Nadja Klinger

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Galanterie – Essays, Geschichten und Wortmeldungen


Das Papier und ich

Das weiße Viereck ist eigentlich ein Quader, ein räumliches Gebilde. Man spricht nicht von seiner Dicke, sondern von Papierstärke, die sich am Gewicht bemisst, an Gramm pro Quadratmeter, und damit unsere Vorstellungen von Stärke untergräbt: Je weniger Gramm das Papier wiegt, je feiner es ist, desto wertvoller. Wenn mein Radiergummi einen Gedanken von seinem Platz fegt, entsteht ein Geräusch, das mich mahnt, es nicht zu zerreißen. Papier hat mir vor Jahrzehnten eine Handschrift entlockt, an der man mich stets wiedererkannte. Die zahllosen, sich dehnenden Momente meines Lebens, in denen ich den Kopf übers leere Papier senkte, weil ich etwas zustande bringen sollte, habe ich nicht nur in Erinnerung, sondern kann sie nachempfinden. Was soll ich sagen. Diese Momente haben mich zu der gemacht, die ich bin? Weiße Leere inspiriert mich. Ich verlasse mich darauf, dass jede Vorderseite eine Rückseite hat. Streiche mit der flachen Hand über Bücher, berühre den Inhalt, ehe ich lese. Indem meine Finger voran- und zurückblättern, wandere ich durch Geschichten wie durch meine eigene Welt. Papier, das ich beschrieben habe, breite ich auf dem Fußboden aus. Ich verschaffe mir einen Überblick. Gehe in die Knie, verschiebe die Seiten, halte sie ans Fenster, damit ein anderes Licht auf sie fällt.

Papier ist der erste Rohstoff, um den ich mich gekümmert habe. Die Dresdner Heide, wo ich mit meinem Großvater Knallerbsen sammelte, bestand aus Papier sowie der Wald in den Müggelbergen im Südosten Berlins, wo meine Schulkameraden und ich auf Schnitzeljagden Konfetti verwendeten, weil damit die Verschwendung - in meiner Kindheit war das Wort ausschließlich mit Papier verknüpft - am geringsten war. Wir sagten: ein Blatt Papier. Alle sagten das, doch nur wir wussten, warum. Die gefällten, verschwundenen Bäume überließen uns weiße Blätter, damit wir nachdachten und erst dann von unseren Möglichkeiten Gebrauch machten. Wir sammelten Altpapier und bündelten es, damit erneut Blätter daraus werden konnten.

Ich stellte mir die Männer am chinesischen Kaiserhof vor, winzige Hände an kleinen Körpern, wie sie fast 2000 Jahre vor meiner Zeit in der Kaiserlichen Behörde zur Fertigung für Instrumente und Waffen das erste Papier kochten: ein Gemisch aus Maulbeerbaumrinde und Seidenbast, vermengt mit Hanf, alten Lumpen und Fischnetz. Wie sie ein Sieb in tiefe Kochtöpfe tunkten, den getrockneten Faserbrei pressten und glätteten. Ich hatte gelesen, dass es schon Anfang des dritten Jahrhunderts in China Papiertaschentücher gab. Dass später die ebenso kleinen Japaner hochnäsig die Rezeptur des Breis veränderten. Dass Bagdads Papiergeschäfte im neunten Jahrhundert von Lehrern und Schriftstellern betrieben wurden, erst im zwölften das Papier nach Europa kam, wo man umgehend - im fünfzehnten Jahrhundert - mit dem Buchdruck begann. Ich habe nicht gemerkt, dass das Papier mir am Herzen lag, es hat sich eingeschlichen, es war immer schon da, es hat gewartet, es hatte Geduld, es wusste so viel von mir wie sonst keiner. Sie verstehen, was ich meine.

Der überwiegende Teil jenes Besitzes, an dem ich wirklich hänge, weil sein Verlust die Verbindung zwischen dem Jetzt und meiner Herkunft, meinem bisherigen Dasein zerreißen würde, besteht aus Papier. Briefe, Tagebücher, Schriftstücke, Zeichnungen und Bilder, Fotografien und Bücher. Ich habe mich diesem Besitz anvertraut, er gibt mir die Möglichkeit, sich meiner selbst zu vergewissern, ich bin in ihm verortet. Ich weiß, wie viele Schritte ich nach rechts gehen und wie weit ich den Arm ausstrecken muss, um an ein bestimmtes Buch zu gelangen. Aus manchen Exemplaren rieselt Strandsand. Ich habe Kaffeeflecke und Rotweinränder hinterlassen, die Einbände von Diogenes haben sich in der kleinen Waldsauna in Polen aufgelöst, meine Bücher erzählen auch von mir. Ich habe die Ecken der Seiten umgeknickt, auf denen steht, was mir einst wichtig war - heute finde ich es unwichtig, klappe die Ecke zurück, da bricht sie ab. Ich lange tief in den Schrank und taste, erkenne das schlichte Notizbuch, das ich suche, an seiner strapazierten Pappoberfläche. Mein Erinnerungsvermögen ist gefragt. Und es wird immer wieder aufgefrischt, weil ich auf dem Papier, das ich einst bearbeitete, niemals nur Worte vorfinde, sondern, je nach Laune meine Schrift verändert, gezeichnet und geklebt habe. Meine Beziehung zum Papier ist die längste, die ich je eingegangen bin. Und wie soll ich es anders sagen. Ich werde untreu.

Jahrelang habe ich Emails, die mir etwas bedeuteten, ausgedruckt und binden lassen. Irgendwann musste ich damit aufhören, weil der Schriftverkehr immer mehr zunahm und sich in meinem Zimmer die elektronischen Wortwechsel stauten. Früher hatte ich Papier nicht verschwenden wollen, jetzt waren die Worte, die ich am Computer verlor, nicht mehr greifbar, kein Grund also, mich zu beschränken. Löschen, das Wort war bislang nur im Zusammenhang mit Bränden verwendet worden, nun löschte ich alles Mögliche: Anfragen, Wünsche, Kritik, die Wirklichkeit. Besser gesagt, ich schob all das in den Papierkorb, der nichts mit gefällten Bäumen zu tun hatte, und frage mich bis heute: Wohin befördert er, was ich löschte?

Mein Computerbildschirm zeigt mir eine weiße Fläche, die mich an Papier erinnert. Doch senke ich den Kopf nicht mehr, sondern schaue geradeaus, ich atme nicht auf das, was ich tue, sondern dorthin, wo es ankommt. Die Tatstatur gibt ein wohltuendes Geräusch von sich, aber zwischen meinen Fingern und den Worten, die sie zustande bringen, liegt eine Distanz. Halten Sie das für absurd, meinetwegen, aber ich kann sie spüren. Manchmal durchschreite ich einen langen Korridor. Bisweilen überbrücke ich eine Schlucht. Meine Worte haben nicht mehr viel von mir, wenn sie auf dem Bildschirm ankommen, stehen nicht aufrecht, weil sie sich sicher fühlen, oder neigen sich nicht zu Erklärungen. Es ist durchaus hilfreich, die Gestalt meiner Sätze in Druckbuchstaben zu sehen. Aber wenn mein Handgelenk tagelang schmerzt, weil ich mal mit dem Stift schreibe, wenn ich schneller denke, als meine vernachlässigte Handschrift vorankommt, und wenn die Adressaten meiner Briefe dann nicht lesen können, was ich ihnen ungeübt offenbare, ist mir, als wäre die Verbindung zu der, die ich bin, bereits gerissen.

Alles fein, alles bestens, ich beschwere mich nicht, das käme nicht gut an. Man gilt als festgefahren, wenn man vor Neuerungen erst einmal abbremst, und in Beziehungen festgefahren zu sein, kommt generell einem Unfall gleich. Ich werde mich an ein Leben ohne Papier gewöhnen, mit Sicherheit, bin ja schon dabei. Aber auch das ist sicher: Dabei verändere ich mich. Ja! Verändern ist gut, ist leben. Es wird eine neue Beziehung geben. Vielleicht werde ich meinen neuzeitlichen Besitz in die Cloud verfrachten, das ist zwar eine Wolke, kein Ort also, nichts, in was ich hineinlangen und wo ich etwas, woran ich mich erinnere, ertasten kann. Aber auf gewisse Weise bleibt unsere Welt ja auch immer gleich. Einst mahnten meine Eltern vor Papierknappheit, heute liefern sich vom Papier befreite Menschen den Providern der Onlinespeicherplätze aus. Und auch die Fragen bleiben für immer auf der Welt. Funktioniert das in der Wolke wie auf der Erde: aus den Augen aus dem Sinn? Wird es denn zukünftig wenigstens noch ein bisschen Papier geben, auf dem ich mit dem Bleistift meine Gedanken ordnen kann? Und wenn, muss ich das heimlich tun? Und überhaupt (das ist ja die Frage, wegen der ich mich auf dieses Therapie-Selbstgespräch hier einlasse): Wer bin ich dann? Wer bin ich, wenn ich nicht mal mehr zu meinen Aussagen stehe? Im letzten Jahrzehnt habe ich mehr Worte gelöscht, als ich in all den Jahrzehnten zuvor zu Papier gebracht habe.

Nadja Klinger

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