Bei der rot-weißen Markierung an der Bergwand stiegen nun auch wir nach oben, in den Nebel hinein. Wir kletterten gebückt von Felsbrocken zu Felsbrocken. Unsere Augen führten die Füße an unsichtbaren Fäden wie Marionetten. Wenn Platz für zwei Schuhe nebeneinander war, richteten wir uns auf, um den Gleichgewichtssinn daran zu erinnern, dass wir ihn heute mehr als an allen anderen Tagen brauchen würden. Doch er tat sich schwer. Im Nebel lässt sich nichts ausbalancieren. Und ein Rucksack von elf Kilo zieht den Körper, der aufrecht mit dem Gesicht zum Berg steht, an den Abgrund.
Im Dunst unter uns wandelten dumpfe Geräusche: Stimmen, Tritte, Atemzüge. Wer uns nicht vorausgegangen war, folgte uns. Einer nach dem anderen, bis die Hütte leer sein würde. Als hätte es die letzte Nacht nicht gegeben. Nicht die Fragen am Morgen. Als wären nicht eben noch, beim Frühstück, auf vielen Mobiltelefonen dringliche Bitten von Daheim eingegangen: Warte! Geh nicht! Überleg noch mal! Zu viele Ungewissheiten! Warum so ein Risiko! Als wäre nicht mit besänftigenden Versprechen geantwortet worden.
Vielleicht hatten die Versprechen uns selbst gegolten. Wer etwas zusichern kann, ist Herr der Lage. Nun herrschte: die Lage über uns.
Alle besaßen wir hochalpine Erfahrungen. Wir hatten uns gründlich mit der anspruchsvollen Bergwanderroute befasst, die uns eine Woche lang auf bis zu 2 500 Metern von Hütte zu Hütte führen würde: entlang an steilen Flanken, über Grate, Blockwerk und Leitern, durch Rinnen und ausgesetzte Kletterstellen. Wir verspürten Gewissheit, weil wir „so etwas“ schon gemacht hatten. Genauer gesagt: weil wir geübt darin waren, uns darauf einzulassen, dass hoch oben im Gebirge nichts vergleichbar ist.
Wir kannten in den Alpen jeden möglichen Untergrund. Wenn unsere Gedanken von der Frage „Wo setzt mein Fuß sicher auf?“ abschweiften, bemerkten wir es und holten sie zurück. Wir waren das, was Warnschilder der Alpenvereine „trittsicher“ nennen, hatten unzählige Male auch in Bewegung das Gleichgewicht gehalten und ein Rutschen mit dem nächsten Schritt ausgeglichen. Unser Respekt für die Berge war nützlich und belastend; alle waren wir schon mehrmals an Stellen gekommen, wo jemandem ein übernächster Schritt nicht vergönnt gewesen war.
Wir wussten, dass kein Verlass war: auf unsere Schwindelfreiheit ebenso wenig wie aufs Gestein. Dass Wasser unberechenbar und gewalttätig ist. Dass das Wetter alles, was wir über die Berge wussten, prompt verändern konnte. Wir wussten, dass ein einziger Vergleich oben wie zu Hause galt: Um so länger man unterwegs ist, desto mehr Fähigkeiten verliert man.
War ich an diesem Morgen die einzige, die sich mit dem Ort, über den sie so viel wusste, nicht verbunden fühlte? Die sich in einer nicht geeigneten, in ausgesetzter Lage zu jener Welt wähnte, in der sie sich aufhielt? Die an diesem Ort festhielt, zugleich abirrte? Egal. Es war nur ein Gefühl.
Was in der letzten Nacht geschehen war, kam nicht unerwartet. Bereits am späten Nachmittag – alle Schlafgäste waren in der auf knapp 2000 Meter wie auf einem Mauervorsprung in der Bergwand hockenden Hütte eingetroffen – trieben plötzlich Wolken heran, die binnen Minuten Form und Farbe wechselten und sich unerwartet dicht zusammenschoben. Wir beobachteten. Jeder sah, was er sehen wollte. Wir beratschlagten. Auffassungen, Vorurteile, Optimismus und Pessimismus, selbst Erlebtes sowie Geschichten, die aus Horrornachrichten der Bergrettungsdienste gemacht waren, maßen sich miteinander. Derweil wurde unsere Ausrüstung, die zum Trocknen auf der Leine hing, von ersten Windböen gepeitscht.
Die Meinungsverschiedenheiten darüber, ob es zu gefährlich war, am nächsten Morgen loszugehen – über einen schwarz gekennzeichneten, besonders schwierigen Weg, der uns neun Stunden kosten und unterwegs kaum eine Chance bieten würde, vom Berg wegzukommen –, hatten sich auf die abendliche Tischordnung im Speisezimmer ausgewirkt. Man zog es vor, mit Gleichgesinnten zu speisen. Von einem Wird-schon-alles-Tisch verbreitete sich die Nachricht, draußen gäbe es nun Fön, der schiebe das Wetter, das am Himmel hängt, weg. Prompt wurde an den Was-wenn-Tischen, wo man sich nach Ermutigung sehnte, die übliche Nebenwirkung dieses trockenen Fallwindes verzeichnet: starker Kopfschmerz. Nicht schön, aber herzlich willkommen.
Das einzige, was wirklich alle Gäste zu fürchten hatten, waren Blitze. Der Bergwetterdienst wurde angerufen. Nun stand das volle Programm Unheil in Aussicht: Sturmböen, Regen, Neuschnee, am Nachmittag Gewitter. „Ab wann ist Nachmittag?“ Der Hüttenwirt, ein Mann, der von Mai bis Oktober im karierten Hemd in der Höhe lebt, Essenzeiten und Nachtruhe festlegt und jeden Gast, der sich angemeldet hat, aber nicht aufkreuzt, suchen lässt, sah aus dem Fenster über die Gebirgszüge, die grau und konturlos den Horizont versperrten, und antwortete: „Ab 20 Uhr.“ Und ein Mann gab zum Besten, dass einmal die Ladung eines Blitzes schon in der Kapuze seiner Regenjacke vibriert hatte, als weit und breit weder eine dunkle Wolke zu sehen noch Donner zu hören war.
Wer im Leben nach Orientierung sucht, setzt auf andere. Viele wissen mehr als wenige. Ein Gedanke, den jemand teilt, ist zahlreich. Dennoch haben Heidi und ich schon vor Jahren aus dem Gebirge dieses Gebot mitgebracht: Du sollst andere nicht nach dem Weg fragen! Es gilt für jede Gegend, in der wir spüren, dass sie wesentlich anders ist als der Ort, der uns gemacht hat. Gerade fern der Heimat kann man mit nichts sicherer sein als mit sich selbst.
Man leerte die Gläser und drängte aus der Tür und in den Waschraum. Dort standen wir dicht an dicht unter der schwachen Lampe, rund dreißig Frauen und Männer jeden Alters, die kaum etwas voneinander wussten, keine Vornamen kannten, und mir fiel auf, dass unsere Zahnbürsten einen harmonischen Klang erzeugten. Dass wir alle von ein und derselben Partitur spielten. Unsere Musik, fand ich, hörte sich an wie das Pfeifen im dunklen Wald.
In der Schlange an der Kaltwasserdusche, die sich hinter einer Holzwand im Freien befand, korrigierte mich jemand. Er denke eher an die „Zillertaler Schürzenjäger“: Über die Berge zieh’n Nebel, die Gipfel sind noch eingehüllt / doch merklich wird’s heller, die Sonne kommt raus / und breitet ihr Licht langsam aus. / Stille in den Bergen, Schönheit dass das Auge fast scheut / so klein ist der Mensch, so groß diese Pracht / ein Danke dem Herrn, der das alles für uns hat gemacht. / Der Frieden verfängt sich im Wind / man fühlt sich so leicht, vergisst Pflicht und Zeit / Man könnte fast weinen vor Freud/ Holl ja diri – holl ja diri – holl ja diri ...
Man stieg die enge, unbeleuchtete Holztreppe hinauf. Man stieß sich. Stolperte. Scherzte. „Abgestürzt?!“
Ich war als erste an der flachen Pritsche in unserem Schlafraum und warf mich auf den Platz ganz am Rand, unters Fenster. Kariertes Kissen mit Wolldecke. Das Licht ging aus. Der Mann zwei Kissen weiter flüsterte in Heidis Nacken: „Wirst du’s tun?“ Sie fragte: „Und du?“ Er schlief ein.
Und ich? Dachte. Dass auch ich schlafen müsste. Ich erläuterte mir, dass die Nacht zum Kräfte sammeln da ist, und entgegnete mir, dass ich ausreichend fit war, um Schlaflosigkeit auszugleichen, also lieber noch Wetterinformationen einholen wollte.
Ich roch die Bergwand, die eiskalt ins Fenster hineinatmete. Ich war anwesend, als ein grober Sturm den Dachvorsprung attackierte, klappernd herumwirbelte, wieder abzog, neue eckige Böen schickte. Ich belauschte den Nieselregen, der akribisch das Gestein einpinselte und die verlässliche Konsistenz der Pfade verdarb. Dann ging ein Starkregen auf meine Wolldecke nieder. Ich ließ das eine Weile zu, beinahe entzückt, denn ich dachte: Die Berge werden immer gefährlicher und die Gehzeit wird länger – niemand wird morgen früh losgehen! Ich rückte an Heidi heran und fand dort Schlaf.
Ich erwachte. Hörte, dass der Regen immer noch die Berge verdarb. Sah das Gebirgsmassiv hinter geschlossenen Augen: wie breite, starke Bäche den Höhenweg kreuzten, wie sich Geröll löste, gefährlichen Muren abgingen. Und schlief beruhigt wieder ein. Ich wandelte durch einen Traum, der kratzte wie meine Decke und in dem ich meinem eigenen Herzschlag begegnete. Ich grüßte ihn, doch er kannte mich nicht, dann fiel und fiel ich aus dem Traum heraus. Das tat ich oft. Hier passte es.
Heute Morgen hatte der Regen aufgehört. Und: die Treppe geknarrt. Das kennt man aus Berghütten. Jemand geht vor allen anderen los. Und löst damit Richtung und Tempo aus. Beim Frühstücken wehrte fast die ganze Hütte besorgte Anrufe und Sprachnachrichten ab (Heidi und ich beteuerten, auf uns aufzupassen) und machte sich ebenfalls auf den Weg. Der Wirt verabschiedete uns mit den Worten: „So beginnen die schönsten Tage im Gebirge!“
Als Heidi und ich schon eine Weile im Aufstieg waren, löste sich der Nebel auf. Ich blickte an meiner Schuhspitze vorbei direkt unter mich – da stand, ganz klein, unsere Hütte. Ich drehte mich wieder zum Hang, da war eine Gedenktafel am Felsen. Genau dort, wohin ich den nächsten Schritt setzen sollte. Hans, stand geschrieben, habe sich von hier in die Ewigkeit aufgemacht: Um acht ging er aus der Hütte fort, um neun war er schon dort. Ich sah noch einmal über meine Schuhspitze in die Tiefe ... Hüttenwirt! Der muss dir aufs Dach gefallen sein!
Nach einer Stunde Klettern kamen wir auf einen engen Pfad. Neben dem rechten Schuh ging’s steil hoch, neben dem linken tief hinab. Wir passierten weitere Gedenktafeln. Eine Frau. Ein Mann. Ein Junge. Ein Paar. Wir blieben nicht mehr stehen. Würgten Worte hinunter. Jede hielt sich selbst vom Nachdenken ab. Das Gelände war sauerstoffarm und tückisch, der Weg ausgesetzt. Sollte aus einem Stolpern ein Sturz werden, war einem der Tod sicherer als das Leben.
Alle Sinne halfen beim Weitergehen. Die Haut mag das Abkühlen der Luft und auf der Zunge schmeckt die Feuchte, die schlechtem Wetter vorauseilt. Das Auge nimmt weniger Steilheit wahr, wenn der Abgrund statt aus Geröll mit Gras überzogen ist, es misst dem tückischen Gefälle kaum noch Bedeutung bei, wenn gar Blumen oder Disteln dastehen. Es mag herabstürzende Bäche, trotz alledem. Die Ohren werden von der abartigen Höhenstille, in der sie Steinschläge und Wasserkraft wahrnehmen, in wohltuende Alarmbereitschaft versetzt – doch kaum pfeifen Murmeltiere, lassen sie von den Gefahren der Bergen ab.
Sobald wir einen Hang passiert hatten und in den nächsten stiegen, konnten wir weit blicken. Der Himmel indes senkte sich. Das üble Wetter nahte. Wir vergewisserten uns, einen Plan zu haben. Wir würden auf das extrem nasse Gestein achten, dennoch nicht langsamer als sonst passieren. Schwindelgefühle sollten wir uns aus dem Kopf schlagen, Verletzungen nicht zu lange behandeln. An keiner Stelle der Route, und wäre sie noch so ausgesetzt, abgründig, unübersichtlich, durften wir lange nachdenken, ob wir sie uns zutrauen oder nicht. Würde eine zögern, müsste die andere sie antreiben.
Der Plan war angemessen, aber nicht gut. Es war, als wandelten wir auf der Grenze: zwischen den Frauen, die wir hier oben waren und denen, die wir eigentlich sind. Neben unseren Tritten brach die auserlesene Gebirgswelt jäh ab und stürzte in die Tiefe: Weit unten waren Häuser, Felder, Brücken, Straßen, Flüsse, Bäume, Vieh, Fahrzeuge zu erkennen – ein Tal, dessen Namen ich nicht kannte, eine simple Welt, der man nicht ausgesetzt, sondern in die man eingebunden war – zusammen mit allen Wahrscheinlichkeiten und einer verlässlichen Beziehung von Ursache und Wirkung. Über dieser Welt, Hunderte Meter unter uns, hingen Wolken. Ich erkannte mich nicht wieder: Noch nie war ich neidisch gewesen auf diejenigen, die der Wolken Schatten traf.
Ich sehnte mich nach mir. Ich wollte so sein können, wie ich gemacht war: unbequem feinfühlig, wild entschlossen, unbeweglich in der Menge, leidenschaftlich in selbst erwählter Gesellschaft, autonom. Ich wollte meinen eigenen Radius ausschreiten. Mich entscheiden. Und aushalten, dass andere etwas anderes taten als ich. Ich wollte nicht mitten in der Murmeltierherde mit putzigen Jungtieren sitzen und denken, dass ich heute morgen nicht hätte losgehen sollen.
Nach über zwei Stunden fiel von rechts Wasser über uns her, das schneller war und aggressiver als alles Wasser zuvor. Wir wateten tiefer, wurden gestoßen, wankten. Der Regen der vergangenen Nacht drängte genau hier ins Tal, weil es eine Art Schneise im Geröll gab: die letzte Abstiegsmöglichkeit. Wir brauchten über sechs Stunden, um vom Berg zu kommen. Das Wasser begleitete uns. Wir verloren die Wegmarkierungen. Irrten. Fluchten. Steckten im Schlamm. Duckten vorm Geröll ab. Rutschten. Verletzten uns, nahmen etwas gegen die Schmerzen, wurden von Insekten zerstochen und, bereits im Tal, von rasenden Mutterkühen in einen Fluss getrieben.
In den Tagen drauf versuchten Hubschrauber, in Wolkenlücken vorzustoßen. Es hieß, das Retten sei hoch oben derzeit kaum möglich. Wegen enormen Schneefalls wurden Abschnitte des Höhenwegs gesperrt. Wir stiegen frühmorgens auf, nachmittags ab, waren bereits unterhalb der Waldgrenze, wenn das Wetter zu wüten begann. Das Hoch und Runter setzte uns zu, und als ein Hüttenwirt den Abstieg verbot und uns Schlafplätze zuwies, pumpte mein Herz eine Nacht lang nach Sauerstoff, der nicht vorhanden war und ich lag abermals wach: höhenkrank. Auch eine andere Wirtin ließ uns nicht weiterziehen. Wir winkten ab: Dauerregen konnte uns nichts anhaben. „Ich weiß, ihr seid gut und kräftig, aber die Berge sind jetzt weich“, sagte sie. „Sie werden heute brechen.“
Nadja Klinger