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Galanterie – Essays, Geschichten und Wortmeldungen


Meine Mutter in Graz

Meine Mutter ist eine tapfere Frau. Im Herbst 1989 ist sie mit mir über den Checkpoint Charly an der Friedrichstraße gegangen. Zuvor erkundigte sie sich, ob ich in der DDR noch mal auf der Toilette gewesen war. Sie hielt meine Hand, weil sie befürchtete, mich in Westberlin zu verlieren. Ich war 24 Jahre alt.

Sie war fast 50. Wir fuhren von Kreuzberg zum Kurfürstendamm. Ostdeutsche durften die U-Bahn umsonst benutzen. Jemand kam auf die Idee, nahe der Fahrkartenautomaten den DDR-Personalausweis in die Höhe zu halten. Wir liefen dicht an dicht mit unseren blaugrauen Papieren über den Köpfen und sahen aus, als würden wir uns alle miteinander ergeben. Meine Mutter streckte ihren Arm so hoch sie konnte. Sie wedelte ein bisschen mit dem Ausweis. Sie war drauf und dran sich zu bedanken. Alsbald in der Zeit nach unserer kleinen Westreise hat sie mich tatsächlich verloren.

Fortan waren die Ereignisse für mich das, was sie waren. Ich begrüßte sie oder haderte mit ihnen. Aber sie setzten mir nicht zu. Es ist kaum möglich, einem Leben, das noch nicht wirklich ein Leben ist, zu nahe zu treten.

Meine Mutter hingegen musste den Ereignissen nach dem Mauerfall Platz schaffen. Sie räumte zur Seite, was bereits da war. Sie baute um, sortierte aus. Dem Aufräumenden gerät alles Mögliche in die Hände. Als sie unweigerlich begann, auf ihr Leben zurückzublicken, sprang meiner Mutter die Tapferkeit beiseite.

Der Morgen, an dem sie Graz betrat wie eisiges Wasser, wurde von einer grellen Sonne aufgewärmt. In der Nacht hatte sich ein Gewitter über der Stadt entladen. Die Luft war geradezu schmackhaft. Der Bahnhof wurde gebaut. Er wollte prachtvoll werden, ein Kulturbahnhof, ein Hauptstadtbahnhof, der die Reisenden umgarnt, die noch gar nicht wissen, ob sie in Graz je glücklich sein können. Er war wie die Bahnhöfe in Berlin. Das tat mir Leid für meine Mutter. Sie hob ihre Tasche an und setzte einen Fuß vor den anderen. "So, da bin ich", sagte sie. Der Satz ist für sie so etwas wie für andere Leute gültige Papiere. Meine Mutter checkt mit ihm immer wieder aufs Neue in ihrem Dasein ein.

Graz war wie geschaffen für sie. Abgesehen von dem Chaos am Bahnhof, einem Bauzaun am Karmeliterplatz und einer Absperrung mit Betonmischanlage am südlichen Ende der Herrengasse war die Stadt einfach nur die Stadt. Es gab Pläne: ein Kunsthaus, eine Insel in der Mur. Sie waren ein bisschen groß, ein bisschen verrückt, ein bisschen teuer, diese Pläne. Ansonsten nichts als Anschaffungen, über die sich streiten ließ. Sie waren keine Gegenentwürfe, wie die Pläne im wiedervereinigten Berlin, die sich über das Berlin, in dem meine Mutter ihr Leben verbracht hatte, hinwegsetzten.

In Graz ließ sie sich getrost nieder. Sie trank Cappuccino im Straßencafé, schaute aufmerksam um sich, wachsam. Sie ging dazu über, sich bereits am Nachmittag mit Prosecco zu berauschen. Es war nicht zu befürchten, dass aus dem Hinterhalt Geräte und Räumfahrzeuge einer Baufirma auftauchten, die meine Mutter mitsamt der parkenden Autos und Straßenbäume beiseite schafften.

Eigentlich redete man in Graz in derselben Sprache wie sie. Meine Mutter lauschte, dechiffrierte den Dialekt und dann fasste sie sich ein Herz. Gab dem Drama Ausdruck, welches sie nicht hier, nicht im Steirischen, sondern alsbald nach unserer Reise über den Checkpoint Charly ereilt hatte. Jauchzend rief sie: „Ich versteh kein Wort!“

Meine Mutter und ich haben uns in Graz nicht viel bewegt. Wir saßen auf Mauervorsprüngen und Bordsteinkanten in den Gassen, auf Bänken am Schlossberg, lagen auf der Wiese im Stadtpark. In Berlin legt sie jeden Tag zahllose Kilometer zu Fuß zurück, markiert mit ihren Schritten unermüdlich all die Straßen, die in den letzten Jahren umbenannt wurden, und all die Plätze, die sie kaum wiedererkennt. Während sie in Graz rastete, spürte sie mit einem Mal ihre schmerzenden Knie. Sie las mir aus einem Buch über die Historie der Stadt vor. Ihr kleiner Fotoapparat rackerte. Abends durchforstete sie angespannt die Bilder. „Zuhause wird man mich fragen, was ich mit all den Fotos eigentlich ausdrücken will“, murmelte meine Mutter. Sie löschte. „Ich weiß es nicht“, sagte sie.

Ich hielt in Graz ihre Hand. Wenn sie ein Gashaus betrat, um die Toilette aufzusuchen, wartete ich mitunter lange, ihre pralle Handtasche beschützend, in der nach dem Mauerfall genau so viel hochheiliger Krimskrams steckt wie davor. Ich brauchte nie lange darauf zu warten, dass sie anhob, über uns beide zu sprechen. Jedes dieser Gespräche führte uns zurück zum Tag am Checkpoint Charly, wo wir uns verloren hatten. Ich redete aufgeregt und verheißungsvoll, so wie mein Leben seitdem verlief. Sie rang um Aussagen, die wenigstens etwas erklärten. Uns trennten nicht nur Jahre, sondern auch die Zeiten. Wir klagten, schrieen, kämpften, bis sie nachts auf ihrem Klappbett weinte.

„So, da bin ich“, sagte sie, wenn sie aus einem Gasthaus zurück auf die Straße kam. Ausgerechnet bei mir gelang es ihr nicht mehr einzuchecken.

Beim Abschied auf dem Bahnhof standen wir uns gegenüber. Die Grazer Sonne hatte meine Mutter gefärbt, ihr Gesicht und das Dekolleté schlugen Falten. Sie sah aus wie ein Stück Papier, das geknüllt worden war und sich nun langsam wieder entfaltete. Der Zug mit ihr fuhr ab. Eine Nacht ruhte sie noch, dann erreichte sie Berlin. Berlin schließt meine Mutter nicht in die Arme. Jedes Mal, wenn sie die Stadt verlässt, muss sie sich fallen lassen wie aus einem rasenden Zug. Und wenn sie von einer Reise zurückkehrt und Glück hat, gelingt es ihr, wieder aufzuspringen.

Nadja Klinger

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