Wann ist es Zeit, darüber zu reden dass eines Tages doch alles ganz anders ist? Wie reden und worüber schweigen?
Kaum jemand bemerkt die Momente, da Elisabeth von ihrem Schädel versetzt, ins Abseits gespült und von der, die sie einmal war, getrennt wird: wenn sie nach einem Wort greift, und der Arm zu kurz ist; wenn sie weiß, wie man einen Gegenstand bezeichnet, aber nicht, wozu man ihn gebraucht; wenn sich die Stimmen verheddern; wenn sie sich vor Menschen fürchtet, deren Gesichter verraten, dass sie Elisabeth kennen; wenn sie sich im Netz der Aufmerksamkeit festkrallt und doch durch eine Masche rutscht. Niemand kann das sehen, nur sie selbst sieht sich: an die Hoffnung gefesselt, von maßloser Erwartung gehetzt, nach der Uhr langend, die sich schlaff am schlaffen Handgelenk hält. Der Sekundenzeiger bewegt sich, der Puls ist greifbar, Gedanken drängen sich zwischen Erinnerungen, die aussehen wie die Bruchstücke von gerillten Scherben aus Vinyl - doch das Meiste, was mal da war, ist weg. Das muss sie verheimlichen!
Unter Schweißausbrüchen gelingt es ihr, an Wörter zu kommen. Sie versucht Aussagen. Lügen, wenn's sein muss. „Die Gegenwart ist ein Vakuum.“ Das ist nicht von ihr, das hat sie gelesen. Wo? Wann? Sie erinnert sich nicht. Nichts, was sie weiß, ist hilfreich und es hilft auch nicht zu wissen, dass sie überhaupt etwas weiß. Gelegentlich lächelt sie einfach breit. Anderen etwas vormachen - der, die sie einmal war, ist das nie gelungen. Die, die sie jetzt ist, hat wenigstens noch diese Möglichkeit. Denn die Gegenwart ist heimtückisch. Ein schleimiger Schlund, in dem Elisabeth sich kaum halten kann. Die Kluft zwischen ihrer Anwesenheit und ihrem Dasein. Der Tag, der länger dauert als die letzten 70 Jahre und verdorben ist, aber noch lange nicht tödlich.
Elisabeth könnte meine Mutter sein. Als wir uns kennenlernten, war ich das, was man minderjährig nennt. Obwohl man mich immer im Juli beglückwünschte, weil ich älter wurde, mangelte es mir an Jahren, um alt genug zu sein. Der Jahresmangel war ein enger Raum, den Elisabeth mit Zuversicht tapezierte und mit Erklärungen in warmen Farben möblierte. Nach einem der minderjährigen Geburtstage, am Sommerende, bekam ich zumindest beim Schwimmtraining mein Älterwerden zu spüren. Fortan gehörte ich zur Altersklasse derjenigen, deren Badeanzüge mit Abnähern versehen waren. Die beiden Nähte stießen unter meinen Achseln hervor und markierten hämisch, wo die Anwesenheit von Weiblichkeit den Stoff hätte strapazieren sollen. In der Umkleidekabine fuhr Elisabeth, die mich stets mit dem Auto von der Schwimmhalle mit nach Hause nahm, mit Fingerspitzen und Fäusten unter meinen Badeanzug und demonstrierte, warum ich nicht mutlos zu sein hatte. Ich verstand: Mein Leib befand sich in der Möglichkeitsform. Ich verkörperte den Konjunktiv meines Lebens.
Auch Elisabeth war einmal ein Konjunktiv gewesen, doch ich konnte sie mir nur als Gewissheit vorstellen. Es mangelte ihr an nichts. Wie Richtungspfeile wiesen die Abnäher an ihren Blusen auf die hinterm Stoff lauernden Brustwarzen hin. Sie war volljährig. Sie wusste bescheid. Sie sagte: „Iss das, das schmeckt!“ Oder: „Das tut nicht weh.“ Oder: „Das schaffst du.“ Oder: „Kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken.“ Immer an ihrem Geburtstag im November beglückwünschte man sie dazu, dass sie "überhaupt gar nicht älter" wurde. Zwar erreichte sie eines Novembers ebenfalls eine höhere Altersklasse. Doch statt sich mit einem neuen Badeanzug zu arrangieren, trickste sie das Ereignis aus. „Ich fühle mich nicht so alt, wie ich bin“, sagte sie. Die Geburtstagsgäste applaudierten und bekannten, es genauso zu machen. Offensichtlich war das für sie alle keine leichte Sache. Die Trickserei verlangte nach dicker Schminke und Nagellack, nach Protzen, Dazwischenrufen und Lautstärke. Sie ließ die Protagonisten anzügliche Bemerkungen machen, die mit After-Shave-Ekel nachklangen, verleitete zu groteskem Kichern und schrillem Lachen, zu Bügelfalten, Gürteln, Halstüchern und Hüten sowie dazu, bausteingroße Klunkern auf welkende Dekolletés zu drapieren.
Irgendwas stimmte nicht mit dem Älterwerden. Zu keinem Zeitpunkt des Lebens schien es das zu sein, was es war. Erst vollzog man es ohne Wirkung, dann wirkte es, ohne dass man es vollzog. Es war der Besucher, den niemand eingeladen hatte. Daher konnte es sehr zornig werden. Es war der machtvollste Gast jeder noch so bunten Geburtstagsfeier. Die schwarze, die dreizehnte Fee.
Wenn sich Elisabeths Gäste in der Nacht auf ihre Heimwege machten, blieb die Fee ihnen auf den Fersen, zauberte die aufwendige Maskerade von ihrem Gebaren, und ließ sie einander ihre Furcht mitteilen. „Der wird auch nicht jünger“, sagten sie über jemanden, mit dem sie eben gefeiert hatten. Und: „So was kann die doch nicht mehr tragen.“ Oder: „Ganz schön flott für sein Alter.“ Spotteten sie gegen die Dunkelheit an, die der Beweis dafür war, dass jedes Licht erlischt? Wie spät ist es im Leben eines Menschen, wenn es dämmert? In manchen dieser kräftezehrenden Nächte war das Älterwerden den Tricksern sogar wirklicher als der Hang zur ewigen Jugend: „Junger Mann, ich bitte Sie!“, hörte ich eine Frau direkt vor unserem Haus flöten, „Ich könnte Ihre Mutter sein!“
Die Gewissheit, die Elisabeth für mich verkörperte, bestand darin, dass sie an die Trickserei glaubte, obwohl sie wusste, dass sie sich irrte. Sie behauptete, dass nicht nur ich, sondern wir alle in der Möglichkeitsform leben. Sie wies mich an, mich zu bewegen. Ließ mich machen. Als auch ich endlich volljährig war, ließ sie mich los und tat, als wäre, wenn ich nur geschickt einen Fuß vor den anderen setzte, alles drin. Ich bediente mich ausgiebig meines Körpers: erzog, trainierte, testete ihn, lud ihm Erfahrungen auf, mutete ihm Erinnerungen zu, verschliss seine Unbedarftheit, die Sehschärfe, die Gelenke. Landete ich beim Arzt, machte mich das wütend, nicht demütig, denn ich fühlte mich meinem Körper nicht untertan, sondern als seine Besitzerin. Meine Narben blieben, doch ich hielt sie nicht für lebenslange Verwundungen. Elisabeth hat mich betrogen. Sie gab mir ein trügerisches Gefühl von mir selbst.
Es ist nützlich, sich dessen, was man hat, gewiss zu sein. Es ist schön, sich jung zu fühlen, und sinnvoll zu glauben, man ginge durch sein Leben und hätte es gleichzeitig in der Hand: die unerwarteten Ereignisse, das eigene Vermögen, die Schuld, die Folgen. Und vielleicht auch noch Elisabeths Leben, wenn es ihr entgleitet? Ja, sie ist jetzt krank. Anstatt alles in der Hand zu haben, hat sie die Demenz. Es ist hilfreich, eine lange, gute, friedliche Zeit gehabt zu haben, denn es gibt eine Zeit danach. Sie ist gewalttätig, ungut und kann ziemlich lang werden. Elisabeth war eine gescheite Betrügerin.
Krankheit ist Schicksal. Das Schicksal ist in uns vorgesehen. Unser Vorwärtsgehen ist ein Rückzug. Von dem Moment an, da unser Körper ausgewachsen ist, wir ihn benutzen und verschleißen, nehmen unsere Möglichkeiten ab: Geburt, kurzes Heranwachsen und Reifen, dann Ergrauen, Schrumpfen, Verdämmern, Welken. Während wir auf uns selbst setzen, machen sich unsere Körper aus dem Staub. Das Altwerden ist kein Streckenabschnitt, sondern das ganze Leben. Das Altsein ist die rare Gelegenheit, sich selbst dabei zu ertappen, wie man verschwindet.
Weil wir forschen und handeln, Blutkreislauf, Organe und Gliedmaßen gut versorgen, steigt unser durchschnittliches Lebensalter. Wir sind noch da, wenn Generationen vor uns schon unter der Erde lagen. Wir bekommen die Krankheiten, die sie nicht mehr erlebten. Zuerst vergessen wir das Wort, mit dem wir ein Ding oder Ereignis verstehbar gemacht haben. Dann vergessen wir den Zweck, das Ziel, gehen los und verlaufen uns. Wir setzen uns auf die Kühlerhaube eines Autos, die wir für eine zu hoch geratene Bank halten, schließen die Augen und legen die gerillten Scherben aus Vinyl so zusammen, dass sich die Form einer Schallplatte erkennen lässt. Doch abspielen können wir sie nicht mehr.
Die Demenz ist das Vorzeigeexemplar des modernen Altwerdens: das personalisierte Verschwinden. Die Krankheit ist speziell. Sie gesellt sich nicht zu uns, sondern bedient sich. Was von uns übrigbleibt, ist fragil, launisch und aggressiv. Dort, wo wir ein Leben lang waren, finden wir kein Obdach mehr, denn mit dem Gedächtnis haben wir unser Hab und Gut verloren: Erinnerungen, Können, Geschichten, Bindungen, die Möglichkeit, uns selbst als Teil des Ganzen zu sehen. Weil wir unserer misslichen Lage auf der Kühlerhaubenbank nicht entkommen können, erheben wir uns wieder, laufen und laufen. Man bietet uns Hilfe an, jedoch haben wir keine Ahnung, wo wir wohnen und wie wir heißen. Unser Verstand ist nicht mehr mit dem Dasein verdrahtet. Wir sind so verwirrt, dass wir nicht einmal die Richtung finden, die zum Tod führt.
Worüber reden, wenn nicht schweigen? Den Tod zu bedenken, das ist etwas, was man sich eines Tages zutraut. Der Gedanke ans Alter jedoch macht immer melancholisch.
Elisabeth geht nicht mehr vor die Tür, sondern bleibt zu Hause, wo die Handtücher riechen wie die Handrücken, mit denen sie beim Heulen die Rotze von der Nase wischt. Die Schränke atmen aus, wenn sie suchend hineinschaut, die Scharniere der Türen seufzen zusammen mit ihr. Die Nummerntasten des Telefons sind abgegriffen, berührt sie eine nach der anderen, ergibt das eine vertraute Melodie. Die meiste Zeit aber sitzt sie da, dreht Daumen und lässt den Tag in ihren Körper sacken wie eine zähe Flüssigkeit, die das Maß voll macht. Abends sind die Fesseln geschwollen, am Morgen immer noch. Es gibt keinen Neuanfang mehr. Ihre Möglichkeiten sind aus der Form, übriggeblieben von dem, was sie mal waren. Manchmal holt Elisabeth tief Luft, als hätte sie in sich drin noch einen Trick versteckt, den es herauszusaugen gilt, nur will ihr Atem partout nicht mehr tauchen, sondern bleibt an der Oberfläche.
Sie hockt in einem engen, unsichtbarem Panzer, der sie vor allem und vor jedem bewahrt, das und den sie nicht identifizieren kann. Hier wird sie nicht unablässig in den Alltag zu verstrickt, kommt ohne Nachdenken aus, ohne Suchen, ohne diese fiese Spielart der Hoffnung, der man sich vergebens hingibt, die nutzlose Version der Angst. Der Panzer ist ein Kampfgerät. Manchmal überrollt er jemanden, der sich nähert. Oder Elisabeth schießt. Wenn ich sie besuche, kommt sie heraus. Wir reden miteinander. Sie spricht nicht von uns, nur noch von sich. Von der Gemeinschaft der Zukünftigen ausgeschlossen, verengt sich ihr Leben auf das Ich. Wir streiten viel, anders kriegen wir unser Zusammensein nicht mehr hin. Sie schießt, um sich zu verteidigen. Ich verteidige mich, weil sie getroffen hat. Sie kann gewieft durch eine Debatte steigen, das hat sie noch drauf, und sie fühlt sich gut dabei. Beherrscht die Form, doch da ist kein Inhalt mehr, und wenn der Streit zu lange dauert, weiß sie nichts mehr über ihn, und beginnt einen neuen. Egal. Worte fühlen sich an wie Schritte. Wie das gute alte Vorwärtskommen. Doch die Spuren, die wir hinterlassen, sehen aus, als hätten wir mit Kreide auf Glas geschrieben. Staub. Kein Inhalt. Keine Antwort. Nicht einmal Munition.
Der den anderen Fingern gegenüberstehende Daumen, sein Vermögen, etwas fest in der Hand zu halten, heißt es, mache die Würde des Menschseins aus. Dicht bei Elisabeths linkem Daumen baumelt Elisabeths Uhr. Auch das hat sie irgendwo gelesen: „Alt sein ist, nach der Zeit zu schauen und zu denken: So spät ist es schon!“ Sie zitiert es oft und bestreitet jedes Mal kurz darauf, es getan zu haben. In Nu ist die Gegenwart Vergangenheit. Plötzlich ist unser Leben damals, so war es von Anfang an, nur haben nicht alle Gelegenheit, es dabei zu ertappen. Die Daumen machen sich am Faden Zeit zu schaffen, auch das ist ein schöner Trick, und eines Tages wird Elisabeth, während sie sich dabei zuschaut, vergessen zu schlucken und zu atmen.
Nadja Klinger