„Was ist los?“, fragt K. Kameraschwenk zu seinem Fuß, der gibt Gas. Schwenk zum Rückspiegel, man sieht: Der dicke Polizeiwagen hält mit. K zieht nach links. Die Kamera zeigt mich, mein Mund steht offen, die Zähne blinken in den Farben der amerikanischen Flagge, denn die Polizei bleibt an uns dran. K zieht noch weiter rüber. „Bist du irre!!!“, brülle ich. Da setzt die Sirene ein, diese gute säbelrasselnde Bekannte, nichts Gutes verheißend, so wie man sie von der Leinwand kennt. Und dann?
Wir alle glauben zu wissen, was dann.
Denn die USA sind das Land, das wir aus Filmen kennen. Stadtkulissen, die sich rotzfrech himmelwärts strecken. Landschaft, leer und endlos. Flüsse, so lang, breit, tief, dass das Überlegenheitsgefühl des Menschen am Ufer wie schiere Dreistigkeit erscheint – die offenkundig wird, wo sich auf spektakulären Brücken und in riesigen Tunneln, den Fluss des Wassers kreuzend, der Verkehr staut.
Etliche Details tauchen in den Filmen immer wieder auf: Trucks, Güterzüge, die so lang sind, dass zehn Minuten vergehen, bis sie den Horizont passiert haben; Lichter, die Nacht narrend; Dampf, aus städtischen Gullys aufsteigend; Wolkenkratzer, Diner; die Hollywood Hills, die den Blick auf La La Land, Los Angeles freigeben; Cowboys, Ranger, Pferde, Gewehre, Pistolen, Feuerwehrmänner. Und Cops, die dort auftauchen, wo die Luft flimmert – Polizisten, deren ungeheures Handwerkszeug schwer am Hosenbund hängt und deren Mützen wie protzige Dachgeschosse aussehen, weil sie höher aufragen als bei der Polizei anderswo.
Wir sind informiert, haben Worte, Szenen, Bilder. Jedoch. Nur wenn etwas unsere Sinne reizt, gibt’s Erkenntnis. Reine Information indes verfügt über Inhalt und Qualität der Wahrnehmung, also über uns. Weil sie von da kommt, wo wir selbst nicht sind, ist schwer zu sagen, ob wir genug haben. Es fühlt sich so an. Wir setzen einen Punkt. Anders gesagt: Was uns nicht hilfreich erscheint, sind Fragezeichen.
Ich war in den USA, aber kaum jemand hat mich gefragt, wo ich bin. Ja, Freundschaft besteht zuallererst im Wie-geht-es-dir. Aber ist sie nicht auch die Chance auf Qualität und Ausmaß, auf Geschichten, Nachfrage, auf Anregung der Sinne durch eine Quelle, der man vertraut? Vielleicht lag die Fragenlosigkeit an Donald Trump? Daran, dass „die Amerikaner“ einen verrückten Präsidenten wählen, dann vor Glück weinen, als klar ist, dass er bald keiner mehr sein wird, dann – aus demselben Grund – den Hort der Demokratie, das Kapitol in Washington stürmen?
Fraglosigkeit ist Sicherheit. Wer fragt, lebt damit, dass jede Antwort neue Fragen aufwirft.
Arlie Russel Hochschild, Soziologieprofessorin an der University of Califoria, hat sich nach Trumps Wahlsieg nach Louisiana, in die Hochburg der Tea-Party-Bewegung begeben und mit seinen Wählern gesprochen. Das Buch, in dem sie zu Wort kommen, heißt: „Fremd in ihrem eigenen Land.“ Wir stehen unser Leben lang in der Schlange, um uns Stück für Stück dem American Dream zu nähern, sagen weiße Amerikaner, wir warten. Doch da wird vorgedrängelt, von Schwarzen, Frauen, Immigranten, Flüchtlingen. Sie brechen die Regeln der Fairness! Haben nicht Menschen wie wir das Land groß gemacht? Sogar der Braune Pelikan steht vor uns. (Das Tier, dessen ölverklebtes Gefieder zum Symbol der Umweltverschmutzung in den USA wurde, war fast ausgerottet, als man es endlich unter Schutz stellte.} Du bist auf der Hut, wenn vorgedrängelt wird. Du schaust, wer helfen kann. Wer wohl? Der Präsident. Aber dann siehst du Barak Obama, wie er den Vordränglern zuwinkt. Was gibt er dir zu verstehen? Dass diese Menschen eine Sonderbehandlung erfahren, dass sie, dass sogar Tiere bedürftiger sind als du. Im Grunde waren dieser Präsident und seine Frau die Vordrängler.
„Sie fliegen zum Mond. Was hoffen Sie zu entdecken?“, soll man den amerikanischen Astronauten Neil Armstrong einst gefragt haben. Er soll geantwortet haben: „Das Wichtigste ist, dass wir eine ganze Menge neue Fragen stellen können.“
Ich habe in den USA gelebt. Doch ich mag’s nicht, das so zu sagen. Man stellt sein Bett auf, schaut und hört, setzt Schritte, reist. Ansonsten: Auf einem Festland von über neun Millionen Quadratkilometern, wo sich in der Spanne von vier Zeit- und sechs Klimazonen die Erde zwischen zwei Weltmeeren krümmt, „lebt“ man nicht. In einer Geschichte von der Eroberung eines Kontinents, von Unterwerfung, dann wieder Zuflucht, kann man sich nicht auskennen. Selbst wer zu den knapp 330 Millionen gezählten Einwohnern gehört, wer Papiere hat und Generationen von Verwandten, kann nur so viel wie möglich von diesem Land erfahren.
Im Jahr 1960 fuhr der amerikanische Schriftsteller John Steinbeck im Campingwagen und mit Hund in elf Wochen durch 34 Bundesstaaten. Fast überall war: Fremde. In Kalifornien, seiner früheren Heimat, wollte er sie loswerden. Es „sollte das Allerleichteste sein, denn ich kenne diesen Landstrich am Pazifik besser als jede andere Gegend der Welt. Aber ich stelle fest, dass es keine Einheit ist, sondern eine Vielheit von Dingen – alle übereinander geschoben, bis das Ganze verschwimmt“, schrieb er ins Tagebuch. „Was es ist, wird verhüllt von der Erinnerung an das, was es war, und das wiederum von dem, was mit mir dort geschah, und alles ist so miteinander vermengt, dass Objektivität beinahe unmöglich wird.“
Steinbeck beneidete den Hund um die Unbefangenheit, mit der er, wenn sie anhielten, agierte. „Er kann nicht lesen, er kann nicht Autofahren, er hat keinen Sinn für Mathematik. Aber in seinem ureigensten Metier, in dem er sich nun betätigte, dem langsamen, besitzergreifenden Beschnüffeln und Besprengen eines Areals, hat er nicht seinesgleichen.“ Unbefangen hat Charley immer wieder ausfindig gemacht, wo er war. „Natürlich ist sein Horizont begrenzt«, räumt das Herrchen ein, »aber wie weit ist meiner?“
Ich war in New York City, in einer lauten, umtriebigen Nachbarschaft, zusammen mit Polen, Asiaten, Hispanics, Puerto-Ricanern. Unter den Fenstern der alten Fabrik, in der K und ich wohnten, zog sich der Stadtteil Brooklyn meilenweit bis zum East River, dahinter lag Manhattan. Einmal hat dort ein Hubschrauber ein Hochhaus gestreift. Es gab einen Knall und schwarze Wolken. Niemand hat aus dem Fenster geschaut, wir standen alle auf dem Dach, viele haben geweint. Ich muss nicht erklären, warum. Muss nicht sagen, dass der Mensch immer weitermacht, sich darauf versteht zu vergessen, aber nicht wirklich rauskommt aus den Geschichten, die sich ereignet haben, selbst wenn sie weiter zurückliegen, als er denken kann.
Die Wolken quollen auf, Häuser verschwanden aus dem Blickfeld, die Skyline schien sich zu ergeben, so jedenfalls schien es mir. Ich muss auch nicht hinzufügen, dass jeder nur sieht, was er zu sehen vermag: manchmal das, was er wünscht, ein andermal das, was er sich zumutet, gelegentlich viel von dem, was sich offenbart.
Die wenigsten Nachbarn auf dem Dach waren gebürtige New Yorker, viele noch nicht lange Amerikaner, manche 2001 noch Kinder. So wie Kavien und Kieran, für die es im Deutschen das Wort Hausmeister gibt, das ich nicht benutze, weil die beiden gesprächig und witzig waren, während sie unsere Wohnung immer wieder an denselben Stellen reparieren mussten. Sie sprachen Spanisch miteinander, wechselten für mich ins Englische. Ich hatte alle Vokabeln für die auslaufende Spülmaschine, den Motor, der die Fenster hätte kippen sollen, die Macken der Klimaanlage, die typisch amerikanischen Einbauschränke, deren Türen klemmten, sobald sich die Luftfeuchtigkeit änderte, parat, aber bin mit den beiden kaum übereingekommen. Sie sie waren blanken, ausgedörrten Boden gewohnt, ihre Befunde waren launisch wie das Wetter überm Dach ihrer Elternhäuser, unsere chronisch defekte Klospülung grinste im Licht der Karibik.
„Es ist nur eine Illusion, die wir hier auf Erden haben, dass ein Augenblick auf den anderen folgt wie Perlen auf einer Schnur, und dass, wenn ein Augenblick vorbei ist, er für immer vorbei ist.“ Kurt Vonnegut Jr., Deutschamerikaner vierter Generation, hat das in einem seiner Bücher geschrieben. 1969. Da waren, über Jahrhunderte hinweg, unzählige Europäer den ersten Einwanderern nach Amerika gefolgt. Jüdische Europaflüchtlinge und deren Nachfahren hatten New York City ihren kreativen Überlebensgeist eingehaucht. Nun kamen Chinesen, Lateinamerikaner, die US-Bevölkerung mehrte sich jährlich um Millionen. Es war 350 Jahre her, dass an der Ostküste die ersten Sklaven aus Afrika abgeladen wurden, um fortan nicht mehr wie Menschen behandelt zu werden. Wie überall auf der Welt, ist für keinen Amerikaner das, was geschah, für immer vorbei – und hier geht es um Erfahrungen, die einander kaum gleichen. Vielleicht weil es sich nicht um meine eigene Geschichte handelte, konnte ich dort oft spüren, dass sich mehr abspielte als das, was gerade los war.
Ich habe daheim gearbeitet, musste über den Zweiten Weltkrieg lesen, und kann nicht behaupten, auch nur ein Viertel von dem, was ich las, vorher schon gewusst zu haben. Keine Ahnung, wie ich dazu kam, auch noch drei dicke Bände zur Amerikanischen Kulturgeschichte seit 1600 zu lesen, ob es Entscheidung oder Beschämung, eine geradezu körperliche Zwangslage war. Denn zur großen amerikanischen Geschichte gehört eben auch, dass Kurt Vonnegut Jr., kaum 20 Jahre alt, im Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland kämpfte. Dass er sich in der Nacht, als britische und amerikanische Bomber Dresden einschmolzen (wo meine damals fünfjährige Mutter in einem Keller saß, den sie bis heute nicht mehr betreten hat, nicht mal, um Kartoffeln zu holen), winselnd an eine bebende Mauer im Alten Schlachthof der Stadt klammerte.
Im Frühjahr 2020, als New York City das Epizentrum der Corona-Pandemie in den USA, quasi menschenleer, erschüttert von Notfallsirenen, im kriegsähnlichen Zustand und kaum noch in der Lage war, all die Leichen zu bestatten, die auf den Straßen in Kühlcontainern lagerten, hat die »New York Times« zu erzählen begonnen: „Wer waren die, die wir verloren haben?“ Viele der Lebensgeschichten begannen auf anderen Kontinenten sowie in Latein- und Südamerika, und sind dann zu unverkennbar amerikanischen geworden. Und: Am Ort, der ihnen zweite Heimat, der rettende Ausweg aus einer europäischen Geschichte war, starben nun, einer nach dem anderen, die alten Holocoust-Flüchtlinge.
Das war zu der Zeit, als eine junge Frau ihren Hund ausführte, in einem kleinen Biotop des Central Parks. Ein Vogelkundler bat sie, das Tier anzuleinen, sie weigerte sich, er sagte, so werde er tun, was er in diesem Fall immer tue: mit Futter den Hund locken und von hier wegbringen. Die Frau zog ihr Telefon. „Ich sage der Polizei, dass ein afroamerikanischer Mann mich bedroht!“ Der Gemeinte zog auch das Telefon. „Bitte, sagen Sie denen, was immer Sie wollen!“ Durch sein Video hat die Stadt von der Begegnung erfahren. Die Frau schreit, ist erregt, verärgert, vielleicht sogar ängstlich, der Mann steht in beträchtlicher Entfernung, das Bild wackelt, weil auch ihm der Puls geht. Sie brauche Hilfe, ruft die Frau ins Telefon, und mehrmals: „Er ist schwarz!“
Das war zu der Zeit, als die „Harlem Community Newspapers“ davon schwärmte, dass afroamerikanische Künstler den Broadway erobern, und zwei Doppelseiten mit passbildgroßen Gesichtern all der schwarzen Sängerinnen und Sänger präsentierte. Das war zu der Zeit, als schwarze Amerikaner berichteten, wie es sich anfühlt, regelmäßig joggen zu gehen. „Mein Aussehen beschattet jeden meiner Schritte“, sagte ein Mann in Seattle. Woanders verbot sich eine Frau Musik im Ohr, um zu hören, wenn jemand sie angreift. Ein Mann sorgte dafür, dass sein Schlüsselbund klappert, um dem Verhängnis vorzubauen, dass Leute sich vor ihm erschrecken. Eine Frau in Ohio ließ sich über den Routentracker des Telefons von mehreren Freunden verfolgen. Ein Mann in Montana rannte nur in seiner Army-Fitness-Uniform, eine Joggerin in Alabama hatte entschieden, „mutig zu sein“.
Das war zu der Zeit, da die New Yorker erfuhren, dass unter Arrest gesetzte Schwarzfahrer in den seltensten Fällen eine weiße Hautfarbe haben. Dass sich überhaupt das Ausmaß der Bestrafung für Vergehen im öffentlichen Nahverkehr unterscheidet, je nachdem, ob man aus dem reichen Manhattan kommt und den arrivierten Teilen von Brooklyn oder ob man im Chinatown von South Brooklyn, in den großen Gemeinschaften orthodoxer Juden in Sunset Park, unter Immigranten an der Flatbush Avenue, oder in der russischen Enklave um Brighton Beach wohnt.
Das war zu der Zeit, als das Whytney Museum der Stadt die Mexikanischen Wandmaler, deren Einfluss auf die Kunstgeschichte der USA feierte. Das war, als die US-Einwanderungsbehörde meldete, sie würde nun nicht mehr vor Krankenhäusern Wache stehen. Das bedeutete: Bis der bedrohliche Virus die USA zerstörte, hatte man allen Menschen ohne Papiere dort aufgelauert, wo sie sich nicht mehr verstecken konnten, weil sie dringend medizinische Hilfe brauchten.
Was ist Amerika? Wahrscheinlich haben sich vielen Filmeguckern sogar die Namen von Stämmen amerikanischer Ureinwohner eingeprägt. Sie wissen von der Schlacht am Wounded Knee, wo das 7. US-Kavallerieregiment Ende des Jahres 1890 im Nu 300 wehrlose Stammesangehörige der Sioux ermordete, damit endgültig den Widerstand der indianischen Völker in den Dakotas brach. Oder sie haben dank der Filmindustrie den Choptank River zwischen Delaware durch Maryland parat, durch dessen Flusssystem die entflohene Sklavin Harriet Tubman im 19. Jahrhundert immer wieder in den Süden zurückkehrte, um weitere Sklaven in die Nordstaaten zu schmuggeln – allein, im Schutz der Nacht, sich am Polarstern orientierend. Harriet ist eine Ikone in den USA. Kinder heißen wie sie.
K und ich auf dem Interstate Highway. Wir stehen auf der Seitenspur, die Polizei in großem Anstand hinter uns. Ich lasse mein Fenster runter. „Hände aufs Lenkrad!“ –„Jaja“, sagt K. In meinem Seitenspiegel nähert sich langsam ein Polizist. „Hände hoch!“ K, der die Welt gern austestet, patscht eine Hand aufs Lenkrad, erst als sich der Polizist ins Fenster bückt, die andere. Ich rieche meinen Schweiß. „Ich bin Officer Ramirez“, sagt der Mann. „Was ist los mit Ihnen, haben wir Sie etwa erschreckt?“
PS. Der Vorfall mit dem Hund im Central Park ereignete sich fast zur selben Zeit, da in Minneapolis George Floyd unter dem auf seinem Hals knienden Polizisten ums Leben kam. Kieran und Kavien mussten die Fenster unseres Hauses mit Brettern zunageln, weil die Demonstrationen, zu denen wir Bewohner eilten, sehr, sehr wütende waren.
Nadja Klinger