Rowohlt Berlin 2010
Wir setzen uns an den Hang, die Sonne steht schon unter uns, aber eine ganze Menge tröstliches Licht springt noch raus, ehe sie verschwindet. Jeden Wanderer, der sich Juf nähert, nehmen wir beim Anmarsch ins Visier. Es gibt nur ein Kriterium, das er zu erfüllen hat: Wollen wir mit ihm die Nacht im Matratzenquartier verbringen? Dafür, dass wir uns am oberen Ende der Bettenwelt befinden, herrscht ein rechter Zustrom an zerzausten Bärten, speckigen Hüten, komischen Kniehosen, in Wollmuster verpackten Waden. Bisher sind alle Wanderer durchgefallen.
„Das müssen Sie doch sagen!“
Mach ich doch.
„Ja, aber eher!“
Es geht schon wieder ums Vegetarische. Diesmal beichte ich meine Essbehinderung bereits am Nachmittag. Das Fleisch kann noch nicht im Topf sein. Scheinbar haben sie hier in den Bergen grundsätzlich ein Problem damit, wenn jemand eigene Ansprüche formuliert. Bin ich unalpin? Stets geht's um Regeln. Sie stehen nirgendwo geschrieben, man muss sie kennen.
Zum Beispiel die Regel, dass eine Nacht im Massenlager so spartanisch und ungesund wie möglich sein sollte. Die dunklen Matratzen sind allesamt fleckig. Auf den blau-weiß karierten Kissen erkennt man sogar im Mondlicht gelbliche Flüssigkeitsränder. Die Decken kratzen nicht nur, sie riechen. In Begleitung unserer Reiseschnapsflasche suchen wir nach den erträglichsten Modellen, besser gesagt, wir lassen uns von Farben täuschen. Wir halten Rot für besser als Grau und bevorzugen letztlich Orange, weil es nur in kleiner Stückzahl vorhanden ist.
Den Diskussionen der Alpenvereine um alpine Sitten fielen zu Anfang des letzten Jahrhunderts auch die Schlafräume für Damen zum Opfer. Zwar existierten Vorschriften, die Geschlechter in den Bergen zu trennen. Vor allem bei jugendlichen Wanderern. Aber der allgemeine Trend, sich wieder auf Einfachheit zu besinnen, war vielen Hüttenwirten ein willkommener Vorwand, sich nicht weiter drum zu scheren, wie trotz Platzmangels so etwas wie Übernachtungskomfort geschaffen werden könnte. Bergsteigerinnen beschwerten sich. Sie fanden im Massenquartier keine Möglichkeit, sich umzuziehen. Alpenwandern ist männlich. Schon vor hundert Jahren fiel den Frauen im Gebirge auf: Männer zögern nicht, vor breitem Publikum ihre Hüllen fallen zu lassen. Sie schämen sich auch nicht, verschwitzte Kleider und stinkende Socken im Schlafgemach zum Trocknen über die Bettgestelle zu hängen. Mit ihren Beschwerden darüber, was sie, fest zwischen zwei männliche Körper gepresst, in Hüttennächten so erlebten, lösten Schweizer Wanderinnen in der Mitgliederzeitschrift des Schweizer Alpen-Clubs eine Erotik-Debatte aus. Mancher Leser nannte, was geschah, Zwangsintimität unter Bergsteigern. Andere sagten: asketische Hüttenbewirtschaftungspolitik.
Punkt 18:30 Uhr steht oben das Nachtessen auf dem Tisch. Wir würden gern sehr langsam speisen, um die Kellerzeit zu verkürzen. Aber eine ungemütliche Wolke aus Fliegen hängt über unserem Tisch. Sie senkt sich, steigt hektisch auf, wenn wir um uns schlagen. Die Viecher plagen, sagt die Kellnerin, weil im letzten Winter der Boden nicht gefroren war. Sie zeigt nach schräg oben über die Bergkette vorm Fenster. Im Tessin könnten sie sich deshalb vor Wespen nicht retten. Das riesige Ei, das man mir zu den Kartoffeln gebraten hat, schmeckt köstlich, ich liebe Eier, und ich habe schon lange keine mehr gesehen. Aber dann fällt eine Fliege mitten rein. Sie rudert mit den Fliegenbeinen, ruiniert sich die Flügel, dann kippt sie ins schlabberige Eisweiß. Nach Schrecksekunden zieht Heidi mir prompt mein Abendbrot weg.
(...)
Irgendwann in der Nacht stand ich unter freiem Himmel. Ich wollte alles Mögliche. Dass mir kalt wird und sich mein grauenhafter, unappetitlicher Lagerplatz zum willkommenen Unterschlupf wandelt. Dass die Zeit vergeht. Dass der Spuk vorbei ist und schlagartig der Morgen anbricht. Das Mondlicht leuchtete die Weite nicht aus. Die dunklen Berge rückten dicht an mich heran. Da waren Schatten, große und kleine, die sich rührten. Aber da waren keinerlei Geräusche. Die Luft bewegte sich, doch es ging kein Wind. Ich stand an der Öffnung des glazialen Trogtals, durch das wir nach Sonnenaufgang steigen würden, der finstere Ort hieß Juf, das da oben war der Himmel - und alles, was nicht Himmel war, lag tief unter mir.