Galanterie – Essays, Geschichten und Wortmeldungen
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Das Magazin, Juni 2021
Die Erde ist eine Scheibe. Das wissen wir und das sehen wir ja, am Strand sitzend mit Blick übers Meer auf den Horizont. Zu bestimmter Zeit stürzt dort hinten die Gegenwart ab. Aufsehenerregend glutrot, nach dorthin, wo keiner von uns ihr nachfolgen kann, über den Rand.
OXI, Dezember 2021
Zuallererst bekommt der Mensch das Leben geschenkt. Dann, schon recht bald geht das los, nimmt er auch alle weiteren Geschenke an: die mit Anlass und solche mit Ausmaß, alles, was Termin und Tradition hat, das, was mit Bedacht gegeben wird und das, was von Herzen kommt. Sowie jegliches ohne Belang.
DAS MAGAZIN, Juni 2021
Am Anfang ist er so klein, dass man ihn nicht sehen kann. Um zu wachsen, kriecht er durch den Wald. Mit einer Geschwindigkeit, die ebenfalls unsichtbar ist, geht’s über feuchtes Moos, muffiges Laub und fauliges Holz. Überall liegen organische Abfälle herum. Er stopft so viele wie möglich in sich rein.
OXI, Februar 2021
Einmal, auf dem Interstate Highway im Norden der USA. Der Abendhimmel entzieht der unbewohnten Weite beiderseits der Straße alle Farben, da werden wir von weiß-rot-blau flackerndem Licht heimgesucht, das Auto zuckt wie unter einem epileptischen Anfall. Es ist wie im Film. Kino. Eben waren wir noch auf Reisen, seit Tagen mit „einfach immer weiterfahren“ ausgekommen, jetzt haben wir plötzlich eine Handlung.
Brief aus New York, 2020
Meine Anrede ist nicht charmant, bloß ehrlich. Jeden Tag fragt mindestens einer von euch, wie es mir geht. Dann sage ich: Ich bin gesund, soweit ich weiß, ich habe immer schon zu Hause gearbeitet. Von meinem Schreibtisch im Stadtviertel Bushwick kann ich über Brooklyn hinweg bis nach Manhattan gucken, aber ich kann mir nicht sicher sein, dass das, was ich sehe, noch dem entspricht, was ich damit verbinde. Ich höre meinen Gedanken zu – versuche es – und denke, dass ich vielleicht ganz anders denken müsste. Ich denke: Für das, was kommt, muss eine Idee her. Um mir die Arbeit zu erleichtern, kopiere ich, was ich einem von euch geschrieben habe, und füge es in die Mail an einen anderen ein. Ich hätte besser gleich geschrieben: Liebe alle!
Das Magazin, Oktober 2019
Am Rande meiner Stadt steht ein Haus. Dort wohnt die alte Frau mit der weichen Haut und der durchsichtigen Frisur. Sie sitzt seit drei Jahren immer auf demselben Stuhl. Man hat mir gesagt, sie sei jetzt eine andere Frau, als die, die ich kannte, sie lebe nicht mehr in der Welt, in der wir beide zusammen waren. Ich greife nach den Händen, die mich einst so viel berührten. Ich zupfe am Haar, das ich damals durchwühlt habe, um mich für immer darin einzunisten. Ich stecke die Pantoffeln auf die Füße, die sie nachts stets unter der Bettdecke hervorgeschoben hat.
Das Magazin, Juni 2019
Jede Geschichte endet an einem Ort. Dort, wo all die halbfertigen Aussagesätze endlich zum gnädigen Punkt kommen. Wo man die Verben nicht mehr zu fürchten braucht, weil sie im milden Antlitz der Vergangenheitsform auftreten. Wo man weiß, was gewesen ist, und – gut, das ebenfalls zu wissen – unweigerlich eine neue Geschichte beginnt.
Das Magazin, März 2019
Man kennt seinen Körper nicht. Das liegt vielleicht daran, dass er einem von Anfang an gehörte. Man musste nirgendwo Schlange stehen, um ihn zu erwerben. Man hat sich nicht plötzlich in ihn verliebt, es gab also keinen Grund, über ihn herzufallen und ihn zu ergründen. Man hat sich ihn nicht einmal gewünscht. Sondern sich einfach immer nur bedient.
Das Magazin, Oktober 2018
Der Wunsch lebt. Er hat sehr lange Arme mit kräftigen Händen. Die eine Hand krallt sich an der Zukunft fest, die andere an der Gegenwart, und das Herz schlägt nur dafür, dass beide nicht loslassen.
Das Magazin, Februar 2018
Plötzlich hatten wir die hämische Tür im Rücken. Anders gesagt: das geräuschvolle Grinsen eines Schlosses, das gerade in diesem Moment dazu benutzt wurde, uns den Rückweg zu versperren. Keine Möglichkeit mehr für: Ach ne, lieber doch nicht! Plötzlich war es ziemlich dunkel.
Das Magazin, Oktober 2017
Heidi und ich brachen um halb acht auf. Andere waren noch früher losgegangen. Aber selbst den Mann, der direkt vor uns war, konnten wir schon nicht mehr sehen. Er war in eine Art riesigen Dampfkochtopf gestiegen, nur dass der Topf verkehrt herum stand beziehungsweise über uns hing, und der Mann von unten in ihn hineingekrochen war. Zuerst war sein Haupt verschwunden, dann der Leinenrucksack, auf den der Helm geschnürt war, die Kniebundhosen. Das Letzte, was wir gesehen hatten, waren der harte Schaft und die steife Sohle seines rechten Schuhs. Das war vor gut einer Minute gewesen. Unerklärbar lange her an einem Ort, an dem Minuten und alle anderen vertrauten Maßeinheiten Fremde sind.
Das Magazin, Januar 2017
Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem die Bläsche Ida – von vielen, vornehmlich weiblichen Bewohnern unserer Kleinstadt „das Frauenzimmer“ genannt – plötzlich in der „Straße der Besten" aufkreuzte. Einem Ort, der eigentlich ein Hinterhalt war. Aus dem heraus Werktätige dazu verführt wurden, schneller und besser zu arbeiten. Es war ein besonderer Tag, der Wellen schlug. Wellen, die sich über nichts hermachten, niemanden umwarfen, nicht einmal ans Ufer schlugen. Ein besonders gewöhnlicher Tag also.
Das Magazin, September 2016
Ding dong! Das muss der Postbote sein. Der Hausherr höchstselbst springt auf. Er öffnet die Tür. „Servus!“ – „Wia gäts da?“ – „Gut gehts. Und selbst?“ – „I konn net klogn.“ Ein großes Paket wird überreicht. Renommierter Absender, hochwertige Ware. „Dann bis zum nächsten Mal!“ – „Gäd klar. Mach’s guad!“
Das Magazin, Sommer 2016
Wenn wir fest eingespannt sind. Wenn unser Denken als Schrittzähler fungiert und die Wahrnehmung als Navigator. Wenn das, was unser kleines Tagwerk ist, sich anfühlt, als handle es sich um unsere große Bestimmung, dann spannen wir uns aus. Dann suchen wir das Weite. Dann gehen wir auf den Friedhof. Er befindet sich mitten in unserer Stadt. Wenn die Stadt überhaupt eine Mitte hat. Denn jeder, der hier lebt ist sich seine eigene.
Das Magazin, Juni 2016
Es war auf dem großen Parkplatz in der Nähe unseres Hauses. Sie sagt, es habe geregnet. Sie sagt, der Mann sei erst gar nicht wirklich da gewesen, es habe sich nur etwas zwischen den Wasserfäden abgezeichnet: eine flüssige Ahnung, die gegen den festen Wunsch, dass alles in Ordnung ist, dass es nichts zu befürchten gibt, zunächst nicht ankam. Doch dann, sagt sie, kam das Dunkle auf sie zu. Es nahm Kontur an und Charakter, näherte sich dreist und trat, wie durch einen Vorhang, der sich gar nicht geöffnet hatte, heran. Plötzlich stand sie dem Mann gegenüber. Natürlich habe sie sein Gesicht gesehen, sagt sie. Aber sie erinnere sich nur an den Regen.
Das Magazin, April 2016
Eines Tages wird die Tür weit geöffnet. Sehr weit. Und alles, wie es war und wie es ist, entschwindet. Die Weltkugel ihres kleinen Daseins rollt aus der Wohnung. Holpert treppab, stößt bedeutungsvoll ans Geländer, schiebt sich durch die Enge auf den Absätzen zwischen den Etagen.
Das Magazin, März 2016
Sammeln ist schwach. Das Wort steht auf zwei breiten m fest in der Gegenwart. Zwingt man es in die Vergangenheit, legt es sich zwei, drei neue Buchstaben zu, der Wortstamm indes – der Kern, der Charakter, die Haltung – bleibt unverändert. Die deutsche Grammatik nennt sammeln deshalb ein schwaches Verb. Ja, Leben ist permanente Veränderung. Am Morgen lässt es einen glauben, am Abend überlässt es einen den Erfahrungen. Man ist jung, derweil es einen alt macht. Man karrt Erinnerungen durch die Jahre, während es einem Hoffnungen auflädt. Veränderungen passieren. Wer dabei „ganz der Alte“ bleibt, der schwindelt. Oder schwächelt.
Das Magazin, Februar 2016
Gleich zu Beginn des vergangenen Jahres hatte Frau K. damit angefangen, etwas gutzumachen. An sich selbst. Sie hatte beseitigt: Telefonnummern und Adressen und Termine, Montur und Material, also Sachen, mit denen sie umgeben gewesen war, die sie genutzt, gebraucht, an die sie sich gewöhnt und die sie deshalb die Dinge des täglichen Bedarfs, also „mein Leben“ genannt hatte. Bevor „mein Leben“ entsorgt worden war - husch, husch, möglichst atemlos, vorwiegend kopflos, lediglich zielbewusst –, hatte Frau K. es umbenannt: Ballast.
Das Magazin, Januar 2016
Ich erinnere mich, dass plötzlich ein Licht auf uns fiel, das die Farben im Raum veränderte. So wie in Filmen, wenn die Handlung die Gegenwart verlässt. Und dass das Licht durch die Fenster kam. Von draußen. Obwohl es rings ums Haus finster war, unergründlich, so wie das Leben eben ist, in der Stadt ohnehin, gemeinerweise aber auch auf kargem Land, das sich überschaubar gibt, jedoch ebenfalls die Auskunft verweigert.
Das Magazin, Dezember 2015
Liebe M., bitte sehen Sie bei mir nach dem Rechten. Nach den Blumen, dem Briefkasten. Obwohl. Wenn das alles, wenn dies das Rechte wäre, müsste ich nicht fortgehen. In meinem Kopf ist Ebbe, es gibt keinen Auftrieb, die Ereignisse haben ihr Gewicht. Ich hoffe auf die Flut der Sinneseindrücke.
Das Magazin, November 2015
Von den vielen Dingen, die ich in meinem Leben aus zweiter Hand entgegennahm, hat mir nur ein einziges ungefragt etwas von seiner Geschichte anvertraut. Es war ein Buch. Zwischen den Seiten klemmte Papier, das von einer Schere zu einem beinahe quadratischen Zettel zurechtgeschnitten sowie mit einer Bleistiftnachricht versehen worden war. Die Buchstaben standen steil und all jene, denen das aufgrund ihrer Statur möglich ist, ragten auffällig aus dem Schriftbild heraus. Wie Fahnenstangen. Wie Kerzen. Als wollte die Nachricht nicht nur das Offensichtliche, sondern noch mehr bekunden. Als sollten in aller Heimlichkeit Lichter angezündet und etwas gefeiert werden.
Das Magazin, Oktober 2015
Eine alte Frau dreht Daumen. Sie sitzt auf dem Stuhl, ihr Blick krallt sich im Zimmer fest, in der Mitte zwischen Wänden, Ecken, dem Boden und der Decke - dort, wo nichts ist. Ihre Hände liegen im Schoß. Die acht gewöhnlichen Finger sind miteinander verschränkt, während die beiden besonderen - die muskulöseren und lebendigeren, die das Zupacken ermöglichen und mehr Hirnareal beanspruchen als die anderen - handeln. Sanft streifen die Daumen umeinander, in immer demselben mäßigen Tempo, als wickelten sie gemeinsam etwas auf. Etwas sehr Langes: das Garn, in dem Warum und Weshalb versponnen wurden. Den Zwirn, auf den Geburten, Generationen und Geschichten gefädelt werden. Den unsichtbaren Faden Zeit, der in der Vergangenheit festgezurrt ist und der Elisabeth, solange sie ihn nicht verliert, mit der Zukunft verbindet.
Das Magazin, September 2015
Vor vielen Jahren, als mir klar wurde, dass ich eine Verwandte bin, war ich zu klein, um mich durch diese Entdeckung angemessen bedroht zu fühlen. Ich spielte mit meiner Großmutter das Schnips-Spiel. Wir legten jede sechs kleine runde Plastikplättchen in einer Reihe auf die geflickte Tischdecke, ich die gelben, sie die roten. Ein größeres Plättchen in denselben Farben mussten wir abwechselnd so an die Ränder der kleinen drücken, dass die über den Tisch sprangen. Es gab eine Startlinie, und wer als erste drei seiner Plättchen übers Ziel schnipste, hatte gewonnen. Ich sah zu, wie meine Großmutter, deren Kittelschürze den Geruch der verformten, rissigen Kernseife ausatmete, mit der sie abends unser Waschwasser in Lauge verwandelte, zum Schnipsen ansetzte - wie sich die Kuppe ihres Zeigefingers auf abnorme Weise über das Plastik bog!
Eröffnungslesung 11. Aquamediale, Lübben/Sprw., Juni 2015
1. Albert Camus: die Ehre. Für mich: die Aufmerksamkeit.
Ich darf heute zu Ihnen sprechen und mich der wohltuenden Hoffnung hingeben, dass Sie mir zuhören.
Das Magazin, März 2015
Was soll ich sagen? Ich brauche es? Oder: Ich habe mich daran gewöhnt? Es heißt, ich soll mich trennen. Niemand spricht das aus, aber schauen Sie sich um, darauf läuft es hinaus. Eine viereckige Fläche, weiß, Ecken und Kanten, mein Bleistift hinterlässt Buchstaben, zieht Linien und Pfeile. Stichworte geraten in die Mitte, andere werden an den Rand verwiesen. Ich ordne meine Gedanken, bevor ich spreche oder etwas aufschreibe, denn in meinem Kopf ist es unordentlich, immerfort lasse ich Eindrücke mitgehen, ich scheffele Erfahrungen und stapele Kenntnisse. Damit mir das Angehäufte etwas nützt, brauche ich weißes Papier, begrenzte Leere, die mich zwingt nachzudenken, meine Möglichkeiten sinnvoll auszuschöpfen.
Kahnpost, Dezember 2014
Wer bist du?
Wo kommst du her?
Lass dich anschauen. Berühren.
Hast du mir etwas mitgebracht?
Das Magazin, Dezember 2011
Martin nahm Abschied. Das war nicht zu übersehen. Er saß im Klassenzimmer und starrte geradeaus. Dorthin, wo er nichts erkennen konnte. Keinen Raum, der ihm vertraut war. Kein Zeitmaß, mit dem er zu rechnen verstand. Keinen Menschen, von dem er genau wusste, um wen es sich handelte. Er starrte ins Leere.
tageszeitung, Christi Himmelfahrt 2011
Admiral ist der beste Freund von Tommi, Jensi und Dirki. Er trägt eine blaue Uniform. Die Farbe ist selten in seiner Gattung. Er hüpft auf seiner Stange seitwärts, gibt sich einen Ruck, streckt die Brust raus und hebt den Schnabel. Die Jungen hocken vor dem Vogelbauer, als erwarteten sie seinen Befehl. Es hat nicht lange gedauert, bis ihnen der Name für ihn eingefallen war. Er ist ein besonderes Exemplar. Mama sagt: „Wie Papa.“
Der Tagesspiegel, Juli 2010
Ferien sind Ferien. Aber Schule ist das Leben auf der Insel. Fernab von allem, was sonst so läuft, umgeben von Tiefe, Strömung, Gischt. Ja, das wusste ich auch mal nicht. Aber das ist über 14 Jahre her.
Danksagungsrede, gehalten am 10. Mai 2007
Sehr geehrte Frau Anke Fuchs,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Matthias Platzeck,
sehr geehrter Herr Dr. Klaus Hohlfeld,
sehr geehrter Herr Dr. Helmut Mörchen,
verehrte Gäste,
liebe Freunde und Kollegen!
aus „Halbwegs zum Himmel“, Leykam Buchverlagsgesellschaft, Steiermark, 2007
Meine Mutter steigt aus dem Zug wie andere Leute in eiskaltes Wasser. Sie spürt den Bahnsteig unter den Füßen und bleibt stehen. Sie holt Luft, um zu prüfen, ob sie in der Fremde atmen kann.
Der Tagesspiegel, Weihnachten 2006
Erinnern Sie sich noch an die Festtage in diesem Jahr? Herzlichkeit lag in der Luft. Wir atmeten sie ein. Sie rauschte durch unsere Körper. Wenn wir den Mund aufmachten, sprudelte sie dann auch aus uns heraus. Erinnern Sie sich?
Der Tagesspiegel 13. Mai 2006
Ein Fernsehteam der Abendnachrichten streift durch ein Jobcenter. Im Foyer trifft es auf eine Menschenschlange. Die Rede ist von Arbeitslosen, von Zahlen. Indes zeigt die Kamera von den Wartenden im Foyer nur Hintern und Füße.
Das Magazin, Juni 2005
„Kann Lumpi bei mir pennen“? - „Wer ist Lumpi?“ - „Der sitzt neben mir.“ - „Wo sitzt ihr?“ - „Auf einer Bank. Lumpi ist mein Kumpel.“ - „Seit wann?“ - „Kann der bei mir pennen?“ - „Hat er kein Bett?“ - „Eigentlich wollte der bei Schäbi pennen, aber wir wissen nicht, wo Schäbi auf einmal ist.“ - „Also, ich weiß nicht.“ - „Mama, du kennst doch Lumpi gar nicht!“ - „Eben.“ - „Sei doch nicht so!“ - „Na gut.“ - „Cool, Mama!“ ...
Der Tagesspiegel, 7. März 2004
„Guten Mooorgen!“, rief die Frau am anderen Ende der Telefonleitung, „Sie werden entschuldigen! Hier ist Ihre Rechtsschutzversicherung!“ Nach dem dritten Ausrufezeichen war sie still. „Ja“, sagte ich.
© 2024 Nadja Klinger