Der tat, was Regen eben tut: die Wärme vertreiben, vertraute Gerüche fortspülen, die gewöhnlichen Geräusche ertränken. „Sind Sie Frau ... ?“ Wenn es regnet, fragen und antworten die Menschen lauter als sonst. „Na, da wollen Sie bestimmt wissen, was Ihr Mann und meine Frau seit einiger Zeit miteinander treiben.“
Während ich das hier erzähle, bin ich tief im Südosten Europas. Und es regnet. Hier regnet es anders, wollte ich eben noch sagen, aber das stimmt nicht, es i s t hier nur anders. Die Blüten der Bäume duften noch stärker als zuvor, die Wärme wird sichtbar, weil sie dampft. Das Wasser prasselt auf morbide Schieferdächer und schwappt über uralte, schief hängende Rinnen auf den Boden, aber die Gespräche auf den Straßen ebben nicht ab. Ich höre, wie die Leute einander etwas zurufen, höre ihre Rede und Gegenrede und wie sie lachen – alle bleiben sie, wo sie sind, keiner duckt sich oder verbirgt glühende Zigarettenspitzen unter der hohlen Hand, niemand läuft weg, wenn der Regen kommt. Es gibt hier, anders kann es ja gar nicht sein, auch schlechte Erinnerungen. Aber wenn sie mit Regen verbunden sind, dann ist das Wetter nur ein Detail, färbt die Geschichten nicht unweigerlich grau, macht sie nicht ohne Weiteres trostlos.
Ich habe die Geschichte vom Parkplatz schon oft erzählt. Ich war nicht dabei, aber sie hatte auch für mich eine Bedeutung, denn die Frau, die, von dem fremden Mann überrumpelt, nach einer Antwort, einer Haltung zu dem sich nun deutlich abzeichnenden Eheproblem suchte, war meine Mutter. Sie erwiderte: „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, was mein Mann tut.“ Während sie das sagte, hantierte sie hektisch mit dem Miniknirps, den damals alle Frauen besaßen, die ich kannte: ein Schirm, den man so oft zusammenfalten und zusammenschieben konnte, dass er in ihre kleinen Handtaschen passte, einem Regenschutz, der wortwörtlich doppelt verkleinert war, dem Wetter also nicht Respekt zollte, sondern es herunterspielte. Jedoch ließ sich dieser besonders knirpsige Knirps in der Eile nicht so einfach funktionstüchtig machen, er faltete sich auch beim Aufspannen, zog sich plötzlich zusammen, wenn man ihn über den Kopf hielt. Beim Versuch, das Geschehen herunterzuspielen, muss meine Mutter also nicht gut ausgesehen haben, erst recht nicht, da auch sie, wie alle Frauen, die ich kannte, eine Dauerwelle trug, mit Säure und Wasserstoffperoxyd gewelltes Haar, das mit Regen chemisch überreagierte, sich zu unglaublichem Volumen aufschwang und den Menschen unter sich lächerlich machte.
Auch sie ist weggerannt. Sie wollte gutes Wetter, kein schlechtes. Meinem Vater hat sie nie erzählt, was auf dem Parkplatz geschehen ist, aber mir, über zehn Jahre später, als ich volljährig wurde. Bis dahin hatte sie mir Märchen erzählt. Über sich, meinen Vater und ihre Ehe. Und zum Beispiel über das von der Regentrude. Meine Mutter las nicht vor, sondern bestand darauf zu reden, darauf, dass man die Geschichten, das Leben auf verschiedene, auf eigene Weise interpretieren kann. In seinem Kunstmärchen „Die Regentrude“ gab sich Theodor Storm im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausgiebigen Naturbeschreibungen hin: dem Leid der Landschaft, auf die es nicht mehr regnet, der Macht des Wassers, das alles Lebendige ermöglicht – oder verhindert, wenn es ausbleibt. Meine Mutter jedoch, wenn sie erzählte, beschränkte sich auf die Märchenfiguren: auf den dicken Wiesenbauer, der sumpfiges Land besitzt und daher in der Zeit der Dürre als einziger Heu einfährt und reich wird, während alle anderen Bauern klagen. Auf Mutter Stine und des Wiesenbauers Tochter Maren, die nach der Trude suchen und sie schließlich aus dem Schlaf holen, damit sie Regen macht. Es waren die Frauen, das ließ meine Mutter beim Erzählen deutlich herausklingen, die auf ungewöhnliche Weise und unter Entbehrungen ein Problem lösten. Ich verstand. Es gab aber noch etwas zu verstehen. Das wurde mir erst klar, als ich selbst eine Frau war: Maren wagt sich nur auf den schweren Weg, weil sie danach Stines Sohn Andrees heiraten darf.
Regen ist die häufigste Form des Niederschlags. Er reinigt die Luft, indem er Sauerstoff, Stickstoff, Kohlensäure und Salpetersäure auslöst und Staub, Pollen und andere Partikel auswäscht. Wir wissen, dass er sinnvoll, weil Bedingung für alles Leben ist, dass es eine Dürre gibt, wenn er ausbleibt, und sich dann das Klima, Flora und Fauna verändern. Aber das wissen wir nur, weil wir gar nicht anders können. Eigentlich sind uns das viel zu viele Erklärungen, eigentlich reicht es aus, dass es den Regen gibt, weil jemand den Wasserkreislauf schließen muss. Was ignorieren wir? Dass der Regen das Symbol dafür ist, dass sich da etwas dreht, etwas abspielt, in das wir lediglich hineingeraten sind, ohne das wir gar nicht hier wären. Dennoch fühlen wir uns im Zentrum all dessen. Regen ist das Wetter, das sich in unsere Tage drängt. Wir haben ihn auf dem Radar, in Aussicht, er hört endlich auf, er kommt endlich, wir verdammen ihn oder beten ihn an. Wir sagen: „Lass mich nicht im Regen stehen!“ Wir meinen: Ich bin da allein, werde nass, friere, weiß nicht weiter. Wir erlauben uns eine Haltung zum Regen, die sich eigentlich verbietet, denn er ist ursprünglicher als wir, rechtschaffender, wesentlich.
Einmal hätte ich im Regen beinah mein Kind verloren. Es war im Erzgebirge im Südosten Deutschlands, es war Frühling, wir näherten uns in dem kleinen Auto meiner Freundin dem Dorf, in dem sie wohnt, als sich plötzlich der Himmel verfinsterte, die Wolken brachen und sich so viel Wasser über uns ergoss, dass die Scheibenwischer den Blick nicht mehr frei räumen konnten. Wir hielten an und warteten, meine Freundin am Lenkrad, ich auf dem Rücksitz mit dem Baby im Arm. Es war nicht kalt, wir hatten es nicht eilig, aber wie immer, wenn Zeit vergeht, die man sich anders vorgestellt hat, wurden wir unruhig, und da der Regen etwas nachließ, beschlossen wir, weiterzufahren. Nach ein paar Metern passierte die Straße eine Senke zwischen zwei Feldern. Während der Acker rechts von uns aufstieg, fiel der links von uns in die Tiefe ab. Wir wussten, dass das Land gerade erst bestellt worden war, dass es keine Pflanzen gab, die das Wasser bremsten und den Boden hielten, wir sahen, dass braune Flüssigkeit vom Acker in die Senke lief, aber wir waren jung und erfolgreich, Mütter mehrerer Kinder, sportlich, starke Frauen. Wir erreichten den tiefsten Punkt der Senke, den Moment, da der Regen unser Selbstbewusstsein überschwemmte und zeigte, dass er noch stärker war.
Der Motor ersoff, das Auto war kein Auto mehr, sondern ein schwerer Gegenstand, der von dem braunen Wasser, das zuweilen bis an die Scheiben der rechten Seitenfenster schwappte, nach links, in Richtung Abhang gedrückt wurde. Meiner Freundin gelang es, die Fahrertür zu öffnen, weil links das Wasser nicht so sehr drückte wie rechts. Jedoch schwappte es jetzt auch in den Wagen. Und da er keine Hintertüren hatte und die Sitze sich gegen den Wasserwiderstand nicht mehr klappen ließen, saß ich hinten fest. „Gib her!“, schrie meine Freundin. Ich ließ mein Baby los. Sie griff zu.
Man kann die Welt auf eigene Weise interpretieren. Meine nächtlichen Träume, die sich stets an dieses Prinzip halten, wurden in den Monaten nach dem Ereignis im Erzgebirge sehr real. Durch eine überflutete Frontscheibe sah ich meine Freundin von hinten. Wie sie, sich von mir weg bewegend, in den Regenvorhang tauchte, bis unter die Hüfte im braunen Wasser, nicht wissend, wo sie hintrat, ein paarmal rutschend, leicht strauchelnd, bergauf aus der Senke heraus. Wenn ich sie in jenen Nächten immer wieder sah, mit überm Kopf ausgestreckten Armen ein sechs Monate altes Mädchen balancierend, sah ich unser kleines, schwaches Dasein. Ich sah, was man nicht sehen, aber haben kann: Demut.
Mit unserer Haltung zum Regen haben wir es uns einfach gemacht: Wir messen ihn, indem wir ihn in einem Gefäß auffangen und definieren ihn je nach unserem Erleben, danach, wie intensiv er ist, wie er entstand, wie lange er dauert und aussieht. Wir machen ihn zu Steigungsregen, Konvektionsregen, Frontregen, zu Tropenregen, Monsunregen, Saurem Regen, Basischen Regen, zu Dauerregen, Starkregen, Platzregen, Sprühregen, gefrierendem Regen, warmem Regen. Er kommt aus dem Wolken, die Wasserdampf aufsammeln, bis das Gewicht der Tropfen so groß wird, dass sie nicht mehr in Schwebe gehalten werden können. Von oben kommt er, aber wir hier unten verpassen ihm den Namen.
Meine Mutter, die sich stets verboten hat, Tränen zu vergießen, sagt, es habe damals auf dem Parkplatz geregnet. Vielleicht stimmt das ja nicht. Der Regen ist das Sinnbild für das Weinen. Überall auf der Welt. Dort, wo sie vor dem Regen nicht fliehen, so denke ich manchmal, sind die Leute bereit, ihn zu kosten und nass zu werden und sie fliehen auch nicht vor dem Weinen. Wo ich zu Hause bin, haben wir Schirmherrschaften und Rettungsschirme. Hier hat man den Regen lieber im Griff. Und manchmal ist ergibt es sich, dass wir mit offenem Schirm dastehen und auf den Regen warten.
Hier im Südosten Europas ist man zum Beispiel in Gjirokastra zu Hause, einem Städtchen, das sich an die steilen Berge im Süden Albaniens schmiegt. „Schwermut floss pausenlos über die steinernen Platten. Hartnäckig in ihrer Grauheit eilte sie die geneigten Dächer hinab, um der neuen Schwermut Platz zu machen, die aus den großen Reservoiren der himmlischen Traurigkeit herabströmte“, schrieb der Schriftsteller Ismail Kadare über seinen Heimatort und erzählte zugleich, wie die Familien es feiern, wenn sich mit dieser Traurigkeit ihre Zisternen füllen. Regen ist Bewegung. Ein trüber Himmel ohne Regen viel trostloser. Das Meer ist aus Regen gemacht. Ist das viele Regenwasser, was da am Strand vor uns liegt, nicht die Weite, unsere Sehnsucht, die Welt? Wenn es regnet, fragen und antworten die Menschen lauter als sonst.
Nadja Klinger