kind? Nur der zweite Alfred käme infrage, 1942 geboren. Sein Name ist zwischen Paul und Else eingraviert. Allerdings wäre auch Alfred keine Glücksgeschichte, er wurde nur 53 Jahre alt. Die Eltern hätten ihn überlebt.
Bleibt noch Horst. Sein Name steht auf einem kleinen runden Schild aus Emaille, das vor den schwarzen Grabsteinen in der Erde steckt. Es ist nicht zum Gedenken da, sondern damit alles seine Ordnung hat. Die Pflege seiner letzten Ruhestätte wird vom Friedhof übernommen. Efeu breitet sich aus. Kriecht über die Gräber, zieht sich an den schwarzen Steinen hoch, greift nach den Grabpflegeschildern. Es gibt fünf. Auf jedem steht immer nur das Todesdatum. Die Geschichte von Horst ist rätselhaft. Er starb am 29. November 1998. Wurde hier begraben. Hat mit demselben Nachnamen gelebt, wie alle Männer der Familie, ist aber auf keinem der beiden Steine eingraviert. Wurde er, dem Willen seiner Verwandten nach, nie geboren?
Bänke sind Möbelstücke unterm Himmel, mitten in aller Leute Leben. Im Mittelalter durften auf ein und derselben Bank nur Menschen gleichen Standes verweilen. Als ich klein war, lernte ich, dass Schuhe nicht auf die Sitzfläche gehören, weil hier außer mir auch noch andere sitzen wollen. In Filmen ist klar, dass sich – scheinbar durch Zufall, doch wir wissen, dass die Bank Anteil daran hat – zu einer Frau der Mann ihres Lebens gesellt. Auf unserer braunen Bank hat jetzt der Sommer Platz genommen. Es sieht aus, als würde auch sie schmelzen. Ist wirklich weit und breit keine Wolke zu sehen? Wir sehen hoch und überzeugen uns, trotzdem einigen wir uns auf die Fragezeichen, überlassen uns der Strömung am Himmel, dem Davor und dem Danach.
Ich besitze Sommerkleider, die ich aus den Schränken und Truhen, von den Dachböden meiner Großmütter geholt habe. Leider weiß ich nichts über diese Kleider, denen man ansieht, das sie nicht in unsere Zeit gehören, nur über ihre Trägerinnen. Sie liefen durch ein Dorf in den Bergen, dessen Häuser so niedrige Fenster hatten, dass die, die dahinter saßen und rausblickten, nie das ganze Kleid sehen konnten. Sie wandelten über den hölzernen Tanzboden eines Schiffes voller Frauen, das auf einer von Hitlers „Kraft durch Freude“-Reisen nach Norwegen unterwegs war. Sie hinterließen Flecke auf dem Stoff, als sie während des Krieges in der Heide nach Beeren und Pilzen für die Speisekammer suchten, die drei Kinder halbwegs satt machen musste. Sie nahmen den Sandweg an der Elbe, weil Dresden so zertrümmert war, dass man anders nicht zum Zirkus Sarrasani in die Innere Neustadt gelangen konnte. Und das alles in einer Zeit, die sepiafarben war. Ich besitze viele von diesen Sommerkleidern. Sie sind bunt. In manchen Jahren, wenn die Temperaturen im Juni, Juli, August und September lausig sind, schaffe ich es kaum, ein jedes wenigstens einmal zu tragen. Die Geschichte, die mir dazu einfällt, heißt: Früher war mehr Sommer.
Nadja Klinger