Die Mathematiklehrerin legte fest: Martin macht die Hausaufgaben nur, wenn er will. Auch der Sportlehrer zeigte sich gnädig. Pfiff den Jungen auf halber Höhe von der Kletterstange. Abschiednehmen war die Ausnahmesituation. Ein besonderes Ereignis. Nur durch unsichtbare Fäden mit der Realität verbunden. Wir waren acht oder neun Jahre alt. Aber wir waren nicht blöd. Martin: der weiß, rot geringelte Verkehrskegel, der plötzlich mitten im Lauf der Dinge stand. Sicherheitshalber machten wir einen großen Bogen um ihn.
Er nahm Abschied von seinen Eltern. Sie wollten sich scheiden lassen. Martin war das einzige Scheidungskind in meiner frühen Kindheit. Sein Anblick genügte, um zu erkennen, dass mit Abschieden etwas nicht stimmte. Man nimmt sie nicht. Man greift nicht zu. Sondern sie lauern einem auf. Mit scharfem Werkzeug ratschen sie mitten durch einen hindurch. Es gab jetzt quasi zwei Martin. Hinter rosigen Wangen und einer lustigen Nase, auf der Sommersprossen hausten, wohnte der, der er bislang gewesen war. Die Augen, die ins Geradeaus strebten, zogen den hinter sich her, der er sein würde. Während der eine selbst gedichtete Lieder sang, lautstark lachte und so einen Platz im Leben eingenommen hatte, kam der andere, der sich mit der Zukunft zu befassen hatte, nicht auf die leiseste Idee.
Dennoch. Ich beneidete Martin. Da seine Eltern nicht mehr zusammen waren, musste er ein neues Wort für Familie auftreiben. Wenn seine Mutter jetzt über ihren Mann sprach, nannte sie ihn Martins Vater. Sie verwendete die Besitzform, obwohl Martin doch verloren hatte. Was für ein aufregendes Territorium, auf dem man selbst mit riesigem Wortschatz nicht mehr klar kam! An dem Tag, als seine Eltern vors Gericht gingen, durfte sich Martin dann auch noch einen Nachnamen aussuchen. Er war in den Kosmos des Unvorstellbaren gelangt. Ein Agent mit neuer Identität. Er war schmaler geworden. Aber auch ein ganzes Stück gewachsen. Er war im Einsatz. Wissend. Zweisprachig.
In meiner späteren Kindheit gab es immer mehr Scheidungskinder. Es war in den 1980er Jahren, die damit begonnen hatten, dass sich nach Anni-Frid Lyngstad und Benny Andersson auch Agnetha Fältskog und Björn Ulvaeus scheiden ließen und wir uns von ABBA verabschieden mussten. Nur eins war klar: Es konnte jeden von uns erwischen. Urplötzlich ging die Reise los. Unser Leben stand voller Verkehrskegel. Es war unwegsam.
Aus mir wurde kein Scheidungskind. Aber ich war der Verkehrskegel in anderer Leute Leben. Einige Male. Ich musste Abschied nehmen und machte dabei jene Erfahrungen, unter denen schon Martin Körpergewicht verloren hatte und gewachsen war. Ich erfuhr, dass mich die Frage nach dem Sinn überfordert. Dass ich das Nie wieder! nicht denken kann. Dass ich am Tag als Hinterbliebene weiterlebe und im Dunkel der Nacht komplett zertrümmert werde. Letztlich, wie es ist, wenn alle einen Bogen machen. Ich verkörperte die Angst der Menschen vorm Abschied.
In der Oberlausitz stand mein Großvater nachts auf, ihm wurde schwindlig, er taumelte in die Küche und stürzte mit dem Kopf gegen den Schrank. Man fand ihn in einer Blutlache. Mein Vater, den alle bewunderten, weil er beizeiten seine Eltern, die Verlobte, das Leben auf dem Dorf, seine Herkunft hinter sich gelassen und es in der Hauptstadt zu etwas gebracht hatte, bekam diesmal das Verabschieden überhaupt nicht hin. Zur Beerdigung trug meine Mutter die Blumen, er eine Tüte Gips. Abends vergipste er das Loch im Küchenschrank, das an den tödlichen Sturz erinnerte. Er brauchte dafür länger als man auf dem Friedhof fürs Zuschaufeln des Grabes gebraucht hatte. Er zelebrierte Unmut. Unter Abschied verstand er eine sportliche Sache. Aber er hatte keine Vorbereitungszeit gehabt, keine Chance, sich zu erwärmen. So konnte er seine Talente nicht entfalten.
Die Ehe meines Onkels scheiterte. Ein Abschied kann riesengroß werden und sich im Alltag ausbreiten. Räumliche Distanz hilft. Meine Tante nahm meinen kleinen Cousin mit. Ich sah die beiden nicht wieder. Auch die Ehe meines anderen Onkels scheiterte. Meine Tante nahm meinen großen Cousin mit. Ich besuchte die beiden. Abschied ist der kleine Zwerg, der in einer Ecke der neuen Wohnung hockt und mit vergifteten Pfeilen schießt, wenn man sich gerade ein Herz fasst, um sich einzurichten.
Mein dritter Onkel sprang aus dem Fenster. Ich schreibe das hier kurz und bündig hin. Nebensätze machen Abschiede nicht leichter. Vor allem, wenn die Hauptsätze wesentliche Informationen schuldig bleiben. War er noch am Leben, mein Onkel, der mit dem Schnauzbart, der jüngste, der Nachzügler, kaum zehn Jahre älter als ich, als er unten ankam? Woran hat er gedacht, als er im fünften Stock das Fenster öffnete? Warumwarumwarum?
All die Abschiede zu Beginn meines Lebens habe ich mir nicht nur nicht gegriffen. Ich habe mich mit ihnen abgerackert. Vielleicht hätte ich mir eines lieben Tages die Zukunft vorstellen können. Doch ich war damit beschäftigt, meinem Großvater, der in seinem Blut lag, und meinem Onkel, der auf dem betonierten Innenhof aufgeschlagen war, Fragen zu stellen. Antworten bekam ich keine. Ich konnte die Vergangenheit nicht zu Ende denken.
Abschied braucht klare Gedanken. Abschiedsworte. Schön wäre eine Verabredung, wie es weitergeht. Wenn wir etwas beginnen, uns zusammentun, ritualisieren wir Vereinigung. Trennung ist das Ende. Dafür haben wir keine festen Bräuche. Außer diesen: das Ende nicht wahrhaben zu wollen.
Zum Beispiel das Ende im Krankenhaus in Berlin Mitte. Wochenlang kam meine Mutter jeden täglich hierher, ich aller zwei, drei Tage. Wäre das Krankenhaus die Bühne eines Theaterstücks gewesen, hätten wir mitbekommen, dass der Abschied naht. Die Kulisse: panisch blinkende Geräte, Medikamente statt Nahrung, Spritzen für jeden Zwischenfall. Die Protagonisten: Schwestern mit zu viel Leichtigkeit in den Stimmen, Ärzte, die für Gespräche nicht zu haben waren, ein Patient, der so viel Gewicht verlor, dass er vor unseren Augen verschwand. Im Theater hätten wir es begriffen: Ein Lebenskonzept scheitert, die Jugend zweier Menschen endet, das Glück zieht von dannen, eine Frau verliert den Mann, eine Sechzehnjährige den Vater.
Doch die Realität versteht sich darauf, unwirklicher zu sein als das Theater. Mein Vater lag schon im Kühlraum, da sagten sie uns, auch er hätte nicht gewusst, dass er sterben wird. Sie sagten es stolz. Sie glaubten dran. Er war allein in jener Nacht, als der Tod erschien und ihn mitnahm. Meine Mutter und ich, komplett überfordert in den weniger als Nebenrollen, die man uns zugedacht hatte, baten nicht drum, ihn noch einmal sehen zu dürfen. Wir drei haben uns nicht voneinander verabschiedet! Anstatt uns beizustehen, tat man alles dafür, uns nicht ertragen zu müssen. Man fürchtete uns. Mir wurde klar, dass ich in einer entmutigten Welt lebte. Dass ich mich von dieser Welt befreien musste.
Das Verhältnis meiner Mutter zum Abschied hat sich nie wieder eingerenkt. Manchmal hält sie Rückschau. Selten zieht sie eine unerfreuliche Bilanz. Nie grenzt sie sich hart ab. Sie vertraut nicht darauf, dass es nach dem Abschied weitergeht. Dass es Menschen gibt, die behilflich sind. Der Stationsarzt, der den Tod meines Vaters protokolliert hatte, verabreichte uns am Morgen vor der Beerdigung starke Beruhigungstabletten. Wir standen am Grab wie abwesend, alles war auf ein Mindestmaß heruntergefahren, unsere Beweglichkeit, das Denken und Fühlen. Menschen kondolierten, es war September, stundenlang rauschten die Blätter, durch die sie ihre Schritte zogen. Waren das da meine beiden Cousins? Der kleine und der große? Meine geliebten Tanten? Man sieht den Neuanfang nicht, wenn man nicht auch dem Abschied ins Auge blickt.
Ich sammle Abschiedsworte. Na denn! Tschüss! Wir sehen uns! Ich halt das nicht aus! Bei drei loslassen und nicht mehr umdrehen! Dann eben nicht! Ich hab echt die Schnauze voll! Verpiss dich! Ich habe dich immer schon gehasst!
Wenn mir ein Abschied auflauert, zelebriere ich mein Leid. Manchmal halte ich es für angemessen zu übertreiben. Oft merkt das keiner, aber ich merke es und ich kann mich dafür nicht leiden. Ich habe mich von ewigen Freunden verabschiedet, vom ewigen Vorwärtskommen, von der ewigen Gesundheit. Ich habe mich eines Scheidungskindes schuldig gemacht. Ich sehe klar. Zurück und nach vorn. Nur den Tod einzukalkulieren, das kriege ich nicht hin.
Ich kenne ein Paar, das sich getrennt hat. Danach ist sie zurückgekommen, hat bei ihm geklingelt, Sekunden abgewartet und durch den Türspion geschossen. Ich kenne viele Paare, die sich getrennt haben. Ich führe eine Liste der gelungensten Abschiede. Platz zwei: eine Frau, die den Schlüssel zur Wohnung ihres langjährigen Freundes besitzt, erwischt ihn dort mit Viktoria, der Geliebten. Die Frau zieht sich in aller Ruhe die Jacke aus, schließt sich mit dem Fahrradschloss am Küchenstuhl an, und schreit hintereinander immer wieder denselben Satz: Ich verabschiede mich erst, wenn Fickie geht!
Ich neige zu der Behauptung, dass Scheidungen und Trennungen, die seit den 1980iger Jahren zunehmen, zu den guten Entwicklungen gehören. Es gibt den Trend, mit dem Scheitern zu rechnen. Den Mut, Schuld auf sich zu nehmen, sich zu schämen. Frau zu sein. Zusammensein ist kein Status mehr. Das Gefühl, mit dem Auseinandergehen unvollständig zu werden, wird seltener. Im günstigsten Fall misst man dem Neuen einen Wert bei, ohne das Bisherige zu entwerten. Mitunter jedoch, vor allem mit Kindern, gerät das Leben nach einer Trennung so in Schieflage, dass sich meine Meinung zur anderen Seite neigt. Vielleicht sind wir schlicht einfallslos. Haben den, der wir sind, zu schnell satt. Gar nichts dazu gelernt. Vielleicht nehmen wir das Abschiednehmen immer noch zu leicht.
Einige meiner besten Abschiede: 1. Der von Jewgenij. Auf Russisch. Das soll mal einer nachmachen. 2. Der von meinem Kinderzimmer. Zieht sich bis heute hin. 3. Der von meiner blauäugigen, schwerkranken Katze. Er fand im Hörsaal der Veterinärmedizin statt, wo sie eingeschläfert und seziert werden sollte. Die Stundenten kamen, streichelten sie und sagten ihr, wie schön sie ist. Sie starb als Diva. 4. Die von den Stipendienaufenthalten in Greenwich Village und Graz, wo ich nicht Mutter, sondern nur für mich selbst da war. Ich hab die Rückkehr nach Hause überlebt! 5. Der von Speedy. Sie steckte tot im Fenster ihres Hamsterbaus, blöderweise mit dem Hintern nach draußen. Ich habe sie nach drinnen gestoßen und im Heu drapiert. Das Abschiednehmen fiel uns allen schwer. Speedy war jede Nacht im Hamsterrad unterwegs gewesen, das Quietschen gehörte zu unserem Zuhause und unsere Freunde meinten, sie sollte unsere Mobiltelefone aufladen. Wir haben unseren WLAN-Router nach ihr benannt.
Du bist, wie du wohnst, verabschiede dich von dem Inventar, der dein Lebensglück blockiert, sagt das Feng Shui des Entrümpelns. Ich kenne einige, die mit Hilfe dieses Buches ihre Wohnungen aufgeräumt haben, es hat ihnen Freiraum gebracht, mehr Licht. Abschiede waren es nicht. Abschiednehmen ist das Gegenteil einer Gebrauchsanweisung. Es entspringt aus dem Leid und verlangt nach Improvisation.
Wenn wir nach einem Besuch abreisten, band meine Großmutter ein Kopftuch um, stellte sich auf den Balkon und winkte mit einem Stofftaschentuch. Ihr Haus stand auf dem Beerberg, wir fuhren mit dem Auto abwärts, es dauerte lange, bis sie aus meinem Blickfeld verschwand, und obwohl ich vorher nicht geheult hatte, tat ich es jetzt.
Meine Großmutter hat ihren Mann Richard tot in seinem Blut gefunden und ihren einzigen Sohn Günther, meinen Vater, um fast 20 Jahre überlebt. Als sie sich endlich aufmachte, ebenfalls zu sterben, waren meine Mutter und ich bei ihr. Das Leid hatte sie zu einer Meisterin im Verabschieden gemacht. Sie sagte zu mir: Richard, setz dich auf mein Bett! Ich schob ihre Decke zur Seite und suchte Halt. Sie bat mich: Nimm meine Hand, Günther! Und in meiner Erinnerung winkt sie immer noch.
Nadja Klinger