Das ihr völlig fremde Wort, das aus der Schifffahrt kommt, saß, seit sie es irgendwann aufgefischt hatte, mit drei L in ihrem Kopf und nahm Platz weg. Nun also entstand wieder welcher. Lücken taten sich auf. Die Leere mehrte sich, jede noch so kleine Chance, die demnächst in Frau K.s Nähe kam, würde sich gut ausmachen lassen – dort, wo sich bislang Manieren und Angewohnheiten gestapelt hatten, Hinterlassenschaften gescheiterter Versuche, haufenweise Bedenken, das ein oder andere einfach erneut zu probieren.
Jedoch. Der Ballast erwies sich zum Teil als wertvolles Gepäck. Frau K. fand Post: große, dicke, mit Briefmarken versehene, sowie winzige, eilig verschönerte Zettel. Geschenkpapier. Strandgut. Ein Unterhemd, in dem – die Sinne lassen sich nicht missbrauchen, vor allem nicht, wenn die Vorhaben auf die Zukunft gerichtet sind – ein ganz bestimmter Geruch hing. Sie fand Eintrittskarten und Fahrscheine, die Menükarte eines Restaurants, Servietten aus dem Speisewagen, einen Plüschbären, der nicht halb so alt war wie sie selbst, Musik-Mix-Kassetten, einen Plastikehering, Gedichte, aus Zeitungstexten geschnittene Fragen, ein grinsendes Schwangerschaftsteststäbchen, den Staub, der zustande kommt, wenn man Rosenblüten viele Jahre nachdem sie getrocknet sind zwischen zwei Finger nimmt. Nicht nur auf den Ballast, auch auf das Entsorgen war kein Verlass. Frau K. wollte loswerden, doch sie fand: eine Liebe, deren Süße ihr einmal und dann nie wieder zuteil geworden war; Berührungen, die durchs Hirn tanzten; Lust erheblichen Ausmaßes; brauchbaren Stolz; Spaß. Sie hatte „mein Leben“ gegen Neues ersetzen wollen, und nun vermisste sie das Alte.
Und es war schon Februar. Da sie es also nicht hinbekam, an ihrem eigenen Dasein direkt etwas gutzumachen, wollte Frau K. wenigstens dem Enno eine gute Gattin sein. Sie wandte den großen Vorsatz „Ich will niemandem wehtun und ehren, was ich habe“ auf ihre kleine Ehe an, verursachte keinerlei Beschwerden und widmete dem Alltag ihre Fürsorge. Sie lächelte, während sie Enno zuhörte, antwortete, wenn er sie etwas gefragt hatte, und an Sonntagen widerstand sie dem Drang, sich daheim schludrig zu bekleiden. So kam es, dass sie aus der Ehe, die schön friedlich geführt wurde, mehr und mehr verschwand.
Und es ward März. Sie wollte eine gute Mutter sein. „Mach dir keinen Stress, ich verstehe das doch“, sagte sie zu Enno jr., der am Telefon von den Schwierigkeiten sprach, zum Osterfest heimzukommen, vom anspruchsvollen Pensum, neuartigen Herausforderungen, attraktiven Aussichten. Das Gewicht der Gedanken, das nach der tapferen Demonstration von Selbstbescheidung eine Weile ihr Gemüt belastete, wandelte sich zu ihrem Erstaunen doch noch in jene Wärme in der Brust, wie sie nur bedingungslose Liebe erzeugt. Es wurde April. In seiner Osterpost schrieb der Sohn: „Ich wünschte, du hättest gesagt, dass ich kommen soll, weil du mich gern bei dir hättest.“
Im Mai wollte Frau K. eine gute Arbeitskraft sein. Den soliden Charakterzügen pünktlich, freundlich, fleißig, kollegial, mit denen sie ohnehin aufwartete, fügte sie deshalb die Eigenschaft nachsichtig hinzu, die nicht besonders strapazierfähig und ihr schon mehrfach missglückt war – das ganze Lehrerkollegium scheiterte an ihr, denn die per se unschuldigen, bereits mit Nöten beladenen Kinder machten sich in der Schule durchaus verbaler und körperlicher Gewalt schuldig. Abende lang erdachte sich Frau K. die Grammatikstunde, einen kühnen Ausflug ins Fremdland, wo Kinder sich auskennen sollten, obwohl nicht einmal die Eltern dort klarkamen. Perfekt mit Theorie ausgerüstet, begann sie den Unterricht. Das vorbereitete bunte Material wurde gemocht, war hilfreich, war für die Katz, als Kevin rief: „Du Dreckshure!“ Was an Selina gerichtet war. Die antwortete: „Fick deine scheiß Fotzenmutter!“ Frau K. erfuhr: dass ihr in Verzweiflung geratender Körper zu atmen aufhört und jedes Wort nach der ersten Silbe erstickt; dass in ihr ein riesiges Bedürfnis zu heulen lauert; dass sie Kinder, die sie in Kämpfe verwickeln, nicht gernhat. Am Abend Ennos Beschwerde: „Was bist du denn so mürrisch?“ Und die Gattin, so ungebremst, als hätte es den März nicht gegeben: „Geh doch d u mal 45 Minuten in die 4a!“
So ergab sich für sie die Gelegenheit, sich im Juni als gute Patientin zu erweisen und wenig Kosten zu verursachen, indem sie auf teure Verordnungen verzichtete, früh zu Bett ging und sich, nach zwölf Stunden Schlaf immer noch vollkommen gerädert, in den Unterricht schleppte. Es folgte ein Wehwehchen auf das andere. Der Hausarzt stöhnte: „Wie soll ich der Kasse die vielen Krankschreibungen erklären?“ So ging es, bis Mitte Juli die großen Ferien anbrachen und Frau K. nun wenigstens zu einer guten Kundin der Pharmaindustrie wurde, da sie sich von Medikamenten ernährte.
Sie war jetzt eine wirklich gute Nachbarin, die den August, da die anderen im Haus verreisten, damit verbrachte, deren Briefkästen zu leeren und Balkonpflanzen zu gießen. Sie war auch eine richtig gute Freundin, weil sie aus eigener Erfahrung einiges an Rat und Mitgefühl beizusteuern hatte zu den Krisen, in die man in der Ehe, als Mutter, auf der Arbeit geraten konnte. Im September – in den ersten Wochen des Schuljahres scheint ja immer noch die Sonne – fühlte sie sich in der Lage, eine gute Tochter zu sein. Nach der Arbeit holte sie die Mutter zu Spaziergängen ab, und erst als das Bedürfnis, die alte, vorwurfsvolle, im selben Maße untröstliche wie besserwisserische Frau zu kränken, übermäßig wurde, gab sie auch diesen Plan auf.
Im Oktober war sie eine gute Staatsbürgerin. Obgleich das Wort Willkommenskultur eine völlig neue Vokabel in ihrem Dasein war und sie bislang auch niemanden kannte, der ihr zeigen konnte, wie’s geht, ließ sie sich blicken und schenkte zum Gruß: Momente unsicheren Lächelns, ein bisschen Muskelkraft beim Abladen von Liegen und Decken vor einer Turnhalle, Worte und Wachsamkeit, wo immer jene Fragen und Zweifel sich eine Bahn in Gespräche bahnten, in denen letztlich auch sie nicht sagen konnte, was nach dem Willkommen heißen eigentlich noch so passieren würde.
Das Leben bewölkte sich zunehmend, es wurde kalt und jeden Tag sehr früh dunkel, da dachte sie: ‚Es wäre doch gut, wenn ich zu mir selbst gut wäre.’ So kam es, dass Frau K. es im November mit der allergrößten Herausforderung des Jahres zu tun bekam. Wie dies anstellen? Wer war sie? Und wie machte sie, wenn sie eine Antwort auf diese Fragen fände, daraus einen guten Plan? Der Dezember kam schneller, als ihr recht war, sie backte Plätzchen, die andere begehrten, kochte Essen, das anderen gut schmeckte, versandte Post, die andere erwarteten, machte Geschenke, über die sich andere freuten. Die Erschöpfung, die sie spürte, war nicht krankhaft und hielt bis weit in den Januar an. Und nun ist schon wieder Februar.
Alle vier Jahre, so scheint es Frau K., geschieht etwas Wohltuendes: Der Februar bekommt einen 29. Tag. Das Schaltjahr darf kein Jahr sein, sondern muss länger dauern, muss innehalten, weil die Zeitmessung nämlich beständig der Sonne vorauseilt. Weil sie sich als der große, unumstößliche Zeitplan aufspielt, auf Genauigkeit pocht, Frau K.s Vorhaben rahmt, sie vorwärtsdrängt und zugleich einengt, weil die Vorgabe des Kalenders sie von ihren Versäumnissen wegzerrt, so dass sie nichts wieder gutmachen kann – und das alles, obwohl das Jahr doch selbst nicht einmal die von der Sonne markierten Jahreszeiten einhält.
Sie stapft durch den Schnee, setzt fest auf, wird nicht rutschen. Sie fühlt sich gut, während sie durch diesen Februar geht. Das Licht des Vollmonds macht ein klares Geräusch, der Wind streift sie mit kalten Fingern. Die gefrorene Rinde der Bäume duftet. Sie hört sich atmen, der Herzschlag pocht im Hals. Sie kam an einem 13. zur Welt und es war Herbst, doch am 29. Februar, das spürt sie, ist ihr Geburtstag. Mit einem geschenkten Tag bittet das Leben all diejenigen um Verzeihung, die sich dazu haben verführen lassen, ihre Anwesenheit auf der Welt verlässlich durchzuplanen. Frau K. lächelt vorfreudig. Die Gegebenheiten korrigieren sich.
Nadja Klinger