Aber der Reihe nach. Warum die Bläsche Ida – eine kleine, mittelalte Person, die mit festen Schritten den Lebensabschnitt passierte, in dem Frauen immer interessanter werden, die das weibliche Hinterteil quasi erfunden hatte und bei deren Erscheinen sich plötzlich Gegenstände bewegten (wenn sie einem Mann die Aussicht auf sie versperrten) – „das Frauenzimmer“ genannt wurde? Dafür gab es einige Erklärungen. Für mich damals die beste: „Das sagt man eben so.“ Ich kam gerade in das Alter, da einem gewohnheitsmäßig die Frage rausrutscht, während man schon ahnt, dass man die Antwort gar nicht hören will.
Heute sehe ich ganz klar folgende Erklärung auf Platz 1: Die Bläsche Ida war ein rätselhaftes Gebäude, so wie alle Frauen, doch gab es, gemessen an unserer kleinen Stadt, viele Männer, für die sich wenigstens einmal ihre Tür und damit ihr Inneres aufgetan hatte, die eingedrungen waren – nicht allzu weit, denn es waren normale Männer, unversehens auf die Bestenliste einer Mitbürgerin geraten, besessen von der Hoffnung auf ein nächstes Mal. Hierbei handelt es sich um meine eigene Erklärung.
Äußerst beliebig war das Verfahren, nach dem „das Frauenzimmer“ den einen Mann einließ, den anderen nicht, diesen öfter, jenen dafür nie wieder. Das stand der Dame natürlich zu. Sofern es nicht um anschaulich messbare Handlungsergebnisse geht, bestehen Bestenlisten aus reiner Willkür. Uns etwas mitzuteilen, ist nicht ihr Zweck. Vielmehr haben sie einiges zu verschweigen. Zum Beispiel: Unter den Besten und Allerbesten auf der Liste des „Frauenzimmers“ (Gierige, Gewissenlose, Lügner, Ehebrecher) war kein einziger Guter.
Nun gut. Zurück zu jenem Tag, an dem die Bläsche Ida, Näherin in den Ziegelsteingebäuden unserer Textilfabrik – ein volkseigener Betrieb, der so bedeutend war, dass er mit seinen Ausscheidungen einen Fluss verfärben durfte, der in die Hauptstadt floss – in der „Straße der Besten“ aufkreuzte. Selbstredend hat das Ereignis unsere Kleinstadt, wo die wenigsten je m i t der Bläsche Ida, aber die meisten ü b e r sie redeten (die Frauen so, als wäre es möglich, sie mit Geschwätz aus der Welt zu schaffen, die Männer so, als wären sie einander in ihr begegnet) aufgescheucht.
Die Neuigkeit drängte sich zwischen die Passanten auf den Gehwegen, wo man also aus dem Trott kam, plötzlich die Richtung wechselte und rempelte. Die Neuigkeit scheuchte die Leute vor der Post auf, so dass die Hölzel Renate, Spaßbremse aller Warteschlangen, das Buch zuklappte, das sie stets dabeihatte. Die Neuigkeit brach ins Rathaus ein, wo sich der Jeschke Günther, seit 23 Jahren ohne Gegenkandidat Bürgermeister, stets sicher gefühlt hatte; sie nahm sich des zeitlosen Geschnatters im Frisörsalon der Bachmann Karola an, grätschte in die Arroganz der Mechaniker in Hempel Olafs Autowerkstatt, lauerte an der Bushaltestelle den Heimkehrern auf, und setzte schließlich die Alten in Kenntnis, die im Konsum mit den rollenden Taschen zwischen Flaschenannahme, Backstand und Gemüsekisten feststeckten. Jetzt also die Bläsche Ida!
Ich hab’s erfahren, als die Adam Elsa heimkam. Die ich natürlich nur Elsa nannte: eine steinalte, wackelige Verwandte, die heute jedoch mit einem gewissen Zack-Zack-Zack zu Hause eintraf – an diesem Tag, der uns daran erinnerte, dass wir nur zum schönen Schein alle irgendwie einander gleich sind. Dass das Leben kein Aufenthaltsort, sondern ein andauerndes Turnier ist, für das wir uns durch unsere Geburt automatisch qualifiziert haben, und aus dem wir erst ausscheiden, wenn wir sterben. Die Elsa starb jetzt noch nicht, aber nach dem strammen Heimweg sackte sie wie gehetztes Wild, das sich in die Höhle gerettet hat, zusammen. Dann aber war sie plötzlich wieder auf den Beinen, um sich zurechtzumachen.
Es schäumte im Bad, es raunte im Kleiderschrank, frohlockte in der Schmuckschatulle. Elsa machte sich auf den Weg zur Feier, die üblicherweise jeder zu geben hatte, der – offiziell – unter die Besten unserer Kleinstadt geraten war. Das war nicht nur in der Textilfabrik möglich. Auch in der Gärtnerischen Produktionsgenossenschaft. Sogar an der verschlossenen Baracke des Forstbetriebes hing eine Bestenliste – bleich vom Licht, hinter Glas im Schaukasten. Der verschnupfte Warteflur im Ambulatorium war eine „Straße der Besten«. Bei der Post, wo stets mehr Leute warteten als arbeiteten, gab’s „Unsere Besten“. Außerdem: an der Tankstelle, bei der Fußpflege, auf unserem kleinen Stadtfriedhof. (Das Geheimnis der Bestenlisten ist: Sie halten die Leute davon ab, sich dafür zu interessieren, auf welche Weise die Listen eigentlich zustande kommen.)
Jeder, der am Abend dieses Tages geschmückt und frisiert zum Schnapstrinken bei der Bläsche Ida aufbrach, wusste, dass diese nicht einfach so auf die „Straße der Besten“ gelangt war, sondern eben besonders gut und schnell gearbeitet hatte. Das war Bedingung. Man musste die Norm brechen. Besser sein als gewöhnlich. Das übliche Arbeitstempo diskreditieren, sich vom Alltag, von den Kollegen absetzen. Irgendeinem passierte das immer, ob er wollte oder nicht. Normbrechen war normal, alle waren’s gewöhnt, vielen galt es geradezu als willkommene Abwechslung: Alle saßen im Karren, und der, der eben grad der Beste war, ritt voran.
Vor vielen Jahren hatte auch die Adam Elsa in einem der Ziegelsteingebäude der Textilfabrik an der Nähmaschine gesessen. Damals schneiderten sie dort Uniformen, zwei verschiedene Modelle in jeweils großer Serie im Abstand von kaum zwei Jahrzehnten. Ab 1940 wurden die Besten im Werk mit dem Ehrenzeichen »Pionier der Arbeit« markiert. Die Auszeichnung, gestiftet vom Führer, galt als „die Krönung des Leistungssystems“. Sie sollte Vorbilder schaffen und zu „höchsten Leistungen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht“ anstiften. Elsa wurde nie zum Vorbild. „Aber schön wär’s gewesen“, meinte sie. Und fügte hinzu: „Das sagt man eben so.“
Mittlerweile produzierte die Textilfabrik serienweise so genannte Jugendmode. Vorbilder wurden jetzt nicht mehr gekennzeichnet, sondern in der Mittagspause vom Betriebsfotografen abgelichtet. Die Porträts kamen auf die „Straße der Besten“: auf eine Wandzeitung in der Produktionshalle, eins neben dem anderen, so dass alle, die hier zugange waren, unweigerlich vor ihnen defilierten. Manche Kollegen behaupteten zwar, mit Vorbildern nichts am Hut zu haben. In der rappelvollen Stube im Haus der Bläsche Ida jedoch trank niemand einfach nur seinen Schnaps. Man hob die Gläser, sprach dem Anlass des heutigen Zusammenseins zu, stieß ausgiebig an, verschüttete viel und schenkte viel nach, gab sich bis weit in die Schlafenszeit hinein der Idee von der Bestenliste hin: Das Gute macht zufrieden, aber es berauscht eben nicht; das Beste hingegen, das dreht.
Dem ein oder anderen löste der Alkohol die sonst so schwerfällige Zunge und er drehte sich schön um sich selbst. Andere bewegten sich nicht (bis auf den Arm, der das Glas zum Mund führte), sahen nur zu, wie sich die Stube mit den Möbeln und Leuten drehte, und genossen es, im Mittelpunkt von allem zu sein. Dann war da noch die imposante Anzahl von Männern, die, jeder für sich und still und leise, eine Runde durchs Haus drehte. Diese Heimlichtuer waren irgendwann schon einmal in der Stube des „Frauenzimmers“ gewesen. Manche von ihnen wollten überprüfen, ob stimmte, was die Bläsche Ida damals behauptet hatte: dass es bei ihr kein weiteres Zimmer mehr gab. Unterwegs trafen sie dummerweise auf die anderen Männer ihrer Bestenliste. Auf die, die sich hinter jeder Tür im Haus bereits auskannten.
Das alles ist lange her. Ich war ein Kind und erinnere mich: an eine Zeit, in der ich dachte, dass die Vokabel Vorbild ein Synonym für die Vokabel Porträtfoto ist; an Listen, die ein Ziel, an Wandzeitungen, die Straßen sein sollten; an die Männer und Frauen, die den Schnaps der anderen Männer und Frauen bezahlen mussten, weil sie „unsere“ Besten waren.
Heute ist eigentlich nichts mehr wie damals und der nüchterne Rückblick ist dem Geschehen auch nicht so gewogen wie die Geschichte, die ich aus meiner Erinnerung hole. Die Bestenlisten waren da, sie waren überall, sie waren kein Problem – aber sie verkörperten das Problem. Sie behelligten uns mit ihrer Auffassung davon, was gut ist. Sie ließen uns gegeneinander antreten. Auch wenn sie uns nicht überzeugen konnten, platzierten sie in unsere Köpfe ihr Denken.
Der nüchterne Rückblick wirft Fragen auf: Fand man es, lange vor meiner Zeit, in unserer Kleinstadt auch berauschend, der Beste bei der Fertigung von Kriegsuniformen für die Nationalsozialisten zu sein? War es gut, zu meiner Zeit davon abzusehen, dass im sogenannten Bruderland Sowjetunion die „Tafeln der Besten“, auch als „Rote Tafel“ bezeichnet, nicht nur in Fabriken hingen, sondern in jedem Dorf, Kreis, in allen Städten und Republikhauptstädten? Dass man dort also miteinander nicht nur um gute Arbeit, sondern auch um das beste Leben kämpfte? Dass man unter und über der Norm aufstehen, kochen, essen, reden, spielen, lieben, schlafen konnte? Dass, genaugenommen, beides nicht normal war? Und wie erging es eigentlich dem Sowjetbürger, der auf der „Schwarzen Tafel“ landete, die es ebenfalls überall gab und die auch „Tafel der Schande“ genannt wurde?
Der nüchterne Blick zurück sagt: Unsere Bestenlisten waren zu überschauen, zu verstehen und sie hatten einen Sinn. Das war unser Dilemma. Der Mensch muss sich im Dasein orientieren. Der Blick ins Heute, wo wir nicht mehr unterm Dach eines dürftigen Ideengebäudes, sondern in einer riesigen Markthalle leben, registriert: Wir wollen uns immer noch zurechtfinden. Unsere Bestenlisten sind weit über das Wandzeitungsniveau hinaus. Das ist unser Dilemma. Wir lassen uns drauf ein, dass unser Orientierungsbedürfnis gestillt, zugleich notorisch unbefriedigt bleibt.
Die Bestenlisten lassen uns nicht defilieren, sind ansonsten immer noch dieselben. Sie nennen sich: „Best of ...“, „Die zehn besten ...“, „Das Produkt des Jahres ...“, „Experten empfehlen ...“, „Unsere Lieblinge ...“, „Gold, Silber, Bronze ...“, „Platz 1 bis 10 ...“, „Die Testsieger ...“, „Die Liste der ...“, „Weltweit das Beste ...“. Sie sind genauso wenig harmlos wie einst. Wir sehnen uns nach Wünschen und Neigungen? Die Bestenliste schickt uns welche vorbei. Wir würden gern eine Haltung einnehmen? Sie offeriert, wie sich andere halten. „Wer dies kaufte, kaufte auch das ...“; „Sie haben das gerade A gesucht, dann freuen Sie sich bestimmt, nun B zu finden ...“ ; „Andere fanden das hier gut ...“
Bestenlisten offerieren Möglichkeiten und Geschmack, ihre Auffassung von Erfolg, ihre Bedingungen. Wir haben immer noch nichts mit Vorbildern am Hut, wir konsumieren nur. Das, was die anderen auch konsumieren. Denn das Leben ist ein Turnier: Wir sitzen alle in einem großen Karren und der Bestseller reitet voran. Dabei wissen wir: Jenseits der Sportarena (und der Textilfabriken), überall dort, wo weder Zeiten, Weiten, Höhe, Gewicht gemessen noch Tore geschossen (oder Normen gebrochen) werden, bleibt unklar, was per se gut ist, wie es per se besser werden kann und was per se das Allerbeste sein könnte.
„Schön wär’s gewesen“, hat die Adam Elsa gesagt. Es gibt kein einziges Porträtfoto von ihr. Ihre Letzte „Straße-der-Besten-Feier“ war die in Bläsche Idas Haus. Sie war sich nicht sicher, ob der Adam Georg sich dort nicht auch hinter jeder Tür bestens auskannte. Sie war eine gute Frau. Sie nannte ihn: „Meine bessere Hälfte.“ Sie war auch im hohen Alter noch gesund und ist, für viele unerwartet, plötzlich bei ihm auf unserem kleinen Stadtfriedhof aufgekreuzt. Sozusagen. Liegt dort neben ihrem Mann. In einem Grab an der Mauer, nicht auf der „Straße der Besten“. Da war sie schon, als sie noch lebte. Immer. Für den Adam Georg und für mich.
Nadja Klinger