„Hallo, Thilo! Nur zur Info falls Du Fr S bis Mo noch mal siehst In Kindheit mehrfach sexueller Missbrauch (keine PTSD) Schönes WE <3lichen Gruß Carla“
Nur ein Ausrufezeichen für Thilo, ansonsten war Carla nicht auf die Einhaltung von Regeln aus gewesen. Sie hatte keine Satzzeichen verwendet und dem sperrigen Wort Information kurzerhand das lange Ende abgeschnitten. War sie in Eile? Wollte sie schnellstens nach Hause, da ihr Schlüssel immer erst spät - zu spät wäre fatal - jenes Geräusch an der Wohnungstür auslöste, das ihren Ehemann dazu brachte, von der fies am Ego nagenden Frage, was oder wer seine Frau dermaßen an die Arbeit fesselt, abzulassen? Oder waren ihr die ersten Bleistiftsätze gar nicht wichtig? Kam es ihr vielmehr auf das Ende der Nachricht an, auf den Abschied ins Wochenende, für dessen Gelingen sie einem abgedroschenen deutschen Grußwort durch ein gezeichnetes Herz den Puls der Bedeutung verpasst hatte?
War Carla eine mit heimlicher Liebe gut versorgte Frau oder wurde sie von trostloser Sehnsucht verzehrt? Das Wochenende - die beiden Tage, an denen Thilo und sie sich vermutlich niemals begegneten - hatte sie auf unzulässige Weise mit Großbuchstaben abgekürzt. Weil sie trotz ihres heiklen Doppellebens noch ausreichend in Laune war, um sich über das Wochenende lustig zu machen? Oder weil sie - so wie alle Gierigen, Ungeduldigen und Schuldigen - glaubte, die Ereignisse im Griff zu haben?
Was hatte ich da aus zweiter Hand bekommen? Erstens: ein Stück Papier, Teil einer Geschichte, die sich so oder so oder anders zugetragen hatte, und es jetzt mit meinen Ansichten, meiner Toleranz, meiner Missgunst, meiner Fantasie zu tun bekam. Zweitens: ein gebrauchtes Buch, das - der lächerliche Preis, für den ich es erworben hatte, behauptete das - seinen Wert verloren hatte. Drittens: Carla, die Worte und ihre Handschrift hinterlassen, damit die Macht über die Ereignisse verloren hatte. Viertens: Thilo, der einen Zettel, der ihm zu Herzen gehen sollte, zwischen den mittleren Seiten einer Lektüre vergaß, die ihn zunächst interessiert, auf Dauer jedoch gelangweilt hatte - weshalb er sie bald verramschte. (Ist es Carla mit ihm genau so ergangen? Oder hat Thilo den Zettel etwa nie erhalten - aus einer Mixtur aus Gründen, die einerseits Liebesbeziehungen tötet, anhand derer ich andererseits die Endlosigkeit von Geschichten beweisen könnte, ihren niemals schwindenden Wert?) Fünftens: Frau S., die als einzige der Figuren wirklich ein Problem hatte. Und zwar eines von der Sorte, die man loswerden will, aber nicht kann. Eines, das sich der verbreiteten Angewohnheit, das Leben zu erleichtern, indem man es von Gewicht befreit, widersetzt.
Denn so machen wir das: Wir vergessen, verraten, verkaufen. Wir trennen uns von dem, was wir nicht mehr mögen. Nehmen Geld dafür, dass andere unser Unwichtiges wichtig finden. Überlassen die Kleider, die unseren Körper zu wärmen, zu verhüllen und zu verwandeln vermochten, für ein paar Euro denjenigen, die weniger Geld als wir (oder nicht so viele Kilogramm zugenommen) haben. Und mit jedem Stück, das wir weggeben, rangieren wir Geschichten aus. Hausrat, Schmuck und Tinnef geht an Sammler, die wir für Bedauernswerte oder Künstler halten, weil es eine Schmach ist oder irgendwie abgefahren, Gebrauchtwaren sein Vermögen zu nennen. Wir belächeln die Überzeugung der Experimentierfreudigen, mitten in der Konsumwelt mit Ausgedientem einen eigenen Daseins-Stil kreieren zu können. Wir erliegen dem fatalen Missverständnis, Geschichten atmeten einmal ein, einmal aus und holten dann nie wieder Luft.
Im Spätmittelalter gaben die Fürsten ihre abgetragenen Kleider heraus, das Volk handelte damit, die Stücke gingen von Hand zu Hand, und bald schon setzte sich das fürstliche Leben mit neuer Besetzung fort: Flöhe logierten im Gewebe und wechselten auf den bald schon nach ihnen benannten Märkten die armen Besitzer. Keine unserer Geschichten hört je auf zu atmen, nichts ist zu Ende. Woher wir kommen und wohin wir gehen - überall war schon jemand, wir setzen immer etwas fort oder knüpfen an etwas an. Wenn unser eigenes Leben auch keine Wiederholung ist, so dehnt es doch nur das Leben anderer aus und reicht in das Leben wieder anderer hinein. Erlebbar wird dieser unvorstellbare Vorgang mit den Dingen aus zweiter Hand.
Eine unvollständige Liste der Dinge, in deren Geschichten ich wie der Floh vom Markt weiterlebe: drei Autos - eins stöhnte, wenn ich schon bei Gelb bremste, die Hupe des anderen klang wie eine Entschuldigung, mit dem dritten rede ich, weil es alt ist und zuhört und mir antwortet; zwei riesige Buffets, in deren Vitrinen ich jeweils eine alte Frau gefangen halte - die, die meine Wange an ihre ekligen Haarnetze drückte und die, nach deren Rezepten meine Mutter Rosinen in den Käsekuchen rührte, weshalb ich sie die Kuchenhexe nannte; eine ungeöffnete Flasche aus den 1970er Jahren, in der - mitten im Likör - zu einer Spieluhrmelodie eine Ballerina im Plastikröckchen tanzt. Vasen, Uhren, Schmuck, Geschirr, Werkzeuge. Ein Spielzeugauto aus Blech, in dem ein Junge, dessen Vater von der Gestapo geholt worden war, Knöpfe von der Stubenschwelle zur Küchenschwelle transportierte. Zwei Skatblätter, die ich im Abstand von Jahren in verschiedenen Städten erwarb - bei beiden fehlt der Eichel Bube; einzelne Manschettenknöpfe aus den Nachlässen von Männern, die einst mit nur einem Arm aus dem Krieg nach Weimar zurückgekehrt sind; ein Grammophon, das gesehen haben soll, wie sich seine Besitzer bei dem Lied „Röschen-Schottisch“, gespielt von der Stadtkapelle Gunzenhausen, küssten; zwei Röhrenradios, die geflüsterte Hoffnungen seiner Eigentümer aufs Kriegsende nährten. Kleider, Blusen, Nachthemden, Gürtel, Hüte, Hutnadeln, die Knöpfe aus dem Kofferraum des Blechautos, Bilderrahmen. Das stolze Fotoalbum von der Kraft-durch-Freude-Schiffsreise einer jungen Frau nach Norwegen und erste Farbbilder von Kranzniederlegungen: Männer unter roten Fahnen. Zeichnungen, Gemälde, ein „Ehrenzeugnis in Anerkennung von Fleiß und Wohlverhalten“, ausgestellt vom strengen Lehrerkollegium der Städtischen Gewerbeschule Dresden, 1916. Und Geld: Reichsbanknoten über Hunderttausend, Fünfhunderttausend und Eine Million Mark, Lebensmittelmarkenhefte, Aluminiummünzen.
Wer einen Gebrauchtwarenladen betritt, kann sie riechen, die Geschichten. Ob in den Vintagepalästen, wo die New Yorker das Kramen und Finden wie eine Party feiern, ob in der fensterlosen Buchte eines unsortierten mazedonischen Trödlers, wo Leichtsinn und Tastsinn den Handel tätigen, ob unter freiem Himmel auf der Londoner Portobello Road oder in Berliner Secondhandläden, deren Besitzerinnen den Ankauf mit spezieller Hochnäsigkeit gegenüber anderer Leute Besitz und Geschmack absolvieren, sogar auf dem Mercado von Havanna ... , es ist auf der ganzen Welt derselbe Geruch. Er lässt sich mit nichts vergleichen, daher auch nicht beschreiben. Es ist pure Anwesenheit, die in die Nasen kriecht. Ich kenne Menschen, die wegen des Geruchs keinen Secondhandladen betreten. Was uns keiner erzählt, davon wissen wir nichts, was wir nicht ins Blickfeld lassen, sehen wir nicht - doch hier kommen wir nicht umhin, es zu riechen. In der Tierwelt, aus der wir stammen, dient das Riechen dem Erkennen von Gefahren. Zwar schlagen unsere von chemischen Geruchskillern verdorbenen Nasen kaum noch Alarm, doch die Botschaft, die der Secondhandladengeruch übermittelt, löst zumindest Unbehagen aus. Es ist, als hätten die Geschichten dort in die Ecken gepinkelt. Als hätten sie mit dem Duft ihr Revier markiert: Das Leben, in dem du herumstreunst, Mensch, ist nur ein Fortgang der Dinge, es gehört dir nicht allein!
Im Grunde ist alles an mir Secondhand. Ich bin nicht das erste Kind gewesen, dem meine Hebamme auf die Welt half. Meine Mutter ist aus anderen Müttern gemacht, meine Kindergärtnerin hat auch vor und nach meiner Zeit die Rothaarigen zärtlich „Hexe“ gerufen. Meine Töchter haben eine Tochter zur Mutter, mein Mann hat eine Frau, die schon einem anderen gehörte, ist selbst ist auch aus zweiter Hand und wird das Männerbild nicht los, das die Männer vor ihm hinterlassen haben. Meine Großmutter trifft sich dort, wohin man nicht telefonieren kann, schon mal mit meiner Urgroßmutter, während mein Haus, meine Wohnung, immer mehr Mieter sammelt, weil alle, auch wenn sie verstorben sind, Ereignisse in Form von Kratzern, Dellen, Narben, Farben, Gerüchen dagelassen haben. Im Grunde ist es um mich herum nie still, weil ich nie allein bin. Weil mein Leben eine Behauptung ist und ich mit den Gegenbehauptungen zusammenwohne: im Dialog mit den Geschichten.
In diesem Sommer betrat ich einen Saal des New Yorker Museum of Modern Art, fand darin aber kaum Platz. Eine fette, vielsprachige Menschentraube hing an der Wand gegenüber dem Eingang, aus der Masse streckten Leute die Arme, um zu fotografieren, wohin sie nicht vordringen konnten, während vorn, wo wegen des Gerangels eine stickige, ja bedrohliche Atmosphäre herrschte, verschwitzte Fotos mit einem Gemälde von 1889 entstanden. Das Ölbild „Sternennacht“, eines der berühmtesten von Vincent van Gogh, ist quasi unbezahlbar. Und doch ist es Secondhandware. Es hat in einer Zeit geatmet, in der ein begabter Maler nicht mit Anerkennung belohnt wurde, unter Depressionen litt, sich während eines seiner merkwürdigen Anfälle ein Ohr abschnitt, in eine französische Nervenheilanstalt gesperrt, dort nicht behandelt, sondern lediglich mit Utensilien zum Malen ausgestattet wurde. Er malte den Blick aus dem Krankenzimmer, der sich so stimmungsgeladen ausnahm, wie es in seinem Innern aussah: Eine Ortschaft liegt ruhig im Schlaf, der Himmel jedoch ist aufgewühlt; die Farbe der Nacht ist typisch französisch, das Dorf aber sieht niederländisch aus wie des Malers Heimat; düstere Zypressen drängen in den Vordergrund, hinten schaukelt die Mondsichel zwischen Sternen, die grinsen wie große gelbe Blüten. Nun, 2015, holt der „Sternenhimmel“ erneut Luft und setzt sein Leben fort. Während das Gemälde einst in der Abgeschiedenheit nach Art der Postimpressionisten den mächtigen Emotionen, dem Befinden, also dem Subjektiven eine Form gab, wird es heute zur Ausdrucksform eines übermächtigen Gegenstandes: des Smartphones, das alles, doch keine Gefühle sichtbar machen kann - und dem Bild doch unendlich mehr Beifall verschafft als es zu früheren Zeiten bekam.
Wer Secondhandware heimbringt, wäscht sie oder macht sie sonst irgendwie sauber. Der Zettel, der mir das Detail einer Geschichte, eine Bleistiftnachricht und Namen zuspielte, ist aus dem Buch gefallen, als ich es gleich nach dem Kauf wie einen Einkaufsbeutel voller Krümel ausschüttelte. Im Buch selbst, in einer aus dem Serbokroatischen übersetzen Geschichte, leben zwei Männer in einer von anderen heruntergelebten Dachkammer, schlafen im Stroh, das sie hier vorgefunden, beobachten die Schaben, die schon lange hier gelebt haben. In den Schimmelflecken an der Wand erkennen sie die Kontinente der Erde, im stillen Dialog mit dem verrußten Boden, der Tapete aus altem Zigarettenqualm, dem Viereck, das der morsche Fensterahmen umspannt, tun sich Geschichten auf, die sie notieren. Mitunter stellen sie fest, dass, was sie auf diese Weise zu Papier bringen, wirklich passiert. Im Bekenntnis zu gebrauchten Dingen ist nichts unwahrscheinlich. Es ist Religion. Und einer der Dachkammerbewohner sagt: „Ich würde mich in dem Moment, da ich begreifen würde, dass ich mir selbst genug wäre und mich mit einem Monolog begnügen könnte, umbringen.“
Nadja Klinger