Wir, das waren: 1. die Frau, die, wenn sie nicht irgendwo eingeschlossen ist, fürs Regionalfernsehen kurze Reportagen aus unser aller Leben dreht, sich also darauf versteht, in begrenzter Zeit mit Entdeckungen, Erheblichem, Unwägbarem zu jonglieren; 2. der Heilpraktiker, ausgestattet mit dem Blick aufs Ganze und dem Sinn für Alternativen, sowie – derzeit – mit der Offenheit eines Verliebten; 3. die gütig ihr rastloses Team regierende Chefin in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die sich sowohl durch das Leid ihrer Patienten als auch durch das Agieren der Krankenhausleitung auf den Respekt vor dem Prinzip von Ursache und Wirkung spezialisiert hat; 4. der Ingenieur, der nicht drüber spricht, was er in einer angesehenen Schweizer Firma täglich mit bedeutenden Maschinenteilen zu schaffen hat, weil er überzeugt ist, dass es keinen, der danach fragt, wirklich interessiert – ein Berufspendler, der nicht nur die Air Berlin-Schokoladenherzen, sondern auch die mit über zwei Jahrzehnten Heimweh eroberten Bonusmeilen verloren hat; 5. der Politikjournalist mit Macht und Urteil, der selbst beim Mau-Mau auch kleine Kinder nicht gewinnen lässt, dessen Spielpraxis jedoch unter Presseterminen, Überstunden, Wochenendbereitschaften leidet, weshalb sich mit ihm, ist er mal dabei, Spielen wie die letzte Entscheidungsschlacht anfühlt; 6. ich, eine Angreiferin mit Rückzugstendenzen, die sich, im Kopf und überhaupt, am besten bewegen kann, wenn sie den Raum, der dafür auszuschreiten ist, selbst geschaffen hat, und jederart Spiele meidet, weil in der Nähe von Gegnern oder nach dem Sieg strebenden Kameraden die Bewegung immer schon vorgegeben wird.
Kurz gesagt: Jeder von uns war vom Leben hinreichend mit äußerst speziellen Charaktereigenschaften ausgestattet. Alle waren wir nur teilweise darin geübt, in unseren eigenen Geschichten klarzukommen. Mehr als die mäßige Hoffnung, gemeinsam eine fremde Geschichte zu überstehen, war unangebracht.
Wie konnte es also passieren, dass wir sechs hier nun eingesperrt waren? Natürlich kam der Vorschlag von der entdeckerlustigen Fernsehfrau. Dem verliebten Heilpraktiker stand zum Reagieren nichts zur Verfügung, als ihr zuzustimmen. Die gütige Teamchefin betrachtet jederart psychiatrische und hierarchische Feldforschung als Weiterbildung. Der Ingenieur wird einfach niemandem davon erzählen. Der Politikjournalist allen. Und ich habe auch nichts anderes getan als sonst auch: mit 20 Euro Eintritt angreifen und mich dann, wenn alle Augen auf mich gerichtet sind, weil’s losgehen soll, zieren.
Die andere Antwort auf die Frage, wie uns das passieren konnte, ist: Man macht das heute so. Man spielt Live Escape Games, Spiele, in denen man sich, zu kleinen oder größeren Gruppen formiert, auf ein Terrain begibt und in einer bestimmten Zeit da wieder rauskommen muss. Noch vor gut zehn Jahren konnte man sich für so etwas nur vorm Computer zusammentun, virtuell in die Geschichte auf dem Bildschirm einsteigen, Räume betreten, nach Gegenständen suchen, Anzeichen kombinieren, Rätsel lösen, Türen öffnen, Raum für Raum weiterkommen, das Spielende erreichen.
2007 hat es in Japan die ersten realen Spielräume gegeben. Nun begab man sich leibhaftig ins Geschehen. Als erste Europäer spielten die Ungarn 2011 in riesigen Ruinenanlagen von Budapest Live Escape Games. Mittlerweile machen’s auch Schweizer, Österreicher und Deutsche. Üblich sind Spielzeiten von rund 60 Minuten. Ereignisse und Kulissen sind überall andere, auch das Maß an Dunkelheit, Überraschungen, notwendigem körperlichem Aufwand und ausgelösten Emotionen unterscheidet sich.
Im Berliner „House of Tales“ kann man zwischen fünf Geschichten verschiedener Kategorien und Schwierigkeitsgrade wählen: „Illuminati“ (Mystery); mittel; „Der Henker“ (Thriller), mittel; „Das Geheimnis der Pharaonen“ (Adventure), mittel; „Kowloon – Walled City“ (Action), schwer. Jede Geschichte ist eine Welt aus Räumen, die neben- oder übereinander liegen, wo man Prüfungen zu bestehen, ein Geheimnis zu lüften, sich zu befreien, sein Leben oder seine Ehre zu retten hat. Jede Geschichte kann man jederzeit verlassen – wodurch dann aber auch das Spiel aufgegeben wird. Im House of Tales muss man dafür den so genannten Notaus-Knopf drücken.
Plötzlich war also die Tür hinter uns zu. Was dann geschah, ist in meinem Kopf eigenartig abgespeichert: in zusammenhanglosen Szenen, in Bruchstücken von Gesprächen unter nachlässigem Licht, als Gegenstände, die identifizierbar, aber nicht erkennbar sind. Folgende Erinnerung sitzt ist noch jetzt wie ein Schreck im ganzen Körper: Meine im fast Dunklen stöbernden Finger und Augen lassen sich bereitwillig auf jede Information ein, die ihnen unterkommt, obwohl ich weiß, dass es sich bei allem um nichts als Staffage handelt.
Der Gedanke an einen Erschaffer der Welt war mir noch nie geheuer. Musste er, als er sie für uns einrichtete, nicht bereits wissen, was wir in ihr alles anstellen würden? Der Spielleiter, der uns in den ersten Raum von etwa acht Quadratmeter geschickt und mit den Worten „Bringt mir binnen einer Stunde die Drogen und das Geld!“ von draußen die Tür verschlossen hatte, hat uns fortan mit Hilfe der in den Kulissen verborgenen Technik auf einem Computerbildschirm gesehen und gehört. Immer mal wieder klingelte das Mobiltelefon, dass er uns mitgegeben hatte. Wenn seine Schäfchen, mit allem, was sie anstellten, partout nicht weiterkamen, rief Gott an.
Woran ich mich nicht erinnere: an die Blicke meiner Spielkameraden. Während wir uns unablässig verständigten, habe ich sie nicht angeschaut, obwohl ich das sonst immer tue – einfach weil das Gesicht jener Teil der menschlichen Fassade ist, der während der Sprechbewegungen bröckelt. Aber will man einem Politikjournalisten ins Innere schauen, der gleich in der ersten Spielminute nach einem demolierten Eimer greift, in dem sich, soweit er das erkennen kann, Schrott und Stofffetzen befinden, und fragt: „Meint ihr, wir können das gebrauchen?“ Und einem geheimnisvollen Ingenieur, der prompt antwortet: „Erst mal mitnehmen.“?
Im ersten Raum also. So eng, dass wir einander bei jeder Bewegung berühren, anders gesagt, uns beim gemeinsamen Beschauen der Lage im Weg stehen. Ziemlich dunkel. Wände, ich glaube grün. So was wie ein Regal. Hinterlassenes, Gebrauchsspuren, Zeug am Boden, staubige Atmosphäre, der Anfang einer Wendeltreppe, die sich durch die niedrig hängende Decke biegt. Die Fernsehfrau klettert nach oben, ruft: Hier ist nichts! Kommt wieder runter.
Hinter mir wird gescharrt und diskutiert. Zu eng hier, um mich umzudrehen. Jemand bückt sich und versetzt mir einen Stoß in die Wirbelsäule. Die sanfte Chefin: „Leute, passt doch auf!“ Erschöpfender Diskussionsbeitrag des Politikjournalisten: „Erster Raum und wir brauchen schon so lange.“ Ich brauche Platz, um den Rücken mal zu krümmen, bitte die Fernsehfrau, doch nochmal die Treppe hochzusteigen. Beruhigend: dass sie jetzt mit einem Heilpraktiker liiert ist.
Vom Folgenden berichte ich so, dass die, die auch dorthin spielen gehen wollen, wo wir waren, nicht zu viel erfahren. Wir werden Funde machen und Rätsel lösen, es wird Licht auf Einzelheiten fallen und es werden Türen aufgehen, aber ich werde nicht sagen, was und wie. So wie jetzt, da die Fernsehfrau von oben ruft: „Kommt mal, hier ist doch was!“
Ich erinnere mich, dass der Politikjournalist den Eimer mitnahm.
Oberhalb der Wendeltreppe ein Schlupfloch mit Vorhang, dahinter großes Hallo! Es ist etwas heller, die Wände sind vollgekrakelt, in einer Kabine läuft in Endlosschleife ein Comicporno, da drüben ist eine Bühne mit bunten Lichtern und: eine Pole-Dance-Stange. Die, nach kaum zehn Minuten im Spiel, beim Ingenieur bereits eine Persönlichkeitsveränderung auslöst. Der Satzfetzen: „... immerhin drei Damen dabei“.
Zwei Möglichkeiten: Entweder hat das doch nicht der Ingenieur gesagt. Oder er war’s, und kann es sich selbst am allerwenigsten verzeihen. Jedenfalls sind er und ich bald eingeteilt, in der Kabine am Bildschirm den Pornofilm nach Hinweisen zu durchsuchen, und ich bemerke, wie er sich windet. Wie er versucht, an dienliche Informationen zu kommen und dabei strikt an den groß im Vordergrund agierenden Genitalien, Zungen, Gebissen vorbei zu schauen.
Unterdes liest der Politikjournalist alle vermeintlich benutzten Kondome vom Fußboden auf. „Meint ihr, wir können das gebrauchen?“ Niemand antwortet. Später sehe ich: Er hat sie alle in seinem Eimer.
Der Ingenieur will auch einsammeln, was auch immer. Verlässt die Kabine. Kehrt mit einer Ladung Gummipenisse von verschiedener Größe und Gestalt zurück. Mir fällt dazu nichts ein. Also mache es wie immer, wenn ich fremdele: Ich schaue das, was sich mir zeigt, so lange an, bis ich ihm eine Identität verpasst habe. Ich identifiziere: „Der kleine Dicke, der Gebeutelte, der Schlagersänger, der Yogi, der Verlierer ...“ – „... Welcher soll denn bitte ein Verlierer sein?“ – „Na der, der eine Laterne bräuchte um sich anzulehnen.“
Derweil hat die gütige Teamchefin, die sowohl in Früh- und Spätschichten als auch jenseits der Arbeitszeit ein eher dezent agierender Mensch ist, damit begonnen, an der Bühne mit den bunten Lichtern laute, scharfe Kommandos zu geben. Als ich die Filmkabine verlasse, verstehe ich, warum die Gummipenisse, die der Ingenieur und ich zur weiteren Erhellung am Boden in so was wie Peergroups platziert haben, derartig zittern: Der Heilpraktiker und die Fernsehfrau tanzen, ja sie drehen, hüpfen, grätschen sich, gemäß den Kommandos der Spezialistin für psychiatrisch erkrankte Kinder und Jugendliche um die Pole-Dance-Stange.
Immer, wenn wir eine Aufgabe gelöst hatten, drückte Gott an seinem Computer auf eine Taste. Dann zeigte sich uns etwas. Oder es wurde kurz mal ein bissschen heller. Oder es tat sich ein Weg auf. Jedoch wussten wir nicht, was von alldem, das wir anstellten, überhaupt eine Aufgabe war. Wir betraten einen Raum, versuchten zu erkennen, ob’s was zu tun gibt, widmeten uns jeder etwas anderem oder stürzten uns alle auf ein- und dasselbe. Wir waren zögerlich oder beherzt, dachten leise oder so laut, dass wir die anderen beim Denken störten. Wir fragten ins Leere. Oder antworteten, ohne uns überhaupt eine Frage gestellt zu haben. Wir taten Unnötiges, was uns zufrieden machte und erledigten dabei, ohne es zu bemerken, hin und wieder das Nötige. Eigentlich war’s wie im normalen Leben: Alles bestand in der aufwendigen, stückweise ergiebigen, im Grunde jedoch vergeblichen Suche nach dem Sinn.
Nur dies liefe im realen Leben leider nicht so: Einmal bemerkte niemand von uns, dass sich ganz in der Nähe die Wand auftat, dass da ein Weg war, dass wir, wenn wir mal kurz innehalten und unser mechanisches Handeln um jeden Preis aufgeben würden, dort entlang ans Ziel kommen konnten. Da rief Gott an, um es uns zu sagen.
Fühlte Gott sich nicht ernst genommen, wenn die Fernsehfrau jedes Mal am Telefon mit ihm redete, als gäbe es ihn wirklich? „Grüß dich!“, sagte sie, erklärte ihm, wo wir gerade sind, was wir schon alles versucht haben, was uns noch schleierhaft ist und dass es ansonsten allen gutgehe. Oder war er, der am Computer den vollen Überblick hatte, geschmeichelt, weil eine Ungläubige zumindest mal mit ihm spielte?
Hatte Gott Angst um seine Kulisse, jedes Mal, wenn der Politikjournalist das Verbot ignorierte, nichts, was sich oberhalb unserer Köpfe befindet, in die Hand zu nehmen?
Ist Gott grundsätzlich erleichtert, wenn sich unter seinen Schäfchen jemand befindet, der in so einem Fall mit psychotherapeutischen Interventionsmethoden eingreift?
Plant Gott, bei allem, was er uns aufzubürden versucht, Ingenieure ein? Unserer jedenfalls hat rasch herausgefunden, wenn wir anderen bei einer simplen Aufgabe mit Zehnerstellen einvernehmlich Rechenfehler machten. Und hätte Gott den Heilpraktiker, der immer anders dachte als alle anderen, gern aus dem Spiel geworfen?
War es Gott, der ausgerechnet mich, die vor kaum etwas so viel Respekt hat wie vor anderen Bewusstseinszuständen, die Drogen finden ließ? Hat er sich darüber gefreut, dass Panik wegen der rasch ablaufenden Zeit ausbrach? Hat er geflucht, weil genau in diesem Moment der verschwiegene, von niemandem beachtete Ingenieur das Geld aus einem Versteck hob? Ich erinnere mich, wie Gott, als wir wieder draußen im realen Leben waren, das Mobiltelefon an sich nahm und sagte: „Noch keiner hat es ohne mich geschafft.“
Nadja Klinger