Nadja Klinger

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Galanterie – Essays, Geschichten und Wortmeldungen


Die Welt ist unendlich

Nun. Das ist eine Nachricht. Denn was jetzt passiert, hat Neuigkeitswert, ja, ist geradezu unglaublich. Unser Protagonist frisst sich hoch: zu einem gelb leuchtenden, bald handtellergroßen Schleimklecks, der von einem Adergeflecht durchsetzt ist, das wie ein Gedächtnis funktioniert. Er erinnert sich: daran, wo er schmackhafte, nährreiche Funde gemacht hat. Er trifft Richtungsentscheidungen, wabert zielgerichtet über den Waldboden, ausschließlich über allerbeste Nahrung hinweg, die er sofort verdaut. Und bald schon hat der eben noch Unsichtbare sich zu einer Größe von mehreren Quadratmetern durchgebissen.

Die deutsche Gesellschaft für Protozoologie hat den Gitterschleimpilz zum „Einzeller des Jahres“ gekürt. Das ist nun wirklich eine Nachricht. Ich habe sie aus der Zeitung, die meine Freundin Tina täglich im Briefkasten hat: eine ganze Seite mit einem Foto des gelben, scharfsinnigen Fressers. Nur macht sich die Farbe, sowohl des Bildes als auch der Schrift, aus dem Staub. Aber nicht blitzschnell wie ein Soldat, der das Schlachtgetümmel ausnutzt, um sein Leben zu retten, sondern langsam, ohne Hoffnung, weil bereits niedergeschlagen. Denn die hohe Ehrung des intelligenten Pilzes wurde schon vor über einem Jahr verkündet. Sie ist alterndes, brüchiges Zeitungspapier, die verschossene Nachricht von gestern. Für gewöhnlich, zumindest. Denn meine Freundin hat sie noch vor sich. Wie so viele andere Neuigkeiten, Berichte, Geschichten. Eines Tages wird sie sie lesen.

Bei Tina zu Hause ist es, nun ja, ungewöhnlich. Ich möchte behaupten, hier gilt eine andere Zeitrechnung als sonst überall: Tinas eigene. Kann man im Innern einer Wohnung aus der Welt, wie sie nun mal tickt, ausbrechen? Ich möchte beeiden, dass all die Stapel aus veralteten Zeitungen, Zeitschriften und herausgerissenen Seiten, die in jedem Zimmer auf Schränken, Fensterbrettern, in Fächern und Regalen, auf dem Schreibtisch und dem Fußboden wachsen, Tina nie davon abgehalten haben, mir die allerbeste Freundin zu sein, die ich mir wünsche und nicht selten brauche. Müsste ich sie im Gegenzug vor der bedrohlich massiven Anwesenheit von noch Ungelesenem beschützen, auch wenn sie sich an ihr erfreut? Immerhin kann sie sich noch orientieren. Sie weiß, wo was abgelegt, also zu finden ist, wofür man sie zur Leserin aller Jahre küren müsste. Doch heute, auf einer Exkursion durch ihre Wohnung, stoße ich auf die Zeitungsseite über den gelben Pilz und lese sie, bevor sie sie liest. Hat sie die Schlacht um Information und Wissen nicht doch schon verloren?

Dies ist ein sonniger Morgen. Wie unbarmherzig! Unsere Route soll in der Küche beginnen, durch alle Zimmer führen, wo ich natürlich schon oft war und gedacht habe, dass man, was sich hier stapelt, auch „über den Kopf wachsen“ nennen könnte. Aber bei einer Freundin lasse ich, was sonst als Macke gelten würde, vorbeigaloppieren und reite nicht drauf rum. Nun werden wir hinter den großen Fenstern den allerhellsten Blick haben. Gut möglich, dass wir einiges zu sehen bekommen, was anderntags schön unauffällig war, genau dort, wo es irgendwann einmal abgelegt wurde. Gut möglich, dass Tina dann in Not gerät: in die Bedrängnis, das Vorgefundene zu erklären – und sie hat ja nur diesen einen Satz parat, der ihr seit vielen Jahren zur Selbstrechtfertigung dient, während er genauso lange schon darauf drängt, in Frage gestellt zu werden: „Ich kann eben nicht anders.“

Nein, ich habe nicht damit gerechnet, dass sie mich mitnimmt auf diesen spektakulären Weg. Und gut möglich ist auf unserer Tour auch das noch: Der zu dieser Tageszeit flache Einfallswinkel der Sonnenstrahlen setzt auch noch den Staub ins Licht, diese Mischung aus Schwebstoffen, deren verschiedene Herkunftsarten Stäube genannt werden, für deren unangenehme Zusammenballung jedoch kein Mehrzahlwort existiert. So als wäre mit einmal Staub alles gesagt. Als wäre das Vielerlei einerlei, sobald er sich drauflegt. Als reiche Staub zum Befund.

Früher, ich erinnere mich, haben wir Gras über eine Sache wachsen lassen, die nicht sein sollte. Wir haben genehmigt, dass aus Altem Neues entsteht und dass das seine Zeit braucht. Heutzutage ist Früher immer gleich staubig. Der eine hat verstaubte Gewohnheiten, der andere verstaubte Ansichten, jener einen verstaubten Geschmack. Oder Tina ihren verstaubten Besitz. Wer das Alte nicht wie auf Befehl aus der Welt schafft, wird mit einem Adjektiv kurzerhand für tot erklärt. Wo doch in Wahrheit jeder von uns erst als Leichnam so stillhält, dass er einstauben kann.

„Ich bin kein Energiebündel“, sagt Tina, „eher ein behäbiger Mensch.“ Da brechen wir gerade auf, da will sie mich wohl doch präparieren, da scheint sie sich ihrer selbst nicht mehr so sicher zu sein – so wie all die Wanderer, die mit den Bergen (Stapeln) vertraut sind und daher wissen, dass sie jederzeit wieder Eindruck machen.

Als ich sie kennenlernte, war sie eine dieser Kinderkrankenschwestern, die über Pausenzeiten hinwegarbeiten. Dann hat sie eine psychiatrische Tagesklinik aufgebaut und geleitet, nachts beim Headbanging auf Hard-Rock-Konzerten ihre dunkle Mähne geschleudert, morgens um halb sechs schon wieder im Auto auf dem Weg zur Arbeit gesessen. Behäbig? Später, im Schichtdienst auf der Rettungsstelle eines Krankenhauses, hat sie ihre täglichen Zehnkämpfe ohne Applaus absolviert und dann, im Urlaub, mit Augenmaske im Bett gelegen, weil ihr Körper sich sonst nicht mehr getraut hätte zu schlafen. Ja, beim Stadtbummel lässt sie sich öfter mal auf Bänke fallen, weil die Füße nicht mehr mitmachen. Ja, sie kommt eigentlich immer zu spät. Energielos? Nicht nur ich, alle ihre Freunde warten gern auf Tina. Sie beseelt uns, hört rastlos zu, schenkt uns ihre robuste Klugheit. „Wir müssen los“, sage ich, „wir haben viel vor.“ – „Ja, sehr, sehr viel.“

Hier meine Erlebnisse im Bergland – so nenne ich es, weil die Stapel aus bereits Gelesenem, Herausgerissenem sowie als vollständige Zeitung oder Zeitschrift Erhaltenem wegen ihrer bizarren Formen, ehrfurchterregender Höhe sowie der Gefahr, dass sich Material löst und abstürzt, gewaltig beeindrucken: Papier, auf dem es um „Natur und Heilen“ geht, um „Körpertraining“, um die „Begrünung des Balkons“, um „Das ewige Eis“, die Europäische Union, die Meinungsfreiheit, um Musikgeschichte und die Mieten in Berlin. Um einen gerade angesagten Zeichner, aber „gerade“ war 2019. Um „Zucker“, Naturmode, „Pasta zum Verlieben“, um „Was wollen Männer wirklich? – Sechs Berliner geben Antwort“ und den Ratschlag „Mach in der Liebe nie den ersten Schritt“.

Ich sehe: Musikzeitschriften ab Jahrgang 2012, die daliegen, weil Tina sie erst wegschmeißen kann, wenn sie sich die Bands angehört hat, von denen geschrieben wird. Ich sehe eine Menge Ökötest-Hefte und Greenpeace-Magazine, geballtes Wissen über das „Intervalltraining“ und „Das Comeback der Herbstfrucht“ sowie: „Haussanierung – so wehren Sie sich“. Ich hebe die Decke an, die einen der Gebirgsausläufer bedeckt, gleich obenauf ein Fernsehmagazin vom Sommer letzten Jahres. „Aus den Augen, aus dem Sinn“, sagt Tina.

Weiter geht’s: „Mensch, Gesellschaft, Technologie“ – eine Erörterung von 2016; GEO Epoche über „Die Zwanzigerjahre“; ein IT-Magazin, auf dem Titel Geräte, mit denen heute keiner mehr klarkommt; ein „New Yorker“ vom vorletzten Sommer, weitere englischsprachige Zeitschriften („Ich dachte, wenn ich mal Muße habe übersetze ich mir die.“}; die Broschüre „Betreute Wildnis im Hobrechtswald“, die Rezension einer Ausstellung im November vor neun Jahren („Manchmal stutze ich, denn die hätte ich mir nie im Leben angekuckt.“}, unzählige Film- und Plattenbesprechungen, etwas zu „Prekariat und Pathos“, zu „Kundendaten in Hackerhand“, ein Bericht von Flutopfern in Sri Lanka, eine Antwort auf die Frage, warum Japaner länger leben und seltener an Tumoren sterben (“Also heute würde ich sowas nicht mehr lesen.“); ferner erwarten uns die „Schönheit der Natur“ und „Yoga für Faule“ und „Georgisches Chutney“ und die Zeitschrift „In Style Men“, die Tinas Mann aus dem Flugzeug mitgebracht hat. („Sie liegt auf dem Stapel, weil sie mich nicht interessiert.“}

Es ist wie immer in den Bergen: Ständig musst du stehenbleiben und überlegen, wo der Weg dich hinführt. Manchmal ist gar keine Trittspur zu sehen. Du machst oft Pause, weil alles so anstrengend ist. Dann stehst du da, schaust rundum, willst darüber reden, was du siehst, willst Worte haben, die du mitnehmen kannst, aber alles, was dir zu sagen einfällt, trifft nicht das, was du siehst.

Meine Freundin Tina ist in den 1960er Jahren in einem gemütlichen Stadtteil von Berlin aufgewachsen, in Weißensee, wo die Häuser niedrig waren, die Wohnungen klein, die Straßen still. Sie hat Steine, Federn und Hölzer gesammelt, in ein Kinderköfferchen gepackt und den Besitz gehütet: die Reste von Leben, haltbar Gealtertes, das Unvergängliche. Mithilfe des Schmucks ihrer Großmutter war sie Prinzessin, also selbst etwas Altes, zumindest märchenhaft selten. Als die Eltern eine Wohnung in Lichtenberg bekamen, war sie elf. Das Neubaugebiet: Sand, steifer Wind, Baustelle. Eine Ödnis. Hinter jeder Haustür: identische Wohnungen, zweimal 18 übereinandergestapelt, ein kahler, schlecht gelaunter Treppenaufgang, der mürrisch rumpelnde Fahrstuhl. Komfort, sagten Vater und Mutter.

Komfort war nur in Tinas eigenem Zimmer, im ganz Woanders, mit allem, was sich an Wissen über indigene Kulturen, Hippies, über Orte einfachen, schlicht fortschreitenden Lebens auftreiben ließ. Hier war nicht plötzlich alles neu. Alle Zeit, die verging, hatte schon etwas auf dem Buckel. Aus der Prinzessinnenverkleidung wurde Lederschmuck plus Tramper und zerrissene Jeans, die Stones, Deep Purple und Led Zeppelin hatten sich mit Dornröschen, dem Nussknacker und den Schwänen aus dem klassischen Ballett zu vertragen, und immer noch war Platz für Liselotte Welskopf-Henrichs Bücher und für Gojko Mitic.

Tinas Wohnung ist viel größer als ihr Zimmer von einst. Und die Welt ist unendlich. Was man über sie wissen kann, kommt jeden Tag, Stunde um Stunde, von überallher. Sie interessiert sich nicht für alles, sie wählt aus, schneidet, reißt. Und sie geht arbeiten, hat Kinder, Enkel, ihre Mutter, die Freunde. „Rein in eine Kiste und weg damit, in den Müll“, sagt ihr Mann, der zu Füßen der Schweizer Alpen arbeitet und nur an den Wochenenden heimkommt – ins Berliner Bergland, wo er einen Schreibtisch hat, auf dem er jeden Freitageband schon wieder Ablagerungen vorfindet.

Auch ich hebe mehrere Stapel an. Frage: „Also das hier hast du doch schon aussortiert.“ – Das sei aber lange her, antwortet sie. – „Ich nehme es einfach mit“, schlage ich vor. – Dazu sagt sie nichts. Stille. Plötzlich klingelt es. Ich gehe öffnen. Der kluge gelbe Gitterschleimpilz kommt grußlos durch die Tür, wabert von Zimmer zu Zimmer, über alles drüber, und schon ist es weg. Was für eine Aktion! Ich könnte schallend loslachen, ich möchte die Fassung verlieren – aber das geht ja nicht, Tina weiß ja noch nichts von dem Pilz, sie hat sich auch diese Zeitungsseite, die ich mir ausgeliehen habe, bislang ja nur rausgelegt – also halte ich an mich. Alleine lachen macht nur halb so viel Spaß.

„Ja“, sage ich. „Du sollst das alles erst noch mal durchsehen.“

 

Nadja Klinger

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