„Der Herr Pichelmann würde gern einmal vorbeischauen, um zu sehen, wie man bei Ihnen alles ein bisschen billiger machen kann!“ Ich betrachtete den Milchschaum, der auf dem Boden meiner Tasse zurückgeblieben war. „Wann ist es Ihnen denn recht?“ fragte die Frau. Der Schaum, das waren kleine Blasen, die an der Oberfläche nach und nach zu platzen begannen. Es entstanden Luftlöcher, an deren Rändern bald die nächsten Blasen platzten.
Wann wäre es mir recht, dass alles ein bisschen billiger werden würde?
„Haben Sie gelesen?“ sagte ich, „nur noch 31 Prozent der Bevölkerung vertrauen den Versicherungen.“ - „Ach so?“, erwiderte die Frau. „Ich bin hier aber nur die Sekretärin.“
Im Sommer, als Herr Pichelmann das letzte Mal bei mir gewesen war, war der Versicherungsbeitrag tatsächlich um ein paar Einerstellen gesunken. Gleichzeitig waren verschiedene Komponenten aus dem Leistungspaket herausgefallen. Pichelmann, der mich einst von der existenziellen Notwendigkeit überzeugt hatte, in sein Leistungspaket zu investieren, tat nun so, als wäre da im Grunde sowieso ganz schön viel Schrott drin. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich war noch nie in der Situation gewesen, dass mein Versicherungsvertreter mich verunsicherte. Pichelmann erhob sich, zog das Futter aus seinen Hosentaschen und hielt die Hände mit den leeren Handflächen nach oben. Anstatt sich um mich zu bemühen, tat er, als bliebe uns allen, die wir kein Geld haben, nichts anderes übrig, als uns gegenseitig übers Ohr zu hauen.
„Die Leute haben sogar weniger Vertrauen in Versicherungen als ins Fernsehen“, hörte ich mich ins Telefon sagen. Früher hätte ich Mitleid mit der Sekretärin gehabt. Ich hätte Herrn Pichelmann schön grüßen lassen. Ich hätte vielmals dankend abgelehnt.
Heute lehne ich nichts mehr dankend ab, weil mir niemand etwas bietet. Auch weiß ich heute nicht mehr, wen ich grüße, wenn ich jemanden grüße. Wie geht's ihm? Kommt er klar mit seinem Geld? Muss er rechnen? Ist er berechnend geworden? Hält er sich noch an das, woran er sich immer gehalten hat? Oder hält er sich nur noch fest? Kennt er mich? In welchen Zwängen steckt er? Manchmal will ich Mitleid haben. Dann fasse ich in meine Taschen. Aber da ist nur das Futter und meine Hände leer. Schrott ist auch in meinem Leistungspaket nicht mehr drin.
Was machen die Sozialreformen aus den Menschen? Ist es gerechtfertigt, dass die da unten immer über die da oben schimpfen? Oder ist das Problem der Politik möglicherweise unser eigenes? Sind wir verzagt und mutlos? Sind wir hin- und hergerissen zwischen zu viel und zu wenig Reformen?
Im Frühprogramm wird gejubelt, denn in der Meinungsumfrage, in der Versicherungen so mies abschneiden, belegt das Radio Platz sechs. Gleich hinter den Gerichten und vor dem Bundespräsidenten. 59 Prozent der Bevölkerung vertrauen darauf, dass sie von Radio-Moderatoren nicht übers Ohr gehauen werden. Die beiden Männer aus dem Sender tun, als spürten sie plötzlich Verantwortung. „Uns fragt ja keiner.“ Mir fallen weiterhin nur Sprüche ein. „Und wenn sie fragen, dann ziehen sie trotzdem ihr Ding durch.“
Ich brauche Tabletten. Der Hausarzt weiß genau, welche. Nur weiß er nicht, ob er sie noch verschreiben darf. Seit diesem Jahr gibt es nur noch die Hälfte der Medikamente auf Rezept, die es im Vorjahr gab. Im Sprechzimmer klackert die Tastatur, und es surrt die Festplatte. Ich frage, was Patienten so fragen. Mein Doktor antwortet wie einem Kind, dem man nicht böse sein darf, auch wenn es einen von der Arbeit abhält. Jedesmal, wenn er ein Medikament in der Liste auswählt, baut sich ein Fenster mit einem anderen Medikament auf. Die Software empfiehlt das billigere. Der Doktor klickt es weg. „Es muss doch auch helfen“, sagt er zum Bildschirm. Der reagiert, indem er ein weiteres Billigfenster öffnet.
Ich fühle mich, als würde ich jetzt dringend Hilfe brauchen. Ich will keine Schmerzen mehr haben und bis dahin wenigstens eine tröstende Hand.
Die Hände des Hausarztes aber sind mit der Tastatur beschäftigt, mit dem Computer, der das alles nicht versteht. Die Schwester im Vorzimmer sammelt Euroscheine ein. Dann wäscht sie sich, weil sie Blut abnehmen muss, und Geld ist wirklich das Dreckigste, was es gibt. Dann nimmt sie erneut die Praxisgebühr entgegen, wäscht sich wieder. Ein Mann will acht Überweisungsscheine haben, damit er im laufenden Quartal nicht noch mal herkommen muss. „Ich glaube nicht, dass ich der Krankenkasse acht Überweisungen plausibel machen kann!“, ruft der Doktor durch die Tür, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.
Was ist überhaupt plausibel? Morgen dasselbe wie heute? „Früher gab es einmal im Jahr kleine berufspolitische Veränderungen, dann wurde unsere Software aktualisiert“, sagt der Arzt. „Mittlerweile habe ich drei Updates pro Quartal.“ Die Veränderungen sind jedesmal so groß, dass die Software im Grunde eine andere ist. Es ist weniger der Patient, auf den er sich in der Sprechstunde einzustellen hat, als vielmehr der Computer.
Eigentlich wollte ich etwas über Schwarzarbeit schreiben. Ich hatte eine Frage: Warum ist Schwarzarbeit bei den Deutschen nicht geächtet? Oder: Warum ist nicht wenigstens jedem klar, dass, wer schwarzarbeitet oder beschäftigt, Unrecht tut?
Ich sprach mit Familien, die erklärten, wenn sie ihrer Putzfrau nicht einfach mal so ein paar Euro in die Hand drücken könnten, dann würden sie eben gar niemandem ein paar Euro in die Hand drücken und selber putzen. Ich habe mit Müttern geredet, die gesagt haben, da gäbe es nichts zu reden.
Sie hätten immer nur ein schlechtes Gewissen, sagten die Mütter. Ihren Arbeitgebern gegenüber, weil ihre Einsatzfähigkeit begrenzt sei. Ihren Kindern gegenüber, weil sie mit ihnen an der Hand immer so hetzten. Indem sie ihre Babysitter bezahlten, sagten sie, kauften sie sich ein gutes Gefühl. Nicht, weil sie mal raus und ins Kino kämen. Vielmehr, weil ihr Leben dann lief, ohne dass das schlechte Gewissen mitlief. Weil sie dann so wie andere Menschen waren. Für ein paar Stunden am Abend. Wer sich ein so kleines Glück vom Munde abspare, weil es ihm ansonsten nichts gewährt wird, sagten die Mütter, zahle dafür nicht noch Abgaben an den Staat.
Ich habe mit Leuten gesprochen, die ihre polnischen Putzfrauen seit Jahren schon für einen Minijob anmelden wollen. Aber die Polinnen wehren sich. Sie sind wohl illegal in Deutschland. „Ich würde mir selbst einen Gefallen tun, wenn ich sie anmelden würde, aber nicht ihr“, sagte ein Mann. Da zahle er lieber Strafe. Ein Kneipenbesitzer fährt mit seiner bulgarischen Putzfrau regelmäßig zum Arzt und übernimmt die Rechnungen. Wieder ein anderer hat seiner Haushaltshilfe einen neuen Namen gegeben. Wenn er sie den Nachbarn vorstellt, nennt er diesen falschen Namen und dabei legte er wie bei einer Verwandten die Hand auf den Rücken der Vietnamesin.
Die Leute handeln geschickt und gleichzeitig halsbrecherisch. Sie gaben mir keine Antwort auf meine Frage zur Schwarzarbeit. Die Frage, bemerkte ich, war überhaupt gar nicht interessant.
Interessant ist, dass auf einer unteren Ebene der Gesellschaft das Leben so funktioniert, wie es eigentlich nicht zu funktionieren hat. Auf dieser Ebene wird das Recht gebrochen: das Steuerrecht, das Arbeitsrecht, Einwanderungsbestimmungen? und zwar grundsätzlich: in Wohnungen, Gaststätten und Bars, Handwerksbetrieben bis hin zu Arztpraxen. Alles ist anders auf dieser Ebene. Man fragt Ausländer nicht, was sie hier zu suchen haben. Man vertraut ihnen. Man gibt ihnen sogar die Wohnungsschlüssel. Man geht in die Bar, die nur existieren kann, weil sie Geld am Finanzamt vorbeischmuggelt. Niemand petzt. Man ist pragmatisch im Umgang mit dem Gesetz. Einer wie der andere wissen sie, was depressive Menschen nicht wissen: Was zu tun ist.
Die Besitzerin einer kleinen Tapas-Bar rechnete mir vor, dass sie sofort bankrott wäre, würde sie ihren Tresenmann und die Bedienung anstellen und dann Abgaben zahlen. Aber die Rechnung interessierte mich nicht mehr. Ich beobachtete, wie die Frau sich mit ihrem schmalen Körper an eine dicke Strippe hing und die Jalousien hochzog. Dann blickte sie durch die Scheibe ins regennasse Dunkel und suchte nach Gästen. Im Winter musste sie den Tresenmann und die Bedienung oft wieder nach Hause schicken. Dann blieb sie allein in der Bar und machte ein bisschen sauber, was niemand dreckig gemacht hatte.
Ich dachte: Wenn du sie in die Zeitung bringen willst, dann muss sie von draußen durch die Scheibe fotografiert werden. Im Moment des Auslösens müsste - zu ihrer Sicherheit - der Fensterputzlappen genau vor ihrem Gesicht sein. Aus Notwehr gegen diesen Unsinn, dachte ich, sollte ich meinen Text nicht schreiben.
In der Kindertagesstätte drücken sie mir am frühen Abend einen Elternbrief in die Hand. Im ersten Teil des Schreibens wünscht man für die kommenden Monate bestes Gelingen. Danach steht aufgelistet, was gelingen soll: Die Vollzeitkräfte in der Einrichtung arbeiten nach neuem Tarif. Das heißt: 38 statt 40 Stunden pro Woche. Macht weniger Zeit für die paar hundert Kinder. Das Gehalt jeder Erzieherin wurde um zehn Prozent gekürzt. Es wird mit Freizeit ausgeglichen. Jede Erzieherin hat also noch mal 14 Tage weniger Zeit. Außerdem sind die Näherin und alle technischen Kräfte in der Reinigung dem Überhang zugeordnet worden. Sie können jederzeit aus der Kita abgezogen werden. Das Bezirksamt hat eine zusätzliche Arbeitskraft beauftragt, bei all dem Schwund im Haus den Mitarbeitern ein bisschen auszuhelfen. Die Arbeitskraft wird der Kita aber nur geliehen und bei Bedarf sofort zurückgeholt. Unterm Strich bleiben: immer noch dieselben Kinder. Dieselbe Anzahl, besser gesagt. Ein paar Hundert.
In der Schule tritt jetzt auch ein neues Gesetz in Kraft. Vor der Elternversammlung der Gymnasialklasse reden die Lehrer über dieses Gesetz wie über die komplizierte Bedienungsanleitung eines Gesellschaftsspiels. Wenn sie die Anleitung eines Tages verstanden haben, macht das Spiel sogar Spaß, hoffen die Lehrer. Das ist das einzig Hoffnungsvolle an ihren Ausführungen.
Im Kunstunterricht soll die Klasse das Chaos malen. Ein Schüler zeichnet ein Sofa in die Mitte des Papiers. Darauf setzt er jemanden. Mehr nicht. Die Leere gähnt einen vom Bild her an. Dazu schreibt der Schüler den geforderten Text zur Erläuterung des Bildes. Er erklärt, warum er sich lieber für den Moment vor oder nach dem Chaos entschieden hat. Es wird eine kleine Geschichte darüber, wie ein junger Mensch mehr und mehr seine Kräfte sortiert, wofür er sich schließlich verausgabt und wie er überlebt. Der Schüler bekommt eine sechs. Er genügt den Ansprüchen nicht, weil er nicht das Chaos gemalt hat.
Nadja Klinger