Ich habe das Licht, den Wechsel der Farben nicht bemerkt. Aber ich erinnere mich daran. Weil ich beim Erinnern schlauer bin als im Jetzt. Weil ich mir nicht nur am Heiligabend, an den ich gerade zurückdenke, meine eigenes Lichtlein anzünde. Alles, was sonst noch aufleuchtet, bleibt unbemerkt. Das ist bedauerlich, weil es sich dabei um ein wertvolles Phänomen handeln könnte: um ein erstes Anzeichen. Erste Anzeichen bieten sich an. Sie können mich zu einer Erkenntnis führen. Wenn ich das zulasse.
Was also ist passiert? Da war das Geschenk, das mit meinem Namen versehen und das weitaus größte Paket unterm Baum war. Alle in der Stube wollten sofort reinschauen. Alle waren verblüfft, lediglich eine Zahnbürste vorzufinden. Alle witzelten über die wichtige Kiste, die neben der Bürste noch zum Vorschein kam. Und niemand ließ sich von dem Gedanken behelligen, dass da irgendwas nicht stimmt. Hätte man uns noch kurz vor Heiligabend gefragt, was zu einer Zahnbürste gehört, hätten wir herablassend geantwortet: Zahncreme und Zähne. Nun jedoch begeisterten wir uns für reichhaltiges Z u b e h ö r . Für die Behauptung, all die Klein- und Großteile in der wichtigen Kiste dienten dem Zweck des Zähneputzens. Wir betrachteten die ersten Anzeichen und sahen sie nicht. Das Licht wechselte und signalisierte: Ihr seid noch im selben Film, aber etwas verändert sich, es beginnt eine neue Zeit! Ja, heute weiß ich das. Denn heute ist es zu spät.
Schon vor Christi gehörte die Zahnreinigung zu den Sauberkeitsriten der Religionen. Hinduistische Priester sollen damals mit faserig gekauten Zweigen und einem Gemisch aus Honig, Ingwer, Zimt, Salz, Muskatnuss und Sesamöl geputzt haben: täglich vor Sonnenaufgang, eine Stunde lang, dabei unablässig Gebete nuschelnd. Die Griechen rieben die Zähne mit Myrrhe, Minze, Rosenblättern oder Bimsstein ab, spülten den Mund danach mit Wasser, Wein und Urin. Von den Mitteleuropäern heißt es, dass sie die Zähne mit Kohlenstaub und Asche säuberten und damit leider das Zahnfleisch verfärbten. Im 18. Jahrhundert waren Zahnbürsten nur für Reiche zu haben. Erst mit der Erfindung des Nylons 1935 wurden sie massenhaft hergestellt, somit zur kulturellen Errungenschaft, die den Menschen das Miteinander verschönerte und das Leben verlängerte.
Während meine Vorfahren also im Laufe der Jahrtausende das Handwerk des Zähneputzens vervollkommnet und die Kompetenzen über Generationen hinweg weitergereicht haben, verspricht mir die Zahnbürste des beginnenden 21. Jahrhunderts, was ich mir nie gewünscht habe: Borsten, die intelligent, schnell und biegsam sind, sozusagen den Hüftschwung können. Es ist kein Werkzeug mehr, dieses neue Zahnputzgerät, sondern eine Revolte. Es erweitert das herkömmliche Zahnputzvokabular um Begriffe wie Handstück und Hochgeschwindigkeitsaufsteckbürste. Es weist mich an, die unansehnliche Aufsteckbürstenaufbewahrung mit Schutzabdeckung aus Plastik zu benutzen: weil nur so die Borsten sicher sind, weil ich mich auf nichts verlassen sollte, auch nicht darauf, dass ich Staub wische und den Klodeckel schließe, bevor ich spüle. Meine neue Zahnbürste möchte, wohin auch immer, nur in ihrem gepolsterten Reiseetui transportiert werden. Nachdem sie auf der Ladestation (reist nur in der für sie vorgesehenen Reisetasche) 24 Stunden lang Energie aus meiner Steckdose gesaugt hat, beginnt sie nicht einfach so zu arbeiten! Erst muss ich ihre Mitarbeiter in mein Badezimmer lassen: den Smart Guide, den intelligenten Führer in Form eines handtellergroßen Displays, das gegenüber meiner Putzposition an der Wand zu befestigen ist, sowie das Smartphone, auf dem ich zuvor eine Zahnputzapp installiert habe. Und das alles ist das Gute an meiner neuen Zahnbürste! Schon unterm Weihnachtsbaum hat sie mir Anzeichen dafür geliefert, dass sie meine Bedürfnisse, meinen Verstand, meine Fähigkeiten attackieren wird. Ich habe das nicht kapiert, ich war ihr nicht gewachsen, aber sie hat mir nie etwas vorgemacht. Sie ist da, um mich zu regieren.
Morgens und Abends, sobald ich sie berühre, aktiviert sie eine Bluetooth-Funkverbindung. Das Display informiert mich darüber, dass ich jetzt gleich damit beginnen werde, mir die Zähne zu putzen. Ein Gesicht leuchtet auf: ein Mundstrich und eng stehende Augen. Ich positioniere ich die Zahncreme und lege los. Eine Stoppuhr leuchtet auf, der Strichmund verbiegt sich zu einem schwachen Lächeln. Während ich den Parcours absolviere, starre ich die mich anstarrenden Augen an. Plötzlich blinkt das Gesicht. Ich soll mit der Bürste in den nächsten Quadranten wechseln. Meine Mundhöhle, in der ich mich stets gut zurechtgefunden habe, ist jetzt ein kartesisches Koordinatensystem. Hin und wieder manövriere ich den Bürstenkopf in eine Kollision mit einem Schneidezahn, manchmal weicht die Zunge in den falschen Quadranten aus und wird umgebürstet, meist kommt keine Ordnung ins Gebiss, bis das Gesicht erneut blinkt. Dennoch: Zweimal täglich beweise ich, dass mit mir zu rechnen ist. Ich heimse die vier Sterne ein, die im Display unter dem nun breit grinsenden Gesicht aufblinken, wenn ich binnen zwei Minuten in allen Quadranten war. Ich lege es sogar auf fünf Sterne an, Putze einfach weiter und summe dabei – von Gebeten habe ich keine Ahnung – selbst komponierte Musik. Was ich noch nicht so gut kann: 1. verhindern, dass der Hüftschwung der Borsten die Zahncreme aus meinem Mund schleudert, 2. während des Rennens die Vorteile meiner App nutzen. Sie weiß, wie ich die Zahnputzzeit noch effizienter nutzen kann, und wird mir meine Putzfortschritte aufzuzeigen.
Mein neue Zahnbürste ist ein technisches Filou. Sie denkt mit mir mit, ja nimmt mir lästiges Nachdenken ab, verhindert unnötige Handgriffe, lenkt mein Geschick auf den Putzmodus-Knopf um (Reinigung, Tiefenreinigung, Sensitiv, Aufhellen, Zahnfleisch-Schutz). Sie ökonomisiert meinen Aufenthalt im Bad, indem sie meinen Energieverbrauch, das Niveau, auf dem ich mein Zähneputzen absolviere, so gering wie möglich hält. Wenn ich zum Modus Zungenreinigung wechsle, steckt das Displaygesicht mir die Zunge raus. Alles klar, ich lasse also meine Gedanken treiben. Erinnere mich, davon gelesen zu haben, dass wir alle bald quasi in großen Zahnbürsten wohnen: in Wohnungen, die unser Leben ökonomisieren. Unser Kühlschrank wird Kontakt zum Supermarkt halten, die Uhr tauscht sich mit der Kaffeemaschine aus und die Tapeten lassen die Wände immer heller werden, je dunkler es vor den Fenstern wird. Der Autoschlüssel spricht sich mit der Stromtankstelle ab, das Fahrrad mit Stadtplänen und Ampeln. Es wird keine Zufälle mehr geben, nichts Überflüssiges. Kein Versehen, kein Korrigieren. Niemand wird sich mehr entschuldigen müssen, einer muss dem anderen nicht mehr verzeihen. Es wird keinen Moment geben, in dem nicht irgendein intelligentes Gerät oder Mobiliar etwas tut, keine Langeweile.
Manchmal, wenn ich lange unkonzentriert abschweife, drücke ich mit der Bürste zu sehr auf. Sofort blinkt am Handstück ein rotes Licht und das Filou schaltet automatisch auf den Sensitiv-Modus um. Blutendes Zahnfleisch, Schmerzen, Fehler machen und draus lernen – das ist mir nicht mehr vergönnt. Mein Hirn und meine rechte Hand haben beim Zähneputzen kaum noch etwas miteinander zu schaffen. Im Badezimmer muss ich nicht mehr im Kontext denken, hier bin ich kein schöpferisches Wesen mehr. Bald werden die Grenzen zwischen mir und meinen intelligenten Führern verschwinden. Zwischen privatem Rückzugsraum und der Stadt, mit der ich und meine Wohnung digital verbunden sind. Zwischen meinem Selbst, das bislang durch Ertasten, Einfühlungsvermögen und Emotionalität analoge Zusammenhänge hergestellt und Sinn erfahren hat, und meinem vernetzten Dasein auf der Welt. Scheinbar wird es immer nur um die Erfüllung meiner Bedürfnisse gehen, wahrhaftig jedoch um technische Möglichkeiten. Und irgendwo zwischen Schein und Wahrheit verschwinden dann: meine Aufmerksamkeit, meine Fantasie, meine Improvisationsfähigkeit, das kausale Denken. Identität. Die Wohnung übernimmt das kulturelle Lernen und ist gezwungenermaßen meine Freundin fürs Leben. Wenn ich so alt bin, dass ich morgens im Bad nicht mehr kann, spricht sie sich mit der Zahnbürste ab und holt Hilfe.
Ich erinnere mich, dass meine Mutter eines Tages zu mir sagte: „Jetzt bist du groß.“ Ich erinnere mich, was am Großsein das Großartigste war: dass sich fortan immerzu alles veränderte. Unter Veränderungen funktioniert der Körper so ähnlich wie eine Maschine: Er kontrolliert seine Funktionsweise – Gefühle und Impulse – und reguliert sich selbst. Doch nur, wenn die Sinne eine Verbindung zwischen dem, was war, und dem, was ist, ausmachen können. Wenn das Hirn die Veränderung als Chance begreift. Wenn sich der Körper sich im Taumel am Abgrund an einer Art Fixseil einklinken kann: am eigenen Wissen und an eigenen Erfahrungen, am Vertrauen in sich selbst.
Zum Zubehör meines Weihnachtsgeschenks gehört noch eine zweites Handstück mit Putzaufsatz. Meine neue Zahnbürste lädt den Mann, der sich seit Jahren im selben Bad, doch niemals zur selben Zeit wie ich die Zähne putzt, ein, es fortan mit mir zusammen zu tun. Meine Gefühle diesbezüglich gebärden sich unheilvoll. Mein Hirn kann die Chance nicht ausmachen. Meine Impulse sind stark, ich lehne mich von innen so gegen die Badezimmertür, dass sie nicht aufgeht. Ich blockiere den Zugang zwischen nicht mehr und noch nicht, bringe mein ganzes Gewicht ins Spiel, stöhne, fluche. Doch ich handle nicht im Affekt: Ich zaudere, weil mir meine neue Zahnbürste Rätsel aufgibt. Ich kämpfe um eine Unterbrechung der Ereignisse, um eine Denkpause, in der ich drauf kommen kann, was mit mir, mit uns passiert. Ich bin nicht zu träge, um mich auf den neusten Stand zu bringen, sondern zu modern.
Eigentlich braucht es die neue Zahnbürste nicht, um zu bemerken: Eine neue Zeit hat begonnen. Um einer neuen Zeit standzuhalten, auch davon habe ich gelesen, müssen wir Menschen dringend lernen, widerstandsfähig zu sein. Wir können in Büchern lesen, wie das am besten geht, uns auf Krankenkarte behandeln oder für Geld von Trainern trainieren lassen. Bis wir so widerstandsfähig sind, dass uns nicht mehr stört, wie sich um uns herum alles verändert, weil alles an uns abprallt. Da merken wir dann auch nicht mehr, dass wir mit einer Welt, die verrückt spielt, eigentlich nicht Kräfte messen, sondern sie verändern sollten. Dass nicht der Einzelne allein, sondern alle zusammen für die Weltverrücktheiten zuständig sind.
Der Klebestreifen aus der wichtigen Zubehör-Kiste, mit dem ich das intelligente Stück Plastik namens Smart Guide kurz nach Weihnachten vorschriftsmäßig befestigt habe, lässt sich nicht mehr von meiner Wand entfernen. Meine neue Zahnbürste wird ewig im Amt bleiben. Eines Tages werde ich die Badezimmertür wohl freigeben, denn der allgemeine Lage nach ergibt Gegenwehr keinen Sinn, sondern ist: technikfeindlich, rückschrittlich, altmodisch, verschroben, verrufen. Vorerst jedoch halte ich meine Position im Koordinatensystem der neuen Zeit, es ist schön hier, wo das, was war, nicht mehr im Weg ist, und das, was sein wird, den Blick noch nicht verstellt. Aussichtsreich. Oder anders gesagt: In meinem Quadranten brennt noch Licht.
Nadja Klinger