Rowohlt Berlin 2014
Wenn es stimmt, dass die Töne immer schon da sind ... wenn es stimmt, was Michael da vorn sagt, wenn er sie nicht übers Ohr haut ... wenn ... dann ... ist Bernhard jetzt im Besitz eines Tons. Dann hat er sich gerade eben einen solchen geholt.
Er steht da mit ausgestrecktem Arm, die Hand zum Gefäß gewölbt. Er spürt, was drin ist in seinem Gefäß. Kein Gewicht, bloß ein Ausmaß. Von der Hand her breitet sich Bernhards Ton über den ganzen Bernhard aus. Haut spannt sich, Härchen auf den Unterarmen stehen aufrecht, unter den Jeans kribbeln Fußballerwaden. Es fühlt sich an wie wenn Bernhard daheim seinen Körper ins heiße Badewasser senkt. Er schaut sich um. Da sind noch mehr ausgestreckte Arme, Männer und Frauen, die anscheinend auch etwas finden.
„Bückt euch!“ ruft Michael. „Hebt die Töne vom Boden auf! Und dann streckt euch, da oben sind auch noch welche, pflückt sie von der Decke!“
Seit über einer Stunde befolgen sie seine Anweisungen. Sie rackern sich ab. Bernhard hat die Zunge vom Gaumen gelöst und an den Zähnen entlang schlackern lassen, Geräusche über die Lippen geschoben und Luft ausgestoßen, sozusagen den Bauch entlüftet; nun ja, der ist immer noch rund. Hat die Arme geschüttelt, sich drehend, sich biegend, auf der Stelle hüpfend, bis das Blut im Kopf wie warme Brause geschäumt hat. Was er bei all dem wohl für eine Figur macht? Die Antwort kann er sehen: Ringsum wackeln Hintern, Beine knicken weg, Gelenke knarzen. Er vernimmt ein vielfaches Schnaufen. Er war noch nie irgendwo dabei, wo nur dabei sein darf, wer alt ist. Auch wenn sich hier alle aufbäumen, sie befinden sich im körperlichen Niedergang.
„Jetzt fühlt euch in euren Atem ein!“
Sogar diese Anweisung hat er befolgt. Er hat sich atmend durch sein Inneres navigiert und sich Körperregionen genähert, die ihm ziemlich fremd sind. Und da ist er dann plötzlich nicht mehr weitergekommen. Bernhard - Fußballer, Autoschlosser, Kraftfahrer, Stahlbauer, ein Ausreiseantrag in den Westen, eine Rückkehr, drei Vereinswechsel, vier Knieoperationen, 60 Jahre alt, immer noch dieselbe Ehefrau - hält es für unklug, funktionierende Abläufe zu stören. Verdauen. Atmen. Altern. Das alles hat niemals seiner Aufmerksamkeit bedurft.
„Haltet eure Töne fest, haltet sie!“
Bernhard singt: „Aaa!“ Zieht die Buchstaben wie Perlen auf einen langen Faden. „Aaa!“ Kein einziger fällt runter: kaum zu glauben. Er hebt das Kinn, kippt die Schultern nach hinten, und sein Brustkorb wird größer, geräumig, irgendwie lukrativ, er probiert, ob er sonst noch etwas für den Klang tun kann, schließlich richtet er sich an seiner eigenen Wirbelsäule auf. „Aaa!“ Sein Ton verschafft ihm eine ganz neue Haltung.
...
Das Altwerden, so kommt es ihr vor, vollzieht sich auf der Autobahn. Zwei Fahrspuren. Auf der rechten, in gemäßigtem Tempo, der Kopf. Ute fühlt sich nicht wie im 70. Lebensjahr. Auf der Überholspur der Körper. Aktueller Streckenbericht: Bandscheibenvorfall im Lendenwirbelbereich. Sie war beim MRT, der Orthopäde vermutet, dass wegen der hohen Dosis Cortison Wirbel gebrochen sind, er hat heute gleich noch die Knochendichte gemessen. Längst schon stellt sie sich wegen ihrer Figur bei Chorkonzerten in die hinterste Reihe. Mittlerweile nimmt sie so schnell zu, dass sie alle 14 Tage beim Versandhaus neue Konfektionsgrößen bestellt. Obwohl ihr Kopf das eigentlich gar nicht in Betracht zieht, lotst er sie immer öfter nach rechts auf den Standstreifen.
Bei der ersten Märzprobe hat sie gefehlt, war zu Hause, obwohl der Winter endlich abzurücken begann und das Tageslicht sie streichelte, wenn sie nach draußen kam. Heute ist sie wieder rechtzeitig. Die Tür zum Probenraum ist noch verschlossen.
Irene kommt. „Ute! Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.“
„Ach, ich hab die meisten aus meiner Familie bereits überlebt“, antwortet sie und klopft dreimal auf die Holzbank im Foyer, auf der sie sitzt.
Heute hat Michael Geburtstag. Vierzig. Achgottchen. Die Zahlen sind ein Problem. Frauen fragt man nicht nach ihrem Alter; Männer verkünden, dass ihnen die runden Geburtstage, zwischen denen die Abstände kürzer und kürzer zu werden scheinen, nichts ausmachen: als wäre das eine Leistung. Michael mit dem ergrauenden Haar und den Hosenträgern erweckt auch nicht den Eindruck, als gräme ihn heute irgendwas. Wäre es allerdings doch so, wie sollte er das den Alten erklären? Sie starten die Foto-Show. Alte Bilder von ihm, die sie aufgetrieben haben, und Bilder mit den Fossilities - er tänzelt, während sie über die Wand des Probenraums defilieren, und spielt lustige Einlagen am Flügel. Auf dem Rückenteil seines grauen Hemds steht CHEF; er lacht schallend, als plötzlich das Passbild aus seinem ersten Personalausweis an der Wand erscheint. Früher sah er aus wie John Lennon.
Eine Zeit lang hat Ute im Kindergarten von Michaels Sohn vorgelesen. All die Zwerge da wollten auf ihren Schoß; was hat sie geschwitzt! Jetzt geht sie regelmäßig ins Pflegeheim in Gropiusstadt, dort leben Leute, die in keinem Chor mehr singen können, die nicht einmal mehre Besuch bekommen; Ute meldet sich bei der Schwester, die sagt ihr, wer's gerade am nötigsten hat, dann klopft sie an. „Soll ich Ihnen was vorlesen oder wollen wir miteinander reden?“ Wenn man etwas zu erzählen hat, ist Altsein schöner. Du bist, was du erinnerst. In Utes Küche hängt das Foto von der Reise nach Kairo: der klassische Chor vor den Pyramiden im Wüstensand, alle für die „Carmina Burana“ kostümiert, Ute ganz links bei den Männern. Erst ein einziges Mal wollte jemand im Pflegeheim wissen, wie es ihr gehe. Sie war auf die Frage nicht vorbereitet, hätte dem Mann gern dieses Foto gezeigt sowie die Textblätter von High Fossility, die Pausen- und Atemzeichen, die sie gesetzt hat, das Crescendo und Decrescendo, alles mit Bleistift, weil Michael ja immer wieder etwas ändert. Zur ersten Probe im April 2010 ist sie zusammen mit ihrer Nachbarin in die Boddinstraße gefahren, die konnte jedoch nicht dabeibleiben, weil sie ihre Mutter pflegt. Utes Kinder wollen zu Auftritten kommen, das untersagt sie. Du bist nicht nur, was du erinnerst, du bist auch, als wer du in Erinnerung bleibst. Die Kinder sind musikalisch von ihr einfach was anderes gewohnt.