Das war’s dann mit diesem Tag. Mit dem Morgen, der von manchem schon Ahnung hatte, aber nicht wirklich wissen konnte, was kommt. Mit der Mittagszeit, die die Beine baumeln ließ – bequem sitzend auf dem, was schon hinter ihr lag, den wachsamen Blick jedoch nach vorn gerichtet auf das, was noch geschehen konnte. Mit einem schön ruhigen Abend, der alles Vorgefallene in den Griff bekam, oder einem aufgewühlten, an dem noch einmal viel geschehen ist.
Binnen Minuten, in denen das Licht noch winkt, wird es dunkel.
Unser reges Leben, das hat die Natur für die Menschen organisiert, spielt sich überwiegend bei Sonnenlicht ab. Unermüdlich am Tage, verschnaufen dann bei Nacht. So der große Plan. Denn allzu vieles treibt uns um. Wir können direkt darauf zugehen oder davor weglaufen, jedoch gelingt das nur, wenn wir sehen. Im Sommer sehen wir länger als im Winter. Am besten im Juni, bei Sommersonnenwende, an diesem einen, dem längsten Tag im Jahr. Die allermeisten Menschen feiern ihn jedoch auf stille Weise, so als hätten sie schon genug vor Augen gehabt, als besäßen sie nicht mehr als noch ein paar Hoffnungen sowie ausreichend Erfahrung damit, wie es ist, wenn diese zerplatzen.
Nördlich von uns Deutschen, bei den Skandinaviern und Balten, ist der höchste Sonnenstand das größte Fest nach Weihnachten. Man schmückt sich gleich am Morgen, tanzt und spielt mit Freunden und Nachbarn, verspeist Jungkartoffeln, Hering, Knäckebrot, zündet Feuer an. Schließlich haben alle so viel Schnaps getrunken, dass ihr Rumoren und Gegröle die Elfen und Trolle weckt, dass die Natur aufschreckt und geschwind ihre magischen Kräfte entfaltet. Oft ist auch der Heilige Johannes anwesend und macht mit bis tief in die silbrige Nacht, ein nützlicher Prominenter, weil der liebste Jünger Jesu Christi.
Wir, an unserem stillen mitteleuropäischen Strand, sehen jetzt kaum noch die eigene Hand vor Augen. Doch diese Augen sind ja nicht als einzige zu unseren Diensten. Das ist auch noch das Gehirn. Wir wissen und wir erinnern uns. Erkennen. Zunächst die Umrisse der Buhnenpfähle. Dann, von den klugen, baren Füßen drauf hingewiesen, die glitschigen Haufen angeschwemmter Algenbüschel, das Treibholz mit der geschmeidigen Haut, Reste von verendeten Schalentieren, angeschwemmte Muscheln, vom Salzwasser geschliffenes Gestein, endlich das messerscharfe Dünengras und den richtigen Weg landeinwärts. Wir sind Säugetiere, die über Gespür und ausreichend Erfahrung verfügen, um auch bei Dunkelheit auf der Erdscheibe den Weg ins Bett, in unsere Höhlen zu finden.
Jedoch haben wir Menschenhirne. Wir speichern und speichern. Gerade eben sind wir auf einem Ausflug am Meer, ja, aber wir haben samt und sonders dabei, was sich in unserem Leben sonst noch ereignet hat. Allen bereits vergangenen Alltag. Und der ist äußerst autoritär. So wie das Vinyl auf dem Plattenteller, liegt unser Verstand auf der großen Weltscheibe, die sich dreht und dreht und dreht. Was der Tonabnehmer dabei unablässig aus den Rillen zieht, sind die Schwingungen unserer Erlebnisse und Geschichten, ist der Hall von Stimmen und damit verbundenen Bildern, die Allgewalt einer erlebten Szene, auf die hin sogleich eine nächste Szene folgt. Wohl und Übel. Den lieben langen Tag, ob hell oder dunkel, sind wir mit unseren Erfahrungen, Gefühlen und Willenserregungen verbunden.
Jetzt liegen wir im Bett und können nicht einschlafen. Sinnen nach. Laufen durch unseren Kopf. Nehmen Wege, die wir bereits gingen, geraten in Gespräche, die wir führten, halten uns an Menschen fest, die wir glücklicherweise für uns gewinnen konnten, und betrachten die Spuren jener, die schon über alle Berge sind. Wir möchten uns entschuldigen und versuchen zu verzeihen. Keine Angst mehr zu haben. Zu planen. Doch der Puls rast durchs Bett, das Kopfkissen schwitzt, wir werfen uns hin und her, in etwa so, wie wir es in der Realität auch schon taten. „Nachtruhe!“, fleht der dunkle Himmel. Aber er hat bei uns hier unten nichts zu sagen. Entscheidungen fällt im so gnädigen wie fiesen Netzwerk von über 80 Milliarden Nervenzellen ganz allein das Gemüt. Selbst wenn wir es in den Griff kriegen und es uns gelingt, in den Schlaf zu entkommen, gibt es dort dann immer noch die Träume.
Nicht nur zur Mittsommerwende durchleben wir unseren längsten Tag.
Tage dauern so lange, wie du denken kannst; manchmal ist das länger, als du aushältst. Ein Tag verfällt nicht. Er geht über sich hinaus, so weit, wie du kommen musst, um auf den Sinn zu stoßen, den er gehabt haben will. Er zieht sich hin bis da, wo du ihn zu greifen kriegst, dann noch weiter. Er dauert an, bis du dir selbst verziehen hast, und bleibt dann noch, um zu sehen, ob es dabei auch bleibt. Ein Tag ist so lang wie ein Lied, das, sobald es geendet hat, wieder von vorn beginnt. Er bleibt unverändert, du kannst ihn deuten, aber nicht abbringen von dem, was er gewesen ist. Er dauert so lange, wie die Kerze brennt – auf dem Foto, das ein Mann für dich daließ, bevor er für immer gegangen ist. So lange, wie eine Frau dir nicht verzeihen kann. So lange, wie du ihn lässt. Und da hast du keine Wahl.
Einmal habe ich mit meiner Familie den Sommer auf einem Archipel verbracht, auf einem Stück Anderswo, getrennt von der gewöhnlichen Welt durch das Wasser der nördlichen Ostsee. Die mehr als 6700 Inseln und Schären am Eingang des Bottnischen Meerbusens gehörten zu Finnland, die Menschen aber, die drauf lebten, redeten Schwedisch. Seltsam, wie leicht sich das Gehirn aufwühlen lässt von einer Sprache, die es zwar nicht versteht, jedoch als akustische Fehlbesetzung registriert. Einmal mit Informationen versorgt, die ihm neu, aber nicht fremd waren, kam es dann über die Runden.
Vor langer Zeit war hier das Schwedische Reich. Es gab die große Burg, Eroberungen, freiwillige Schlüsselübergaben, bis endlich Gustaf Wasa einzog, den das Hirn von heute mit dem Knäckebrot in Verbindung bringt. Dann kamen der Große Nordische Krieg und Besatzer des russischen Zaren, die das Archipel zusammen mit Finnland ihrem Reich angliederten. Später, 1917, finnische Unabhängigkeitserklärung. Eine Unterschriftensammlung, nach der ein Drittel der Archipel-Bewohner lieber wieder zu Schweden gehören wollten. Um das klarzumachen, rückten von dort prompt Soldaten an. Das Deutsche Reich kam Finnland zu Hilfe, musste aber schnell wieder weg, zurück in den Weltkrieg, den es ja auch noch führte. Was mein Hirn noch gespeichert hat: Friedenskonferenz von Versailles, Abkommen in Genf, störrische Sowjetunion, Zweiter Weltkrieg, sodann, 1954, hat das Archipel eine eigene Flagge, die fast genauso aussieht wie die schwedische. Seltsam, wie bereitwillig sich der Kopf des Menschen sogar aus Kriegen und Zerwürfnissen am Ende des Tages eine befriedigende Geschichte macht.
Nirgendwo auf dem Archipel standen Zäune. Es gab hier einen Schlüssel zu jedem Haus, aber kein Mensch hat damit je seine Tür versperrt, sondern ihn Tag und Nacht draußen steckenlassen. Seltsam, wie eine Familie sich jeden Morgen streitet, weil in manchem Kopf alle möglichen Argumente gegen die Realität sprechen. Gar nicht seltsam, dass es bei uns immer drei zu zwei für die unverschlossene Tür stand. Dass in den vergleichsweise leeren Kinderköpfen unser stets offenes Haus schlicht und einfach nur eine bislang unbekannte Möglichkeit des Daseins war.
In jenen Wochen in Europas Norden kurz nach Sonnenwende – auf eigentümlichen und schwer mit Geschichte beladenen Inseln, im ungesicherten Haus in der Fremde – hatte ich die besten Nächte meines Lebens. Obwohl das alte Auto vor der Tür im dringenden Verdacht stand, die zwei Tage Rückreise am Ende des Urlaubs nicht mehr zu überstehen. Obwohl an jedem Spieleabend irgendeiner meiner vier Mitspieler schummelte und ich auch noch den Abwehrkampf gegen die Mücken verlor. Obwohl der Vater unserer Mädchen jeder, die es wagen würde, sich von dem rostigen Turm auf einer der Schären ins Wasser fallen zu lassen, 50 Euro versprochen hatte, wo wir doch so schon unter Geldsorgen litten. Alle Gedanken, die einen sonst nicht ausruhen lassen, fielen ab, nachdem ich mich in der Stunde vor Mitternacht hingelegt hatte. Denn hier, wohin es uns verschlagen hatte, war die Erde eine Kugel.
In keiner Nacht hatte ich viel mehr als zwei Stunden Schlaf. Es war dunkel, wenn wir gegen elf alle zu Bett gingen, aber das lag an den Schatten der dichten Bäume vor unserer Terrasse; der Himmel obendrüber zeichnete sich heller ab. Erschöpft von der Anreise bin ich am ersten Abend rasch eingeschlafen, nach zwei Stunden jedoch wieder aufgewacht. Schuld waren meine Augen, deren Lider zwar geschlossen, aber nicht fähig waren zu verdecken, was geschah. Weiße Nächte!, schrie das Hirn. Ich hatte Sonne im Gesicht. Am zweiten Abend war das Einschlafen, das rasche Senken von Puls, Atemfrequenz und Blutdruck kein sehnlicher Wunsch mehr, sondern der leidenschaftliche Vollzug meines Planes, schon bald wieder aufzuwachen. Ein Abenteuer.
Fortan, immer zwischen zwei und drei Uhr, habe ich mich in meinem Bett aufgesetzt und meinen scharf umrandeten Schatten ins Zimmer geworfen. Mein Kopf hat gedacht, aber nur an das, was gerade geschah – woran ich denken wollte. Ich war auf der Erdkugel, hier war das völlig klar, an der dauerhaften Nordsonne konnte ich es sehen, drehte mich nicht mehr auf der Scheibe im Kreis, sondern um die Achse von allem. Bislang hatten mir Ereignisse ungebeten den Schlaf genommen. Diesem hier gab ich mich drei Wochen lang freiwillig hin. Meine kurze Anwesenheit auf dem Erdball durfte ich nicht verpassen.
Ich, nachts auf dem Archipel: verließ das Haus. Nahm die Sonne an die Hand und ließ sie, nach allem, was ich wusste, korrekt um mich herumwandern. Reiste durch die weiße Welt, stieg vom 56. Breitengrad nordwärts, kam zum Pol und blieb, weil dort der Polartag ein halbes Jahr dauert. Hatte nichts mehr zu tun mit dem eigenen kleinen Leben, war jetzt im Weltall. Seltsam. Alles, was ich mit mir rumschleppte, das Schwere und auch das Leichte, fiel runter, weil das auf Kugeln nun mal so ist. Ich war erwachsen, trotzdem einsichtig. Ich war verwünscht. Ich vergaß.
Gar nicht seltsam: dass die drei Mädchen, informiert darüber, was los war, ohne Mühe jede Nacht durchschliefen – bis auf einmal, als ich versprechen musste, sie zu wecken. Dass sie dann auf der Wiese Troll-Tänze aufführten, eine sich sonnende Maus umzingelten, plötzlich schon wieder in ihren Betten waren. In Nordeuropa weiß man seit Hunderten von Jahren, dass Trolle geheimnisvoll und unzuverlässig sind. Diese Charaktereigenschaften gönnt sich nur, wer den Kopf nicht voll hat.
Seit Hunderten von Jahren feiern die Menschen auf der Erde die Tage, die sie schon am Leben sind. Die total kurzen und die ganz langen. Ob diese und jene sich wirklich voneinander unterscheiden und welche man bevorzugen sollte, ist in der großen Gemeinschaft noch nicht geklärt. Wie auch. Wer, so wie ich, im Internet dazu die Meinung der weiten Welt googelt, erfährt prompt vom „Lied eines liebekranken Mannes“ aus dem Jahr 1595.
Den lieben langen Tag
Führ ich mein klag:
Noch ist es alls vmbsonste
Hab gar kein gunste:
Drumb ich nit leben mag
Vor ein paar Monaten hat mich am späten Nachmittag im Park ein Mann angesprochen. Ob man mich mal zu einem Kaffee einladen könnte. Eine einfache Frage, auf nicht viel mehr aus als Ja oder Nein. Eine schwere Frage, wenn der, der sie gestellt hat, nicht gerade wie ein Kaffeetrinker aussieht und obendrein noch richtig gut. Prompt begann sich mein Vinyl-Verstand zu drehen. Ich registrierte: große Lust und den Ehering an meinem Finger. Es war wie in der Schule, wo ich immer nur das Richtige sagen wollte. Während mein Kopf damals undenkbar leer war, ist er heute gnadenlos voll.
Und so wie einst auf unserem mechanischen Plattenspieler, hing nun auch jetzt die Nadel des Tonabnehmers fest. „Kaffee … Kaffee … Kaffee.“ Schon früher und noch heute ein harmloses Wort. „Warum ich?“, hörte ich mich fragen. Das war keine Antwort, aber Aufschub. „Weil du so hübsch bist.“ Da standen wir also, der Mann und ich, standen und standen. So wie meine Mutter damals bei uns zu Hause, hob ich den Tonarm kurz an und senkte ihn wieder ab. „Hübsch … hübsch … hübsch.“ Das, ließ mein vermaledeit engstirniger Kopf mich wissen, hat mit Kaffee allerdings nichts zu tun.
Es war jetzt schon dunkel. Der Mann gab mir seine Visitenkarte. Wie selbstsicher, fand ich, dass er dir die Wahl lässt! „Wahl … Wahl … Wahl.“ Habe dann schon wieder gegoogelt, ihn gefunden, Wochen mit allerlängsten Tagen verstreichen lassen, schließlich geschrieben. „Du willst nicht mit mir Kaffee trinken gehen, ich bin viel, viel älter als du.“ Die Antwort des jungen Unbeschwerten brauchte keine Minute. „Alter ist doch nur eine Zahl.“
Und die Erde ist eine Scheibe. Wozu sie einen den lieben langen Tag herausfordert, ist: ihr die ständigen Umdrehungen zu überlassen, selber aber zu rotieren. Die Feste zu feiern, aber nicht nur so, wie sie fallen. Einfach mal nicht zu denken oder anders. Alter ist nur eine Zahl. Und: Nachdem sie uns sechs Monate immer mehr Licht gegeben hat, wendet sich die Sonne am 22. Juni 2022 wieder von uns ab.
Nadja Klinger