Erster Tag. Vorm Wolkenbruch in den Metroschacht geflohen. Das Regenwasser aus der achten Straße fließt hinter mir her, dampft auf der vom Wetter aufgeheizten Treppe. Unten zwei Schwarze, ein Paar, das sich anbrüllt. Schwer zu sagen, ob ihr Streit aus dem mittelmäßigem Gift der Gewohnheiten besteht oder unheilschwanger ist. Der Mann spuckt Worte, indes er mit den Augen mein Kleid zerreißt, das der Regen durchsichtig gemacht hat. Da legt sich seine Frau direkt vor der unteren Treppenstufe auf den Rücken, schließt die Augen, staut das Wasser.
Zweiter Tag. Morgens auf dem Uferweg des Hudson River. Hier keine Fahrräder! Hier keine Hunde! Hier auf Fußgänger Rücksicht nehmen! Wo ein Hinweisschild hängt, habe ich die Option. Zu Ihrer Sicherheit rechts halten! Nachmittags in der Metro. Überall war schon mal jemand, hat schon einer die Bedingungen versaut, ist schon mal etwas passiert. Lassen Sie den Müll nicht liegen! Mach Sie sich nicht so breit! Geben Sie ihren Sitzplatz für andere her - am besten mit einem Lächeln!
Dritter Tag. Kein Ziel außer: das härtere Licht, die tieferen Schatten, der in Platten aufgeteilte Boden; die Wolken, die aus der Kanalisation aufsteigen wie der Dschinn, der sich gegen ranghöhere Geister auflehnte und zur Strafe in eine Flasche gesperrt wurde; der A-Train, der Tempo aufnimmt, um, mit den alten Hüften schwingend, unterm East River hindurch zu tauchen als wäre das ein Problem. Kein Ziel außer: die Gewalt, die Größe, das Gewicht der Details - vereint in der Kulisse aus unnachgiebigem Lärm.
Sechster Tag. Die quadratischen Grundrisse der Zwillingstürme sind zwei Krater im Boden, an deren Seiten Wasser herabfällt, und kein Mensch kann sich so weit über die Kraterränder beugen, dass er sehen könnte, wie tief.
Bist du etwa schon weg? - Seit sieben Tagen. - Warum hast du nichts gesagt? - Hab ich. Schon vor langer Zeit. - Warum hast du mich nicht noch mal erinnert? - Woran? An mich?
In den Nächten der letzten Jahre war ich immer wieder in New York. Stets war der letzte Tag meines Aufenthalts angebrochen und ein rasant anschwellender Puls trieb mich durch einen Tunnel aus Zeit und Möglichkeiten, in dem mir gewahr wurde, dass ich Adressen und Menschen, die ich beständig herbeiwünsche, diesmal wieder nicht besucht hatte. Ich befand mich in dem Traum, der die Begegnung zwischen mir und meinen Sehnsüchten spiegelt. In den ich hineingerate, um ihn zu vermasseln.
Neunter Tag. Letzte Nacht im Traum ein Kuss, den ich auf Lippen legte. Die sich nicht rührten. Noch ein Kuss, wieder und wieder. Kein Wort, kein Gesicht. In meinen Träumen werde ich in die Mitte geführt, dorthin, wo ich mich um mich selbst drehe, wo ich heimlich, so heimlich, dass ich es gar nicht weiß, ringe, hadere, kämpfe - aufgebe oder gewinne.
Elfter Tag. Vertraue am Vormittag dem Internet meine Sehnsüchte an. Ein Fehler ist das, obgleich er mich davor bewahrt, Wege vergeblich zu gehen: „Diese Adresse existiert nicht mehr.“ Oder: „Dieser Ort wurde dauerhaft geschlossen.“ Vorbei. Das Netz ist mein einziger Vertrauter, der schonungslos sein darf, weil er mich ja nicht kennt. Vorbei, das ist einer der Gründe, warum wir fortgehen; und wir gehen fort, um wiederkehren zu können.
Dreizehnter Tag. In meiner Tasche Max Frisch. Schriftsteller, Reisender. Immer wieder Manhattan. Von 1974 - im Tunnel von Zeit und Möglichkeiten herrschte noch nicht so ein mächtiger Sog wie heute - ist sein Reisetagebuch: „Es stört ihn, dass immer Erinnerungen da sind.“
Sechzehnter Tag. „Wenn du etwas festhalten willst, bist du hier falsch“, sagt N., meine Freundin. Noch vor ein paar Jahren haben wir beide alte, sehr alte Filme geschaut in E.s kleiner Stube in den Washington Hights. Wir wissen beide nicht, ob E., der das Alte festhielt und das Neue nicht in sein Leben ließ, noch lebt. Er sagte: „Als der Sex die Sphäre der Gedanken verließ und ins Bild kam, war es mit dem Kino vorbei.“
„Aber ich bin doch in New York, Mama.“ - „Das wusste ich gar nicht.“ - „Aber ja.“ - „Nein!“ - „Du hast es vergessen, Mama, das ist nicht schlimm.“ - „Na doch.“ - „Aber nein.“ - „Wie kannst du es wagen, das zu beurteilen?“
Vergessen: Amerikanische Eier kann man hoch über der Pfanne aufschlagen und fallenlassen - das Eigelb geht beim Aufprall nicht kaputt, was für ein Spaß! Vergessen: regelmäßig die Hausmitteilungen in der Lobby zu lesen. Das Wasser in Strang P wird abgeschaltet, gerade als ich dusche. Also lese ich, ein Handtuch um den eingeschäumten Kopf gewickelt: Jemand hat auf dem Balkon gegrillt, wir alle werden daran erinnert, dass das in Manhattan verboten ist.
Während des Konzerts vorm Lincoln Center fliegen immer wieder Flugzeuge über uns hinweg, von links nach rechts, ziemlich tief, weil kurz vor der Landung. Angestrahlt von der untergehenden Sonne tauchen sie in einem Himmelsabschnitt zwischen zwei Wolkenkratzern auf. Vergessen: Erst sieht das aus, als würden sie aus einer Fassade gespuckt, dann, als wollten sie in eine Fassade hineinkrachen.
In der Nacht ein Gewitter. Zuckende Blitze zerstechen die geschlossenen Lider, es scheppert in einer Häuserschlucht, dann prasselt es in der anderen, dann zersplittert die dritte. Zum Glück vergessen: Über diese Stadt liegt sich ein Gewitter nicht wie ein grollender Zeitraum, sondern es bricht in sie ein.
Einundzwanzigster Tag. In der Zeitung steht, dass in der Gegend um die Hudson und die West 10th Street ein Mann nachts in Wohnungen steigt und schlafenden Frauen an den Hintern grabscht.
Langsam vermisse ich dich. - Das ging aber sehr schnell. - Wie meinst du das? - Ich weiß nicht.
Max Frisch in Manhattan: „Umweltverschmutzung durch Gefühle, die nicht mehr zu brauchen sind - etwas Verfaultes, weil ich es nie ausgesagt habe oder nie ehrlich genug, nicht mit Bewusstsein verabschiedet. Es wird Zeit.“
Vierundzwanzigster Tag. In einer in der Leere dösenden Straße in Queens spricht mich ein Mann von hinten derartig an, dass ich aufschreie und zur Seite springe. Er hebt beide Hände: „You look like Cinderella!“ Ach. Auch das hatte ich vergessen.
Siebenundzwanzigster Tag. Ein Mann setzt sich neben mich an den Brunnen auf dem Washington Square. Er hat Stifte und einen Skizzenblock dabei, singt Come Josephine, In My Flying Machine - so wie Leonardo DiCaprio auf dem Bug der Titanic, und beginnt zu zeichnen. Wenn er vom Papier hochschaut, schaut er mich an und legt den Kopf schief. Um mich herum entstehen Handyfotos. Sobald ich die Wohnung verlasse, bin ich auf Bildern, auf die ich nicht gehöre; Schnappschüsse auf Familien, den Brunnen, die Skyline, treffen auch mich, es ist wie in einem Gefecht: sinnlos abzuducken. Ich bin die bekannte Unbekannte, die gewissenlos festgehalten und mitgenommen wird. „Oh, I’m SORRY!“ - „No! Sorry ME!“ Doch der Mann neben mir, der ein Gewissen hat, der nicht mich will, sondern nur das, was sein Stift sich unter mir vorstellt, geht mir zu weit. Mir ist, als würde er mich sanft berühren.
Hey. Was vermisst du denn, wenn du mich vermisst? - Na alles. - Reicht mir das?
Vierunddreißigster Tag. Wir bewegen uns durch die Wohnung, der Mann vom Brunnen und ich, als wären wir beide Fremde: auf der Bühne, die wir betreten haben; in der Nacht; in unseren Körpern; in den eigenen Erfahrungen; im Leben. Unser Sprechen, das Englisch und das Deutsch, wagt sich zu weit vor, macht Rückzieher, versteht sich selbst nicht - ein Problem. Ich liege rücklings auf dem Bett, sehe über die Fußspitzen hinweg auf Downtown. Eine Fototapete, die Geräusche macht. Falsches, richtiges Leben. Der neue Turm des World Trade Centers sieht aus, als hätte ihm jemand eine Weihnachtsbaumkugelkette um den Leib geschwungen. Falsche, richtige Zeit. Ich lese dem Mann vom Brunnen in meiner Sprache aus einem Buch vor. „Man missversteht sie, bevor man ihnen überhaupt begegnet, schon während man daran denkt, ihnen zu begegnen; man missversteht sie, wenn man mit ihnen zusammen ist; und dann geht man nach Hause und erzählt jemand anderem von der Begegnung und da versteht man schon wieder falsch.“ Vor drei Jahren hat der Schriftsteller Philip Roth erklärt, das beste aus seinen Möglichkeiten gemacht zu haben und nie wieder ein Wort zu schreiben. Ich zeige auf das Fenster über meinen Fußspitzen, weil ich mich nach der Zugluft sehne. „Jedenfalls bleibt die Tatsache, dass es im Leben nicht darum geht, Menschen richtig zu verstehen. Leben heißt, die anderen misszuverstehen. Daran merken wir, dass wir am Leben sind: Wir irren uns.“
Auf dem Weg zurück nach Hause, eine Viertelstunde nach dem Abheben der Maschine: Auf Anweisung der amerikanischen Flugsicherheitsbehörde dürfe es während des Fluges zu keiner Zeit zu Menschenansammlungen auf dem Gang oder vor den Toiletten kommen.
Nadja Klinger