Wer sammelt, tut oft gut daran, es heimlich zu tun: in Kisten, Kellern, Kammern, Vitrinen, unter der Obhut künstlichen Lichts, mit der Geduld Nahestehender, der Höflichkeit Eingeweihter, dem Beifall jener, die ebenfalls sammeln. Unter den Substantivierungen ist der Sammler der Migrant. Er gibt die gängige Heimat auf, sucht sich eine eigene, reist, findet. Er ist fremd unter den Hiesigen, ungleich, empfindlich. Dabei besitzt er Stärke: beharrt auf etwas, anstatt sich dem Lauf der Dinge zur Verfügung zu stellen, leistet sich Leidenschaft, hat die Ausdauer zu sortieren und den Mut zu entstauben.
Vor 30.000 Jahren haben sich Jäger und Sammler darüber verständigt, ab sofort mehr Nahrung heranzuschaffen, als mit einem Mal verspeist werden konnte. Fortan sollen sie jeden Tag drei bis sechs Stunden zum Sammeln unterwegs gewesen sein. Wahrscheinlich haben sie plötzlich etwas Merkwürdiges gespürt: dass der tägliche Ausflug in die Natur eine Richtung sucht und ein Tempo nimmt. Dass zwischen Suchen und Finden eine treibstoffartige Verbindung besteht, dass ein Gas oder eine Flüssigkeit quer durch den Körper des Homo sapiens jagt und ihn zu entzünden vermag. Damals erlernten die Menschen jene Art von Gier, die eigentlich vermeidbar ist, weil sie nicht vom Hunger ausgelöst wird; die wiederum nicht vermieden werden sollte, da sie an den Tagtraum, die Sehnsucht, ans Denken, ans Menschsein gekoppelt ist. Die Wildbeuter der Steinzeit haben die Wohlstandsgesellschaft erfunden. Ihr System des Beschaffens und Aufbewahrens sicherte der Menschheit die Existenz auf Erden, zu der auch heute Sammler gehören: zapplig-zufriedene Männer und Frauen, deren Gedanken ganz bei der Sache, also irgendwo anders sind und die sich mithilfe eines schwachen Verbs ihre Wunschwelten schaffen.
Im 14. Jahrhundert war der Sammler vor allem stolz. Fürsten und vermögende Bürger öffneten die Türen ihrer Anwesen und präsentierten Geerbtes, Erworbenes, Fundstücke und Reisemitbringsel. Später, in den Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance und des Barock, wurde das Ausgestellte mit Angaben zur Herkunft und Bestimmung versehen. Das Sammelkonzept war simpel, verfolgte zugleich einen großen, den größten Gedanken: Alle Objekte gehörten zur kosmisch-göttlichen Ordnung der Welt. Mit den ersten Museen dann kam der Ehrgeiz ins Sammeln. Es wurde spezieller, wollte bereits im 19. Jahrhundert vor allem in der Naturkunde wissenschaftlichem Anspruch genügen, war mit Kultur- und Kunstobjekten auf Weiterbildung aus. Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, die Wortbilder, Gedanken, Geschichten sammelten, wurden zu Gründungsvätern der Germanistik.
Sammeln offenbart die Welt, in der der Sammler lebt, den Geist der Zeit. Die Sammeltassen, die im Bürgertum des Biedermeier an besonderen Tagen auf den Tisch, danach schnell wieder in die Anrichte kamen, waren hundert Jahre später, am Ende der Weimarer Republik, die gängige Brautausstattung unserer Großmütter. Deren Töchtern gelang es nach dem Zweiten Weltkrieg leider nicht, mit den Sammelbildchen, die in der Margarine der Holsteinischen Pflanzenbutterfabriken Wagner & Co steckten, das Album „Wilde Tiere in ihrer Heimat, Nr. 5“ zu vervollständigen. Deren Töchtern wiederum werden, je größer der Einkauf ist – für den sie im Supermarkt bezahlen –, desto mehr Sammelbilder hinterhergeworfen.
Der Sammler des 20. Jahrhunderts war der Briefmarkensammler. Franklin D. Roosevelt ließ sich mit der Lupe fotografieren, hinterm Glas das Riesenauge, das die Zacken zählt. John Lennon hat seine Sammlung schön ordentlich in einem Album verwahrt, es sich jedoch nicht verkneifen können, König George VI und dessen Urgroßmutter Königin Victoria auf ihren Marken mit Tinte Schnurr- und Backenbärte zu verpassen. Das Briefmarkenalbum von Freddy Mercury liegt im Museum, drin finden sich prächtige Marken von seinem Geburtsort auf Sansibar. Der eigenwillig unwandelbare Nikolas Sarkozy gründete im Pariser Élysée-Palast einen Briefmarkensammelklub, dabei wurde er erst im 21. Jahrhundert Staatspräsident.
Was hat die Jugend der DDR gesammelt? Kaugummibilder aus dem Westen, leere Spraydosen aus dem Westen, Plastiktüten aus dem Westen, Briefmarken von überall her (beschwerlich!), Passbilder von Freunden und Verwandten (weniger mühsam, wenn man die von Nachbarn, Kollegen der Eltern, sowie die aus dem Papierkorb vorm Fotoladen am Bahnhof mit dazu nahm). Was wurde auf der anderen Seite, in der BRD gesammelt? Panini-Bilder, kleine Döschen mit parfümierten Tees, alles über Stars, von denen man schwärmte (Zeitschriftenmaterial, in Klarsichtfolie gesichert und im „Heldenordner“, zum Beispiel mit der Aufschrift „James Dean“, abgeheftet). In beiden Ländern betrieben Mädchen mehrere Kusssammlungen (ohne Zunge, mit Zunge, mit Liebe, mit echter Liebe). Jungen sammelten nicht speziell, einfach nur: junge Dinger. Wenn sie gerade mit einer „gingen“, trotzdem weitergesammelt hatten, entschuldigten sie sich mit den Worten: „Ich bin schwach geworden.“ Womit wir wieder beim Urteil der deutschen Grammatik 2016 wären.
Sammlungen, die ein Publikum finden, offenbaren nicht nur. Sie handeln. Verabreichen Freude, beeinflussen den Geschmack, liefern Beweise, legen Zeugnis ab. Seit es Museen gibt, greifen politische Systeme daher in Sammlungen ein. Denn Wunschwelten können kollidieren. Das institutionalisierte Beschaffen von Informationen, das Schnüffeln, Abhören, Ausfragen, Entwenden ist perfektioniertes Sammeln, auf Wissensgewinn ausgerichtet, auf Macht, die notwendig ist, um Wunschwelten zu zerstören. Oder um sie zu erschaffen. Auskünfte stauen sich in Datenbänken und tingeln durchs Internet, geben Neigungen und Möglichkeiten preis und ermöglichen Firmen, an potentielle Kunden zu kommen. Das Sammeln ist nun Angriff, der Käufer, der gewonnen werden soll, der Gegner. Und die Agenten, diese dreisten Sammler der Neuzeit, ob vom Staat oder von der Industrie losgeschickt, finden wir auch noch sexy.
Im Gegensatz zu den 007ern von heute waren die Steinzeitsammler, die uns mit Beeren, Kräutern, Pilzen, Feuerstein, Kupfererzen, Eisen und Gold die Welt erschufen, wahrhaft imponierende Weiber und Kerle: den Unbilden der Natur ausgesetzt, dem Hunger wilder Tiere, dem Wetter; zäh und gut gebaut, konnte ein kleiner Fehltritt, eine leichte Verletzung ihren Tod bedeuten. Ein Mann über 40, der krank wurde, blieb unter einem Baum zurück, in dessen Nähe schon die Geier warteten. Fiel eine alte Frau einer Gruppe zur Last, schlich sich ein junger Kerl von hinten an sie heran und erschlug sie mit der Axt. Bis in die heutige Zeit, auch nachdem sie sesshaft wurden, haben sich Jäger- und Sammlerkulturen gehalten. Ihre extraktive Lebensweise ist die weltweit älteste traditionelle Wirtschaftsform, umweltschonend, nachhaltig.
Das Sammeln an sich ist nicht zwangsläufig behutsam und effektiv. Der Sammler treibt Preise hoch, setzt sich Wucher und Fälschungen aus. Manchem ist, was er Hobby nennt, in Wahrheit ein Ersatz. Er schafft sich keine Wunschwelt, sondern flieht vor dem Dasein, das Wünsche nicht erfüllt, ins Exil: in ein eingeschränktes Tätigkeitsfeld, überschaubarer als das Leben. Hier kann er erfolgreich oder einfach nur zufrieden sein. Manchen packt die Sammelwut, die der Freude am Besitz im Weg steht, weil sie sich auf das richtet, was fehlt. Und dann wäre da noch der wunschlose Sammler, dessen Taten darin bestehen, dass er nicht wegwerfen kann. Der zwanghaft hortende „Messie“ bringt fürs Sammeln das größte Opfer auf: sich selbst.
Jedenfalls ist der Sammler ein Künstler der Gefühle. Es heißt, er sammelt lebenslang, hat oft mehrere Sammlungen, die er liebt, bleibt der allerersten jedoch ewig treu. Er ist ein großer Realist, vervollkommnet etwas und damit sich selbst. Ein Meister der Einsicht: nähert sich dem Vollkommenen, obwohl er es nie erreichen wird. Auch John Lennon klappte irgendwann sein Briefmarkenalbum zu, und zwar für immer. Er versah es mit seinem Namen und der Zahl 800. Obwohl es nur 565 Marken enthält.
Beneidenswert gewandt vermeidet der Sammler die leidige Frage nach dem Sinn. Die ganze Welt lässt eine Frau via Internet wissen, dass sie bunte Pommes-Frites-Gabeln aus Plastik begehrt. Eine andere möchte ihre 2.469 Badeenten aufstocken. Der staatskrisengeschüttelte Dimitris Pistiolas aus Athen besitzt 937 Videokameras, Ron Hood aus den vergleichsweise gemütlichen USA 3.000 PEZ-Spender. Die Wände des Zimmer von Wang Guohua aus China bestehen aus 30.000 Zigarettenschachteln von mehr als 100 Firmen aus zehn Ländern; Heinrich Kath aus Cuxhaven hat 20.000 Bierkrüge, trinkt aber kein Bier; die Barkeeperin Carolin Gorra aus Niendorf am Timmendorfer Strand bewahrt in ihrem „Nagellack-Zimmer“ in wandhohen Regalen mehrere Tausend Nagellackfläschchen auf, für die sie 15.000 Euro investiert hat.
Ausgerechnet jene Sammler, die leicht für verrückt erklärt werden könnten, verstecken sich nicht, sondern fordern, als ginge es um Körperertüchtigung, andere Verrückte heraus: die Besitzerin von 12.113 Pokemonfiguren aus Plüsch hat es kürzlich ins Guinnessbuch der Rekorde geschafft; Pam Baker aus Großbritannien belegt mit 18.000 Exemplaren Platz 1 aller unechte-Eulen-Besitzer auf dem Globus; ein 14jähriger Mexikaner hält mit 3.097 Gegenständen, die alle mit Harry Potter zu tun haben, seit 2014 den Guinness-Weltrekord; Sharon Badgley absolvierte die Disziplin „Sammeln auf Zeit“ und schaffte in drei Wochen 6.000 Weihnachtsmänner zum Knuddeln heran. Obwohl all diese Menschen inmitten ihrer Sammlungen Luft bekommen, drängt sich der Verdacht auf, was sie tun, könnte tödlich ausgehen.
Und dieser Verdacht ist begründet. In den 1930/40er Jahren stopften die Brüder Homer und Langley Collyer über Jahre die Zimmer und den Treppenflur ihres Hauses an der Fifth Avenue in Harlem zu: mit Tageszeitungen, technischen Geräten, Regenschirmen, Kinderwagen, Musikinstrumenten, Flaggen, Waffen, Fahrrädern, einem Ford Model T., Möbeln. Im Krempel eingekeilt wurde die Außenwelt ihnen zur Bedrohung, Presseleute klingelten, brüllten unverschämte Fragen, und da die Brüder die Tür nicht rasch genug erreichten, um zu verhindern, dass jemand gewaltsam eintrat, spannten sie auch noch Fallstricke. Hinter den zugestellten Fenstern schwand Homers Augenlicht, er konnte sich nicht mehr gefahrlos bewegen, setzte sich. In einem Roman über die Collyers lässt E. L. Doctorow Homer erzählen: „Ich bin praktisch ein Gefangener. Mein Platz ist jetzt gleich hinter der Tür zum Salon mit einem einzigen Pfad zu dem Badezimmer unter der Treppe. Auch Langley ist eingeengt. Er hat sich in der Küche eingerichtet und kann das Haus durch die Hintertür zum Garten betreten und verlassen. Die vordere Halle ist vollständig mit Bücherkartons versperrt, die sich bis zur Decke stapeln. Ein schmaler Durchgang zwischen Zeitungsballen und herabbaumelnden Gartengeräten – Schaufeln, Rechen, einer elektrischen Bohrmaschine, einer Schubkarre, alles hoch oben mit Drähten und Stricken an spitzen Pflöcken aufgehängt, die er in die Wand geschlagen hat – führt von seinem Küchenvorposten zu meiner Enklave. Durch diesen Tunnelgang bringt er mir mein Essen. Wie er sagt, umgeht er im Licht einer Taschenlampe die in Knöchelhöhe von Wand zu Wand gespannten Fallstricke.“
1947 räumte die Polizei das Haus, drang durch Türen und Fenster vor, Zentimeter um Zentimeter, fand Homer im Bademantel mit schulterlangen Haaren, sitzend, den Kopf zwischen den Knien, verhungert. Eine Woche grub man weiter, schaffte 45.000 Kilogramm Sammelgut auf die Straße, fand Langley. Mit dem Essen auf dem Weg zu seinem Bruder war er nur drei Meter von ihm entfernt von Zeitungen erschlagen worden. Die Fotografien des Domizils der berühmten Sammler gehören zu den historischen New-York-Bildern, die ebenso berühmt sind wie das Foto, auf dem Fidel Castro 1955 im Central-Park-Zoo den Elefanten streichelt oder das, auf dem Philippe Petit 1974 vom Dach des einen Turmes des World Trade Centers übers Drahtseil zum anderen Turm spaziert.
New York ist weit weg, die 1930/40er Jahre sind lange her. Und doch: Wir alle sind Sammler. Täglich sammeln wir Worte, Bilder, Gedanken, Erkenntnisse, speichern sie ab, weil wir sie brauchen. Denn was unsere Augen auch sehen, die Ohren hören, die Finger ertasten, die Zunge schmeckt – für wahr nehmen wir nur das, was wir mit Erfahrungen, die wir angesammelt haben, abgeglichen haben. Unsere Wahrheit ist immer auch das Wiedererkennen von Reizen. Gesammeltes. Und wird erneut von uns in unsere Sammlung eingeordnet.
Manchmal sammeln wir auch für andere: Lebensmittel, Geld, Unterschriften. Hin und wieder versammeln wir uns, sammeln Stimmen, Meinungen, Kraft. Manche von uns nehmen das Verb sammeln für sich selbst in Anspruch: sortieren sich mit Konzentration aus der Welt aus und in die Ruhe ein. Dann – vor allem dann – ist das Verb sammeln nicht schwach! Der sterbende Homer Langley im Roman: „Ich betaste meine Schreibmaschine, meinen Tisch, meinen Stuhl, um die Gewissheit einer fest gefügten Welt zu haben, in der Gegenstände Raum einnehmen, in der es nicht die unendliche Leere des Denkens ohne Substanz gibt, das nirgendwo anders hinführt als zu sich selbst. Meine Erinnerungen verblassen, während ich sie wieder und wieder beschwöre. Sie werden zunehmend gespenstischer. Nichts fürchte ich mehr, als sie vollends zu verlieren und nur noch den leeren, unendlichen Raum meines Denkens zu haben, um darin zu wohnen.“
Nadja Klinger