Es ist, als seien die Festtage schon wieder eine Ewigkeit her.
Eines Abends während dieser Zeit saß in einer Berliner Kneipe ein zehnjähriges Mädchen. Auf der Leinwand, die direkt vor ihr hing, verloren die Deutschen gegen Italien. Das Mädchen kippte vornüber vom Stuhl, rollte sich zusammen, lag am Boden wie die stachelige Frucht einer Kastanie. Den Kneipengästen ringsum war auch nicht wohl zumute. Alle mussten klarkommen. Biere wurden schal, Zigaretten qualmten stoisch vor sich hin. Plötzlich rief jemand: „Kümmern wir uns um die Kleine da, der geht's doch schlecht!“
Ich erhob mich. Versuchte, ins Innere der Frucht vorzudringen. Es gelang mir nicht. „Hör auf!“, schrie jemand. Ein anderer: „Ist doch wohl klar, dass sie in Ruhe gelassen werden will!“ Es scharte sich eine diskutierende Meute: Bürger unseres Landes, die sich rege bemühten, ein Mädchen zu verstehen, das sie gar nicht kannten. Ich war die Mutter. Gewöhnlich überlässt man es mir ganz allein, mich um mein Kind zu sorgen. Plötzlich war es so etwas wie unser aller Kind. Hockte inmitten von Anteilnahme. Zusammengerollt zwar. Jedoch das barmherzige Deutschland verstand sehr wohl, welch Leid es auf diese Weise nach Außen kehrte.
Warum haben wir die Fußball-Weltmeisterschaft wehmütig in Erinnerung wie ein Weihnachtsfest?
Erstens, weil es eine gute Zeit war. Auf den Straßen liefen viele Menschen in verschiedene Richtungen und waren doch irgendwie gemeinsam unterwegs. Blicke trafen sich, direkt von Mensch zu Mensch. Diese Blicke fragten: Und, wie läuft die Sache für dich so?
Zweitens. Wir sangen gemeinsam Lieder. Wer keine Stimme, keinen Mut, keine Eintrittskarte oder keine Ahnung hatte, durfte trotzdem mitsingen. In unserem Chor waren alle absolut verschieden, jeder wichtig auf seine Weise. So wie die Männer auf dem Rasen. Wir konnten uns ganz getrost wie Lukas Podolski benehmen: die vergebenen Chancen vergessen und die nächsten Chancen nutzen.
Und Drittens? Weil es mit alldem schlagartig wieder vorbei war.
Der Herbst kam. Wir waren immer noch unterwegs, jeder auf seine Weise. Als Hauptschüler oder gesetzlich Versicherter. Alleinerziehend, voll beschäftigt, besser verdienend. In der Arbeitslosigkeit, im Niedriglohnsektor, im Prekariat. Wir waren kein großer Chor mehr, sondern zählten wieder jeder zu einer Menschengruppe. Jede Gruppe hatte einen kleinsten gemeinsamen Nenner, und der war nicht selten auf mangelnde Chancen zurückzuführen. Wir grinsten nicht mehr breit wie Lukas Podolski.
Wir beschwerten uns wieder. Wenn man mit dem Kinderwagen an einer Treppe auf Hilfe wartet, packt keiner mit an! In der U-Bahn treten nicht alle Fahrgäste richtig in den Gang durch! Kaum noch einer stellt sich im Laden ordnungsgemäß von rechts an! Auf dem Amt versteht man uns nicht! Politiker haben keine Ahnung davon, wie es im Leben wirklich zugeht! Der normale Bürger hat sowieso nichts zu sagen!
Der normale Bürger schrieb mir bald nach der WM auch wieder seine berühmt berüchtigten Leserbriefe. Es sind Briefe wie Tsunamis. Eine einzige, nebensächliche Bemerkung in einer langen Reportage löst eine Welle an Geschimpfe und Klagen aus. Der Absender ist nicht auszumachen, weil er sich anonym hält. Dafür gibt es den Vermerk: Nicht abdrucken! Zur Verständigung ist die Welle wohl kaum bestimmt. Ich soll nicht etwa reagieren können. Sie wälzt sich einfach über mich hinweg.
Auf einer Skala von null bis zehn haben das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Berlin und TNS Infatest München die Deutschen in diesem Herbst bewerten lassen, wie zufrieden sie mit ihrem Leben sind. Die Erwerbstätigen kreuzten die sieben an. Die Langzeitarbeitslosen verharrten bei 4,8. Sie sind, das belegt die repräsentative Umfrage, so schlecht drauf wie ansonsten nur pflegebedürftige, gesundheitlich stark beeinträchtigte Menschen. Wenn ich auf Recherchen nach Langzeitarbeitslosen suche, werde ich gefragt, wie viel ich dafür zahle, dass sie mit mir reden.
In privaten Gesprächsrunden werde ich häufig unterbrochen. Ich stelle zu viele Fragen und will alles ganz genau wissen. „Sag mal, soll das ein Interview werden?“, fragen die Leute.
Beinahe hätte der SPD-Vorsitzende Kurt Beck ein gesamtgesellschaftliches Interview angezettelt. Beck hat den Begriff Unterschicht von der Leine gelassen, an der er seit der letzten deutschen Unterschichtdebatte (vor nicht allzu langer Zeit) lag. Diesmal wurde eine gierige Suche nach O-Tönen und Bildern daraus. Menschen bekannten sich in Zeitungen dazu, zur Unterschicht zu gehören. Sie nahmen das Wort sogar selbst in den Mund, anstatt auf eigenen Vokabeln zu bestehen, anhand derer man sie von anderen O-Tönen unterscheiden konnte.
In einer Fernsehtalkshow saß ein Hartz-IV-Empfänger neben Klaus von Dohnanyi. Er zählte dem ehemaligen Hamburger Bürgermeister auf, was er und seine Familie vom Arbeitslosengeld II kaufen können. Er brauchte nicht viel Zeit dafür. Dohnanyi starrte ihn an. Vielleicht war er drauf und dran, die Unterschicht zu vergessen und das Schicksal des Mannes als individuelles zu sehen. „Man kann von dem Geld leben“, sagte er schließlich. „Also ich will so nicht leben, aber man kann.“
Kurt Beck wollte das alles nicht. Er wollte nicht, dass wir einander mal richtig wahrnehmen und von uns erzählen. Dass wir wissen, wovon wir reden, wenn wir reden. Gerade noch so, kurz vorm Fest, hat er es geschafft, für die Lösung eines unserer größten Probleme - Armut und Hartz IV - so etwas wie einen Geschenkgutschein vorzuschlagen: einmal waschen, schneiden, föhnen, legen.
Seit der WM rempeln wir uns wieder durch den Alltag. Blicken den anderen nicht an, sondern zu Boden. Jetzt ist Winter. Weihnachten. Zeit für große Gefühle. Wir schalten den Fernseher ein.
Vor einer Woche hat Jens Lehmann, der Torwart der Fußballnationalmannschaft, die Fußballweltmeisterschaft, die Festtage 2006, endgültig aus unserem realen Leben verbannt. Er hat das mit Bleistift beschriebene Stück Papier hergegeben, das er im Viertelfinalspiel gegen Argentinien beim Elfmeterschießen mit ins Tor nahm. Der Notizzettel, auf dem kaum etwas Brauchbares stand, hatte den Gegner aus der Fassung gebracht. Wir gewannen.
Für eine Million Euro hat ein deutscher Energiekonzern den Zettel bei der Fernsehgala „Ein Herz für Kinder“, die alljährlich von ZDF und „Bild“ gegeben wird, ersteigert. Wir nennen so eine Million: Geld für einen guten Zweck. Dabei ist es vor allem merkwürdiges Geld. Geld, das eigentlich nicht da ist. Geld, das hinten und vorn fehlt. Fehlendes Geld, das uns im Alltag immer seltener darüber reden lässt, wie wir eine Sache gestalten wollen, sondern darüber, dass wir sie uns gar nicht leisten können.
Veranstaltungen, auf denen plötzlich solche Millionen auftauchen, nennen wir Charity. Auf Deutsch müssten wir Wohltätigkeit oder Nächstenliebe sagen. Diese Worte jedoch sind farblos. Sie kommen irgendwo im grauen Leben vor. Im grauen Leben gibt es die Arbeiterwohlfahrt, die Stadtmission, die Tafel, die Caritas, die Diakonie. Es ist mühsam, eins vom anderen zu unterscheiden.
Charity hingegen ist Fernsehen zur besten Sendezeit, eine Gala der Prominenz, Vergnügen. Wir schauen zu, wie Leute, die viel Geld haben, viel Geld spenden. Man lässt uns wissen, was wir unter einem guten Zweck zu verstehen haben. Am Ende wird mitgeteilt, dass 6 612 484 Euro zusammengekommen sind. Es soll Menschen geben, die in diesem Moment aufspringen, sich umarmen und jubeln wie bei der Fußball-WM. Mit diesen Gütigen, Wohlmeinenden ist es wie mit diesen Geldsummen: Sie fehlen im Alltag an allen Ecken und Enden.
Vielleicht ist es so gelaufen: Bei Jens Lehmann zu Hause in London hat das Telefon geklingelt. Der Torwart erfuhr: Sein Zettel könnte eine Million einbringen. Und zwar für Kinder in Not. Hätte er sagen sollen, dass er von Jürgen Klinsmann gelernt hat, mit der „Bild“-Zeitung nichts, nicht einmal solche Sachen zu machen? Ausgerechnet er, der angeblich schon sein ganzes Fußballerleben um zehn schlafen geht, also kaum je eine Fernsehgala zu Ende gesehen hat, ist letzte Woche zu „Ein Herz für Kinder“ nach Berlin geflogen. Wenn er sonst auch kaum den Mund aufmacht, sobald ihn die Öffentlichkeit mit dem Mikrofon bedrängt, erzählte er nun vor großem Publikum, dass er den Notizzettel eigentlich schon in den Müll geschmissen hatte.
Damals im Juni, nach dem berühmten Elfmeter, ist Jens Lehmann flugs in der Kabine verschwunden. Er fehlte auf den Fernsehbildern, auf denen die Mannschaft noch lange feierte. Wir haben ihn vermisst, aber wir fanden seine Art, sich aus den Ereignissen in sich selbst zurückzuziehen, auch sehr beeindruckend. Und natürlich haben wir ihn verstanden. Hätten wir das auch getan, wenn er seinen Zettel behalten, wenn er ihn nicht für unser weihnachtlich glimmerndes Spendenspektakel herausgerückt hätte? Das Spektakel steht uns gut. Mehr als 6,5 Millionen Euro gleichen den Mangel an Zuwendung, den wir ansonsten im Alltag miteinander zu verzeichnen haben, recht passabel aus.
Wann haben Sie zuletzt jemanden getroffen, der Feuer und Flamme ist? Kennen Sie eine Person, die sich von einer Sache hat anstecken lassen? Leidet jemand von Ihnen an etwas, das mit ihm persönlich nichts zu tun hat? Waren Sie schon mal in den Wohnungen Ihrer Nachbarn im Haus? Waren Sie in der Armee?
In der Armee lernen wir, eine Haltung einzunehmen. Wir lernen das auch im zivilen Leben, dort, wo es um den äußeren Eindruck geht, um Etikette. Ansonsten ist es mit der Haltung so eine Sache. Wir können sie nicht im leeren Raum einnehmen. Wir müssen uns zu jemandem verhalten. Wir müssen ein komplexes Netz von Zeichen und Signalen meistern, hinter dem andere Menschen ihr Selbst verstecken und mit dem sie es zugleich offenbaren. Wir dürfen nicht bezweifeln oder bestreiten, was ein anderer Mensch fühlt. Wir müssen unseren bequemen Standort verlassen, um soziale Bande zu knüpfen.
Jedermann hat zwei Bilder vom Menschen, sagt Götz Werner: ein gutes von sich selbst, ein schlechtes vom jeweils anderen. Werner ist Professor an der Universität in Karlsruhe und Geschäftsführer der Drogeriekette „dm“. Er will jedem Menschen von Geburt an ein Einkommen geben, egal, ob er arbeitet oder nicht. Die Idee trägt er seit Jahren geduldig mit sich herum. Erst jetzt, da es Hartz IV gibt, trifft er Menschen, die sich dafür interessieren. Seit einem Jahr zieht er durchs Land. Wo er redet, sind Theater und Säle überfüllt. Bei aller Begeisterung hält sich im Publikum starr der Zweifel am Mitmenschen. „Würde überhaupt noch einer freiwillig arbeiten gehen?“, wird Götz Werner auf den Veranstaltungen, bei jedem Interview gefragt. „Würden Sie?“, fragt er zurück. „Ich?“, antwortet man ihm. "Für mich ist es ein Bedürfnis, etwas zu tun."
Stimmt irgendwas nicht mit den Zeichen, die wir uns gegenseitig geben? Scheinbar fällt es uns schwer, zu erkennen, was im Anderen vor sich geht. Sobald etwas nicht zum eigenen Erfahrungsschatz gehört, gelangt es nicht an uns heran. Man muss uns sehr deutlich sagen, was los ist. Doch halten wir den Alltag nicht als geeignet dafür, unser Innerstes nach außen zu kehren.
Wir umarmen uns vorbehaltlos erst beim Elfmeterschießen. Wir weinen in aller Öffentlichkeit nach den entscheidenden Gegentoren. Wir glauben, dass eine Million für einen Zettel eine Wohltat ist. Wir glauben, zweieinhalb Tage Weihnachten als Fest der Nächstenliebe reicht. Nur dieses Jahr ist es irgendwie komisch. Da war noch was, erinnern Sie sich?
Nadja Klinger