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Galanterie – Essays, Geschichten und Wortmeldungen


Das Kind verlässt das Schiff

Eines Tages klingelte es Sturm. Ich öffnete. Da stand sie. Auf ihren prallen Lippen klebte schweres Rot. Die Augen steckten in Kratern aus schwarzer Tusche. Zwischen den Brauen lag eine tiefe Furche und die blonde Mähne bauschte sich bedrohlich auf. „Hallo!“, sagte ich und winkte. „Du bist die Pubertät, oder?“ Sie grinste. Ich sagte: „Ich hab dich erwartet.“

Wir reichten uns die Hände. Ich trat zurück, sozusagen um den Weg frei zu machen in einen neuen Lebensabschnitt. In meinem Kopf lagen viele Seiten Ratgeberliteratur. Im Kühlschrank lag Sekt. Ich war guter Dinge. Ich sagte: „Na, dann wollen wir mal! Komm doch rein!“

Nein, so ist es nicht gelaufen.

Eines Tages klingelte es Sturm. Ich war vorbereitet, das stimmt. Aber kaum hatte ich die Tür geöffnet, schob sich die Pubertät grußlos an mir vorbei. Sie schlurfte übers Deck, hinterließ ihre unverwechselbaren Spuren, fiel polternd über die Kombüse her, verbarrikadierte sie sich in der Kajüte.

Ich war Kapitän auf dem Schiff. Ich kannte die Route, organisierte die Ladung, ich habe die Mannschaft versorgt und die Rettungsboote in Schuss gehalten. Es war mein Schiff! Ich hatte es gebaut. Stellenweise war das Material nicht mehr das neuste, aber es hat sich in Unwettern und gegen Angreifer bewährt. Ich war stolz auf den Kahn! Ganze Flotten waren untergegangen, während bei mir an Bord alles in Butter war.

Zunächst merkte ich gar nicht, dass mit dem Schiff etwas nicht mehr stimmte. Es schaukelte, wenn die Pubertät mit ihresgleichen in der Kajüte feierte. Ich stolperte über ihre Spuren. Sie lagen im Weg, den ich seit Jahr und Tag ging. Die Spuren breiteten sich aus. Ich fand sie auf der Brücke, die eigentlich Kapitänsreich ist. Ich entdeckte sie im Maschinenraum. Ich bewahrte kühlen Kopf, aber den gekühlten Sekt, mit dem ich angeklopft habe, wollen die Feiernden in der Kajüte nicht trinken. Die Pubertät machte nicht mehr mit. Sie machte ihr Ding.

Sie ist der Moment, in dem die Kinder das Schiff verlassen. Sie verlassen es nicht nach Plan. Jedenfalls nicht nach unserem.

Die Pubertät ist der brutale Anblick von Spielzeug, das in blauen Säcken liegt. Sie lässt Eltern im Müll kramen. Denn Eltern ziehen es vor, Andenken zu retten. Sie ziehen es vor, dass sich Staub über die Dinge legt.

Die Pubertät zeigt ihnen, was in ihren Kindern noch so steckt. Deswegen streiten Eltern mit den Kindern, dann ziehen sie um den Block. Sie haben Zettel bei sich, auf denen sie notieren, was ihnen Gutes zu ihren Söhnen und Töchtern einfällt. Vielleicht rauchen sie beim Gehen zuviel. Vielleicht ist ihnen der Appetit vergangen. Je länger sie unterwegs sind, desto mehr Gutes notieren sie. Oder sie fahren mit dem Auto gleich Hunderte Kilometer. Durch das offene Fenster peitscht der Wind. Wenn sie zurückkehren, wissen sie nicht mehr, warum sie losgefahren sind.

Die Pubertät verhängt den Kriegszustand. Sie beweist uns, dass sich selbst im Kampf das schlechte Gewissen meldet. Sie schenkt allen Eltern starke Gegner. Die sagen: „Ich werfe euch nichts vor. Ihr seid wie ihr seid. Ihr müsst selber wissen, wer ihr sein wollt. Ich jedenfalls find euch Scheiße.“ Pubertät zwingt Eltern, ihre Waffen zu überprüfen.

Liebe ist jetzt nicht mehr bedingungslos zu haben. Zuweilen macht sie sich unsichtbar. Zuweilen scheint es, als habe es sie nie gegeben.

Etwa so fing es an: Eines Tages konnte das Kind in seinem Bett nicht einschlafen, weil es "ein anderer Mensch" sein wollte. Ich schob meine Hand zwischen seine Wange und das Kopfkissen und fragte: „Was denn für einer?“ Damals antwortete das Kind noch auf Fragen.

Es erfand sich völlig neu. Es besaß einen Zettel, auf dem stand, was es morgen früh an sich verändern wollte: Charaktereigenschaften, die Art zu grüßen und die Tasche zu tragen, das Lachen, den beschleunigten Gang. Der Zettel war ein grausamer Plan.

Am nächsten Abend wollte das Kind völlig anders werden als es gestern hatte sein wollen. Am darauf folgenden Abend entwarf es sich wieder anders als all die Tage zuvor. Nie wollte es bleiben wie es nun mal war.

Jeden Abend bezog ich Stellung am Bett. Ich habe die Klugheit des Kindes gepriesen, sein großes Herz, die geschickten Hände. Auf dem Kissen wurde geschwiegen. Das Kind hatte sich gründlich satt. Ich konnte nicht anders als es zu verteidigen. Es weinte. So fing es an: Zuerst konnte ich dem Kind nicht mehr helfen. Zuerst hat das Kind um mich geweint.

Einige Jahre später haben sie uns mitgeteilt, dass unsere Kinder unter aller Sau sind. Wir saßen in einem dieser aschfahlen, übellaunigen Klassenräume des Gymnasiums und wussten nicht, ob wir uns dazu äußern sollten. Eine Anwesenheitsliste ging herum. Jemand ratschte selbstsicher seinen Namen übers Papier. Mancher unterschrieb mit dem Vornamen seines Kindes. Ein Mann malte eine große Klammer um seinen Namen und den Namen seiner Frau. Wir sind zwar zu zweit gekommen, sollte das bedeuten, aber wir sitzen hier nur für einmal unter aller Sau.

Wortwörtlich sagten die Lehrerinnen das so natürlich nicht. Sie verlasen die Ergebnisse der Klassenarbeiten wie Vermisstenlisten. Sie atmeten hörbar tief durch, als es um Fehlstunden, Disziplinverstöße, anonyme Briefe und Drogen ging. Es hieß, manche Schüler seien vom Kiffen mittags so fertig, dass sie an den letzen Unterrichtsstunden nicht mehr teilnehmen könnten. Namen durften wie immer nicht genannt werden. Elternversammlungen pubertierender Klassen sind voller Tretminen. Wer sein Kind für unschuldig hält, kann in die Luft fliegen.

Die Lehrerinnen beschrieben, wie es ist, mit unseren Kindern Unterricht zu machen. Es schien, als würden sie dabei vor Unwohlsein aus den Sätzen kippen. „Früher waren nach dem Sommer die Mädchen unausstehlich, im Winter haben die sich dann beruhigt und es begann mit den Jungen“, sagte eine. „Heute kommt alles zusammen. Und dann dauert es auch noch länger.“

Die Pubertät läuft wie eine Krankheit ab. Trotzdem begannen einige im Raum, sich zu schämen. Es wurde was von Ohren lang ziehen gemurmelt. Man redete vom Durchgreifen, Grenzen setzen und auf den Tisch hauen. Eine Frau sprach für die ganze Runde, indem sie behauptete, wir hätten unseren Kindern den Anstand mit der Muttermilch mitgegeben. Alle drehten sich zu ihr um. Man starrte auf ihre Brüste.

Die Elternversammlung kippte. Der Klammermann bot sich an, der Schule, die mit unseren unmöglichen Kindern fertig werden musste, zu helfen. Seine Frau fragte: „Bist du noch zu retten?“ Eine Lehrerin schnäuzte sich. „Verzeihung“, sagte sie, „wir sind es nicht gewohnt, dass man uns zuhört.“

... „Du, ich hab noch mal nachgedacht. Das mit Lumpi ist keine so gute Idee.“ - „Warum DAS denn jetzt?“ - „Einfach weil er kein Mädchen ist.“ - „Oh, nein!“ - „Oh, doch.“ - „Das ist krass, Mama, das meinst du nicht ernst!“ - „Hör mal, ich hab auch mit Jungs im Bett gelegen.“ - „Das ist krass!“ - „Du kennst den doch erst seit heute Abend!“ - „Na und?“ - „Also, nein! Und überhaupt! In spätestens einer Stunde bist du bitte zu Hause!“ - „Mama, ich sag dir: Jetzt hast du Lumpi beleidigt!“ ...

Im Herbst hat mir ein Polizeihauptkommissar die Leviten gelesen. Er sprach über Junkies und Dealer, über Kriminelle aus Osteuropa, Huren, Neonazis, heißes Pflaster. Er stellte mir allen Ernstes diese Frage: „Was hat Ihre Tochter nachts um halb zwei im Park zu suchen?“

Das hatte ich mich auch mal gefragt. Es war lange her. Die Antwort kannte ich immer noch nicht. Ich war sicher, dass es eine gab. Das musste reichen.

Der Polizist erwähnte den Personalmangel bei der Berliner Polizei. Er sagte: „Ich bräuchte zwei Hände voll Männer, um ihre Tochter zu beschützen.“ Vor ihm lag eine Liste mit den Dingen, die man ihr beim Überfall entwendet hatte. Einiges hatte sich in der Dunkelheit schon wieder angefunden. Er strich es durch: Haarbürste, Lidschatten, Lippenstift. Er machte ein Gesicht, als würde ihm mit jedem Strich ein krimineller Osteuropäer durch die Lappen gehen. „Sie haben die Verantwortung“, sagte er. Mit diesem Argument hatte ich es auch schon öfter versucht. Es wirkte. Bei mir.

Ich ließ die Schlösser auswechseln, weil die Täter vom Park immer noch mit einem unserer Schlüssel unterwegs waren. Die Baseballkappe vom Notdienst schrieb den fetten Sonntagszuschuss auf die Rechnung. Meine Tochter schlurfte über den Flur. Während ich unser letztes Geld zählte, warf der Schlüsselmann ihr einen schmachtenden Blick zu. Ich war stolz auf sie. Sie schleuderte ihm einen ihrer vernichtenden, wortlosen Aussagesätze zurück.

Einmal meldete sich in der Nacht an ihrem Handy eine mir unbekannte Mädchenstimme. „Ihre Tochter kann jetzt leider nicht mit Ihnen sprechen“, sagte sie. Dann wurde aufgelegt. Ein anderes Mal hat ein Fremder sich mit ihrem Namen gemeldet. Ich sagte: „Ich bin die Mutter.“ Er antwortete: „Hallo, Mama!“ Er versprach, meine Tochter zu suchen. Ich hörte ihn lallen und stolpern und Türen aufbrechen: „Issehier?“ Gejohle. „Liegtsehier?“ Gebrabbel. Ich hielt den Atem an, während der Typ mich zu meinem Kind trug. „Woissndiemann?“ Plauz!

Ich lief auch los. Durch unsere Wohnung direkt in ihr Zimmer. Die Gardinen waren zugezogen. Das Bettzeug lag in einem riesigen Klumpen. Auf dem Laken fanden sich Spuren von Schminke und Kugelschreiber. Die Fernbedienung glotzte den Videorekorder an. Der Kleiderschrank stand offen, Sachen lagen über den Boden verteilt, der Papierkorb quoll über, es roch nach Haarspray, Schuhspray, süßlichem Parfüm. Ich war kurz vorm Platzen.

Die Pubertät spart nicht mit Angst. Sie lädt sie bei den Eltern ab und lacht sich kaputt darüber, dass sie es nicht schaffen, einfach drüber zu steigen.

„Mama?“, flüsterte das Kind. „Es tut mir so leid!“ Es klang verschlafen. Ich schaute ins Bad. Das Kind hatte weder Zahnbürste noch Nachtwäsche dabei. „Mir ist kalt“, sagte es. Wo stand das Auto? „Wo bist du?“, fragte ich. Das Kind murmelte was von Betten und Teppichen, auf denen sie wie die Sardinen lagen. Und dass es nicht genügend Decken gab. „Wo bist du“?, fragte ich. „Hier“, sagte das Kind. Ich flehte sie an: „Versuch zu schlafen!“

Im Grunde genommen hat es, seit es vor langer Zeit im Bett nicht einschlafen konnte, keine Fragen mehr beantwortet. „Wie geht es dir? Hast du eine gute Reise? Kann man was für dich tun?“ - „Weiß nicht“, sagt das Kind. „Hast du Besuch gehabt? Wie sind deine Zensuren ausgefallen? Würdest du gern Nudeln essen?“ - „Weiß nicht.“

Die Pubertät spart mit Informationen. Eltern, diese Wesen, die sich stets alles von ihrem Kindern genommen haben, müssen jetzt warten. Sie können die Momente auskosten, aber nur dann, wenn sie ihnen zufallen. Die Eltern Pubertierender sind immer bereit. Manchmal bekommen sie einen Hinweis. Es liegt ein Zettel im Flur, weil jemand angerufen hat. Drauf steht eine Nummer und ganz unten hat das Kind mit dem Namen unterschrieben. Hinterm Namen steht in Klammern: heute lieb. Heute ist die Pubertät ein Feiertag.

... „Kann ich heut bei Hicke pennen?“ - „Warum denn das?“ - „Mama, du kennst doch Hicke!“ - „Ich hab ihn mal gekannt, da wart ihr zusammen in der Grundschule. Ihr habt im Stuhlkreis über Haustiere geredet. Er wollte Haifischforscher werden.“ - „Ja, klar.“ - „Will er das immer noch?“ - „Weiß nicht.“ - „Ist Hicke jetzt auch dein Kumpel?“ - „Mama, was willste? Ich penn doch nicht allein bei dem!“ - „Ach so.“ - „Ne, Mama, Lumpi kommt auch.“

Nadja Klinger

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