Wäre mir die Entdeckung einige Jahre später zuteil geworden, hätte ich mich nicht verbunden gefühlt, sondern verstoßen: aus der Vorstellung von mir selbst, die ich mir mühevoll zusammengereimt hatte. Aus der Idee, dass mein eigenes Leben allein aus mir erwuchs. Dass ich ausschließlich das besitzen würde, was ich mir aneignete. Nun sah ich: Es gab mich noch einmal. Ich wohnte in einem Secondhandkörper, mit dem schon jemand anderes sein Glück versucht hatte. Ich hatte die gleichen, sich mit den Kuppen zur Handmitte biegenden, Zeigefinger wie meine Großmutter.
Verwandtschaft ist eine biologische Angelegenheit, die uns, so wie jede Pflanze und jedes Tier, auf die Herkunft festlegt. Auf das, was vor uns schon da war. Auf das, was bleibt, wenn wir abtreten. Anders als bei Pflanzen und Tieren sind verwandte Menschen auch sozial, letzten Endes rechtlich miteinander verwachsen. Das fühlt sich bestenfalls gut, zuweilen komisch, immer mal wieder verstörend, gern auch ... furchtbar an. Per Definition lässt sich Verwandtschaft nur entlang einer klaren Linie verfolgen, von den Eltern zu ihren Kindern und deren Geschwistern. Zu Tanten, Onkels, Cousinen und Cousins besteht, genaugenommen, nur eine Schwägerschaft. Aber da unterscheiden wir Menschen nicht. Begriffe sind leer. Wir füllen sie erst mit Leben, und das zu tun oder zu unterlassen, bleibt uns in den genannten Fällen ja gar keine Wahl.
Wir übertreiben es sogar. Wir lösen Familien auf, suchen uns neue Partner, ziehen Kinder groß, die nur über einen Elternteil miteinander verwandt sind, während sie über den anderen Elternteil und weitere Geschwister im bescheidenen Fall also zu zwei, oft zu noch mehr Familien gehören. Wir nehmen der Natur das Linienzeichnen aus den Händen, skizzieren ein Dasein, das wir dann unverwandt betrachten, weil unsere Zugehörigkeit nun keinen Blickfang am Horizont mehr hat, sondern verdammt in die Breite geht. Wir nähen uns neue Begriffe. Fügen Stück für Stück aneinander, damit wir etwas in der Hand haben, was wir passenderweise Patchwork nennen können. Wir sind modern verwandt, das fühlt sich anders an als die unmoderne Variante aus einem Stück. Aber nicht unbedingt schlechter.
Ein Patchwork ist ja nur ein Flickwerk. Die leibliche Verwandtschaft indes behelligt einen mit unbequemen Fragen. Zum Beispiel mit dieser: Was von denen steckt in mir? Das Bangen stellt sich wegen Äußerlichkeiten und Marotten ein. Es setzt sich an runden Geburtstagen fort, deren Feierstunden sich im Ablauf und im Gehalt so sehr ähneln, dass man beim Zubettgehen nicht weiß, ob man jetzt auf einem 50. oder einem 90. war. Und da Blut ja bekanntlich dicker ist als Wasser, und es sich bei der Behauptung, das „unsere“ sei ja nun sooo dick nicht, nur um eine Ausflucht handelt, spitzt sich das Bangen mit jedem Herzinfarkt im Kreise der Leiblichen zu.
„Wenn ich mal so wie meine Mutter werde, dürft ihr mich erschießen“, sagte meine Mutter einst zu meinem Vater und mir. Das war das Gegenteil des lebenswichtigen innerfamiliären Gebots, dass am Ende alles gut wird.
Dabei hatte ich bis auf jene Großmutter mütterlicherseits - sie war ein Drachen, aus dessen Kinn Haare wuchsen und der feucht küsste - Glück mit meiner Verwandtschaft. Die andere Großmutter konnte mir mit den krummen Zeigefingern zwar nie eindeutig eine Richtung vorgeben, aber da sie bedingungslos an meiner Seite war und ihre Hände in meinem Haar mich ihre melancholische Liebe spüren ließen, verstehe ich mich heute darin, meine Wege beherzt einzuschlagen, mich hinzusetzen, sobald sich Schwermut ankündigt, um ihr beim Vergehen zuzuschauen. Meine Eltern waren das Dach und die Wände meiner Kindheit. Meine Cousins die schönsten Jungen unseres kleinen Landes. Meine eine Tante die erstaunlichste (wenn sie weinte, dann vor Lachen), meine andere die tapferste (sie verließ meinen Onkel, einen Juristen, mit dem Maler, der bei ihnen tapeziert hatte) Tante der Welt. Zwei Onkel waren mit sehr dünnem Haar bestückt, das sich beizeiten in Männerglatzen verwandelte, dergleichen hatte ich jedoch nicht zu befürchten, weil ich mit einem Frauenkopf zur Welt gekommen war. Meine lustige Tante soll nach meiner Geburt mit meinem Vater und anderen Vätern vor der Glasscheibe in der Säuglingsstation gestanden haben, hinter der die Hebamme drei zerknautschte Kinder in den Armen hielt. Die Tante zeigte auf das Baby mit den feuerroten Haaren, sagte: "Deins!!!" - und heulte vor Lachen. Mein Vater, der schwarze Haare hatte, stritt später stets ab, damals vor der Scheibe heftig protestiert zu haben. Vielmehr bestand er darauf, dass seine Barthaare rot seien. Gesehen hat das nie jemand.
Meine Großtante Elsa hatte immer eine klare Flüssigkeit im Glas, wenn wir Kaffee tranken. Mit 97 hielt sie beide Arme hin und rief nach ihrem Urenkel, der auf einen Baum geklettert war und jammerte: „Spring!“. Bei seiner Landung zerbrach ihr Arm und ein Oberschenkel. Als man sie ins Krankenhaus schob, wo sie kurz darauf verstarb, sagte sie: „Prost!“ Das Glück oder Unglück, das Verwandte zu vergeben haben, steckt in den Ereignissen, die sie miteinander durchleben. Leider waren zwei meiner drei Onkel fest entschlossen, sich auf grässliche Weise das Leben zu nehmen. Daher heißt es, in meiner leiblichen Familie bestehe leider „eine Disposition“. Ich frage mich: In welcher Familie ist die nicht vorhanden? Ist das, was wir aus uns machen, nicht immer auch der Versuch, dem Verwandtsein zu entkommen?
Ich war seit etwa zehn Jahren aus dem Schnips-Spiel-Alter raus, da fand ich im Bücherregal meiner Mutter, die mir kurz zuvor einen Stiefvater und Stiefgeschwister beschert hatte, Johann Wolfgang von Goethes „Die Wahlverwandtschaften“. Ein Buch von 1809. Drin geht's um ein Ehepaar, das Freunde im Haus aufnimmt, einen Mann und eine Frau, und sich kreuzweise verliebt. Es geht um unsere Natur, nach der sich der Mensch nicht vom Kalkstein unterscheidet. Kalkstein besteht aus einer reinen Erde, die durch eine luftige Säure zu etwas Festem gebunden wird. Setzt man ihm jedoch verdünnte Schwefelsäure hinzu, ergreift die den Kalk und erscheint mit ihm als Gips, während sich die ursprüngliche Säure, die den Stein bislang zusammenhielt, verflüchtigt. Es geht um Chemie. Um das Reagenzglas Leben, in dem Situationen entstehen, in denen ein Verhältnis dem anderen vorgezogen wird. Um die Wahlverwandtschaften, die möglich werden, wenn ein Stoff hinzukommt, der verbindet, was sich eigentlich abweisen müsste. „Da stimmt die Chemie nicht“, stellen wir zuweilen fest. Selbst in der besten Verwandtschaft kommt das vor. Wir haben die Wahl. Sobald wir alt genug sind, um die nötigen Arbeitsschutzmaßnahmen zu treffen, können wir uns der Schwefelsäure bedienen.
Durch Tode, Scheidungen und Entscheidungen hat sich der feste Zustand meiner Verwandtschaft immer mehr aufgelöst. Meine Kinder haben dennoch eine große Familie. Sie besteht aus den Freunden ihrer Eltern, von denen sie manche bereits seit dem Alter kennen, ich dem ich mit meinem Rotschopf meinen Vater erschreckte. Wenn wir alle zusammen sind, stimmt die Chemie. Eine Glatze? Nicht bedrohlich. Meine krummen Zeigefinger? Die anderen staunen oder lächeln milde. Die Menschen, mit denen ich nicht leiblich, aber sozial und rechtlich verwandt bin, nenne ich S t i e f vater und Stiefgeschwister, weil ich ein Verhältnis dem anderen vorgezogen habe und eine ungewöhnliche Versuchsanordnung eine sorgfältige Suche nach Worten verdient. Obgleich: So neuartig ist meine Wahlverwandtschaft gar nicht. Wurden wir nicht als Kinder alle angehalten, zu den Freunden der Eltern, zu Nachbarn, ja sogar zur Verkäuferin und zum Postboten „Tante“ und „Onkel“ zu sagen? Zumindest die Ahnung, dass man sich mit Fremden verwandt machen kann, war schon vor uns da.
Die bunten Schnips-Plättchen habe ich von meiner Großmutter geerbt: in einer altertümlichen, kleinen Zigarettenschachtel der Marke „Tikah-Cigarettes“ aus echt türkischem Tabak. Vor vielen Jahren habe ich mit meinen Töchtern zum letzten Mal gespielt. Sie haben beide keine krummen Zeigefinger. Seit ich spürbar älter werde, macht mich das schwermütig, und mir ist, als würde das Gefühl auch nicht mehr vergehen. Ich werde mit diesen Fingern die Welt verlassen. Ich werde nicht wissen, wie mir verwandt oder unverwandt diejenigen sein werden, die mich überleben. Ich werde Geschichten vererben. Die Zigarettenschachtel mit den Schnips-Steinen. Sie trägt die Aufschrift „feine Qualität“. So habe ich es gewollt.
Nadja Klinger