Wichern-Verlag, Berlin 2014
Der Bestand an Kindheitserinnerungen ist zweigeteilt. Eine Hälfte hängt an einem Straßendorf bei Marienburg in Westpreußen, umfasst die Zeit von 1937, ihrem Geburtsjahr, bis 1945, und besteht aus Stimmen, Farben, Licht, Geruch und Geschmack, die die feste Konsistenz der Heimat haben: der von Bäumen gesäumte am Weg zum elterlichen Gut und der kalte Atem der Brunnenanlage im Hof; das schaukelnde Vorwärtskommen auf dem Rücken der Stute mit dem rötlichen Haar, die Furcht in Anbetracht des Bullen, der im Stall in der ersten Reihe stand, sowie vor dem Moment, da der Truthahn sich aufblähte. Das Gewicht des Eimerchens, nachdem die Kuh gemolken war. „Wenn sie dich mit dem Schwanz trifft, tut es weh. Aber sie meint nicht dich, sie ist durch die Fliegen gestört.“ Der Vater, der oft auch einfach nur mit den Augen sprach, die ihr zeigten, was es zu ackern und zu füttern gab, und die er weit aufriss, so weit, dass sie zusammenzuckte, um ihr etwa dies zu bedeuten: Gib acht da oben auf der Dreschmaschine, denk dran, was mit Max und Moriz geschah, die reingefallen sind!
Wie die Fuhrwerke, die durchs Dorf kamen, bepackt waren! Hausrat, Stoffe, Mobiliar, Tiere. Von Stricken zusammengehalten, zogen die Leben vieler Flüchtlinge an ihr vorüber, Straßentheater, bis da eines Tages auf einem Karren dieser Junge saß: blaugraue Haut, starrer Blick, der Körper wackelte mit dem Gefährt, er lebte nicht mehr, aber fuhr mit, der Tod als Hab und Gut, und nicht im Alter, wie sie es vom Hof und aus dem Dorf kannte, sondern am Beginn des Lebens. Die Mutter schuf Platz, der Vater stellte die Maschinen an die Luft, im Haus und auf dem Speicher übernachteten Flüchtlinge, auch Tante Else traf mit drei Kindern ein, weil es von hier nicht mehr so weit war bis zum Wasser. Und während eine Kuh die Wiese hinterm Dorf, wo die Flak postiert war, mit ihren Fladen verteidigte, sahen sie am Himmel den Großangriff auf Danzig.
Am 8. April 1945 telefonierte die Familie mit dem Vater, den man zur Gendarmerie zitiert hatte, um an der Heimatfront zu dienen. „Ich komme nach“, sagte er zu ihr, der Achtjährigen, seiner Ältesten: „Kümmere dich um deine Geschwister.“ Am 9. kam kein Telefonat mehr zustande, am 10. hieß es, bald würden alle Brücken gesprengt. Sie machten sich auf den Weg. Menschenmassen vorm riesigen Rumpf eines Schiffes im Ostseehafen, die Mutter trug den Dreijährigen und ein Köfferchen mit Papieren und Silberbesteck, die Schwestern, viele Kleidungsstücke übereinander, Tornister auf den Rücken. Wehrmachtssoldaten, die Gepäck aussortierten: „Bleibt hier, bis ihr wiederkommt!“ Doch sie sahen es beim Auslaufen: wie an Land Federbetten zerrissen wurden, wie die rote Stute zurück nach Hause trabte, und dass Menschen, denen schon jetzt die Heimat zu weit weg war, über die Reling ins eiskalte Wasser sprangen.
Dann beginnt der Teil von Traute Peters' Erinnerungen, der aus Bildern und Szenen besteht, die flüchtig sind, weil das Kind deren Bedeutung nicht kannte, weil sie sich an nichts festmachen ließen, weil etwas darin nicht vorkam: Heimat. Stattdessen das Vermissen: den Vater, die Mutter, ein Zuhause.
Das Loch in der Schiffswand, in dem dicke Seile hingen und durch das sie die Möwen sehen konnten; die Halbinsel, von der sie ein noch größeres Schiff wegbrachte, das sich unterm Gewicht der Passagiere bedrohlich zu der Seite neigte, auf der plötzlich Land zu sehen war; die Stille an Bord, als jemand rief: „Das ist nicht die Danziger Bucht, das ist Kopenhagen!“ Was Traute Peters verstand und wiederum nicht: Fortan würde sie in der Fremde sein.
Im Laufschritt an Land, die Geschwister jetzt an ihren Händen, Rempeln und Drängen, plötzlich war die Mutter weg; ein Flugzeughangar, Strohballen für die Nacht, stundenlanges Warten im Stehen, die Tante, die plötzlich in einer der Schlangen stand, eine geräumte Schule, Lager 72, das musste man sich merken. Und dann Ereignisse, die Traute Peters' Leben prägen sollten: die Begegnung mit Menschen, die halfen. Rotkreuzschwestern suchten die Mutter und fanden sie. Die Milizposten gaben Brote her – Scheiben, die so dünn waren wie die Wurst, die drauf lag, und die sie teilten, damit zwei Kinder etwas davon hatten.
Mai 1945, drüben in Deutschland die Kapitulation. Stehen, geimpft und registriert werden, Tee bekommen ... Leute kippten aus den Reihen, Tod durch Erschöpfung, Schilfkränze zur letzten Ruhe, auf dem Friedhof hinter der Schule stand das Grundwasser so hoch, dass die Leichen in den Gräbern schaukelten.
Diese Nacht, in der die Mutter sie weckte. Bauchschmerzen. Hatte schon auf dem Meer geklagt, war tagelang im Schiffslazarett gewesen, nun stand die Tochter vor der Toilettentür, es konnte länger dauern, das wusste sie, hatte ja selbst oft grüne Äpfel gegessen, und so ein Durchfall war unangenehm. Sie hörte die Mutter stöhnen und weinen, und als sie endlich rauskam, lief sie gebeugt. Am nächsten Tag gab sie das Silber weg, um an einen Arzt zu kommen.
Wenn das Leben aus seinen gewohnten Zusammenhängen gerät, muss man versuchen, wenigstens im eigenen Kopf Ordnung zu halten. Mühsam hat Traute Peters als Kind sortiert, und als sie fast 60 war, musste sie erfahren, dass sie nur eine einzige Chance hatte zu verstehen. Als sie Anfang April 1945 von Marienburg aufgebrochen waren, so erfuhr sie nun von Tante Else, hatten die Eltern ein Kind erwartet; und nachts auf der Toilette in Dänemark hatte die Mutter es verloren. Im Krankenhaus hatte man versucht, sie davon zu heilen, rastlos nach diesem Kind zu suchen. Sie war vorerst in den Händen der Ärzte geblieben, während Töchter und Sohn mit den Flüchtlingszügen weiter mussten – das hat ihre Wahnvorstellungen noch verstärkt. Die Mutter erkrankte am Verlust ihrer Kinder, die indes mussten glauben, sie hätte sie aufgegeben.
1952 hat sich Traute Peters in Stuttgart beim Roten Kreuz gemeldet, um ihren Vater suchen zu lassen. Man fand einen Peters, der ebenfalls die Familie vermisste und seine Daten hinterlassen hatte: Landwirt irgendwo bei Danzig, vier Kinder. „Leider nein“, hat Traute Peters gesagt, „wir waren nur drei.“ Sie war 15, konnte nicht wissen, dass dies ihre Chance war, hat sie verpasst und den Vater nie wiedergesehen.