Alexander Fest Verlag 1997
Meine Großmutter Ella will, wenn sie gestorben ist, nicht so lange unentdeckt in ihrer Wohnung liegen. Sie dreht langsam ihren Kopf zu Seite. Das dicke Kissen, auf dem sie liegt, macht ein Geräusch, als hätte sie es durch die unerwartete Bewegung aufgeweckt. Ella schließt die Augen. Sie öffnet leicht den Mund und hält den Atem an. Sie hat noch nie eine Leiche gesehen.
Früher hätte sie an Schneewittchen gedacht. Schneewittchen hatte lange, schwarze Haare, Hände, so zart wie weißer Schnee und Lippen, so rot wie Blut. Wie einst Ella.
Der Tod war für sie damit verbunden, dass jemand trauert. Je schöner sie am Tag ihres Todes sein würde, desto mehr würde man trauern. Doch überall da, wo einst ihre Schönheit war, hat sie nun Schmerzen. Die zarten Füße sind jetzt zu klein, um sicher zu gehen, die früher schlanken Beine dürr und krumm. Die schmalen Hüften tragen nichts mehr, der gerade Rücken biegt sich. Die kleinen Hände zittern und können nichts mehr sicher halten. Die roten Lippen sind verblasst, die Wangen eingefallen, die Augen ziehen sich in die Höhlen zurück. Ella lebt schon zu lange, ihre Schönheit ist vor ihr gegangen. Niemand wird groß trauern, denkt sie.
Ella redet längst nicht mehr davon, dass sie die nächste sein wird. Sie kann überhaupt nicht in ein Telefon reden. Wenn es klingelt, schrickt sie hoch und wundert sich, was das eben für ein Geräusch war. Schließlich hebt sie den Hörer an, ihre Hand zittert, sie lässt ihn wieder fallen. Dann wartet sie. Der Moment des Wartens ist ein feierlicher Moment, denn Ella weiß, was kommt. Sie kann sich einmal sicher sein: In der nächsten Minute wird es wieder klingeln. Sie ist ein bisschen glücklich. Schneewittchen fällt ihr ein. Wie gern würde sie in der nächsten Minute sterben.
Der Wunsch ist ihr so lange nicht erfüllt worden, dass sie ihn nicht mehr ausspricht. Sie hält den Telefonhörer ans Ohr und hört sich an, was sie tun soll: viel essen, viel schlafen, frische Luft zum Fenster hereinlassen, ruhig mal einen ganzen Tag fernsehen. Und sich freuen, dass sie ein so schönes Alter hat.
Ella lebt von Konserven, die ihr Verbrauchsdatum schon in der DDR überschritten haben. Sie rückt sich den Schemel an den Herd. Von hier aus kann sie ihr schönes Alter überblicken: vom muffigen Besenschrank, in dem die klebrigen Schachteln mit zu Klumpen geballten Reinigungsmitteln stehen, über das Waschbecken mit dem verkalkten Wasserhahn bis hin zur Chaiselongue, die sich unter den Jahren biegt wie Ellas Rücken, und den staubschweren Gardinen, die die Sonnenstrahlen gefangen nehmen und in Kopfschmerzen verwandeln.
Ella geht nicht mehr vor die Tür. Sie will die Zeitung abbestellen, weil sie keinen einzigen Buchstaben mehr erkennen kann. „Überleg dir das gut“, rate ich ihr am Telefon aus der Ferne, „das ist die einzige Verbindung zur Welt, die du hast.“
In ihrer Wohnung halten sie die Abführmittel, die sie nimmt, in Bewegung. Donnerstags kommt der Zivi, um für sie einzukaufen. Sie hat den Zettel mit den Einkaufswünschen tief in der Schürzentasche versteckt und bittet den jungen Mann herein. Sie ekelt ihn mit ihren Geschichten über die Schmerzen, die sei auf den Klo ertragen muss, und vertreibt ihn mit ihren Blähungen.
Nachts schläft sie mit offenen Augen. Ihr Leben zieht an ihr vorbei. „Da war nicht viel“, sagt Ella. Deshalb kann sie in einer Nacht ihr Leben mehrmals von vorn bis hinten sehen.
Der einzige Blick, den Ella noch nach vorn richtet, ist der Blick darauf, wie sie wohl aussehen mag, falls man sie erst findet, wenn sei schon eine Weiler tot ist. Und weil man sich nichts für die Vergangenheit, sondern nur etwas für die Zukunft wünschen kann, möchte Ella, wenn sie gestorben ist, nicht so lange unentdeckt in ihrer Wohnung liegen. Ale meine Mutter und ich zu Besuch sind, streicht sie die Kuchenkrümel vom Schoß und spricht den Wunsch aus. Ansonsten redet sie nicht mehr groß vom Tod, sie stirbt einfach. Aber es gelingt ihr nicht, damit zum Ende zu kommen.