Ich wüsste gern, ob sie das in der anderen Welt auch tut. Ich wüsste gern, ob an den Kuppen ihrer Finger etwas haftet, das sie an mich erinnert. Ich wüsste gern, ob sich in ihrem Haar mein glücklich sein verfangen hat, da in mir oft nur noch traurig sein ist.
Sie spricht. „Was machst du hier?“ Ich sage: „Ich will bei dir sein.“ Ihr Blick ist gefroren. „Soll ich gehen?“ Ich zögere nicht, das zu fragen, denn bei ihr habe ich mich immer sicher gefühlt. Sie antwortet: „Mir doch egal.“
Meine Mutter leidet am Vergessen. Man hat mir ein Bild vom Innern ihres Kopfes gezeigt: Das Hirn schrumpft, der Abstand zur Schädelwand wird immer größer, eine Kluft entsteht, in die nach und nach die Erinnerungen stürzen. Aus jedem Ereignis, an dem sie beteiligt war, schwinden mehr und mehr Szenen und Bilder, und wenn ihr doch noch mal etwas bekannt vorkommt von dem, was mal war, führt kein roter Faden zu der, die sie jetzt ist.
Sie ist krank. Man kann nicht wirklich wissen, was in ihr vorgeht. Man sagt, sie sei bedrückt, lustlos, launisch, aggressiv. Sie führt einen Kampf. Entzieht mir ihre Hände. Weicht mit dem Kopf aus, wenn ich wieder nach einer Haarsträhne greife. Schüttelt die Pantoffeln von den Füßen. Sie wehrt unsere gemeinsame Geschichte ab. Ich bleibe neben ihr sitzen. Ich liebe sie. Ich habe Hoffnung. Denn in meiner Welt gibt es die Erinnerungen noch. Für mich kommt alles, was ist und sein kann, aus alldem, was einmal war.
Irgendwann, so jedenfalls stelle ich es mir vor, senkt sie den Blick in die tiefe Schlucht zwischen einst und heute und nennt mich bei meinem Namen. Ich könnte froh sein, dass sie ihn gefunden hat. Doch da zersplittert das Eis in ihren Augen. Hohe Wellen schlagen. Sie zuckt, krallt die Finger ineinander, mein Name macht ihr Angst, sie kennt ihn, kann mit ihm aber nichts anfangen. Sie richtet sich im Stuhl auf. Sie hebt die Hand. Holt aus. „Mama!“, entfährt es mir. „Früher, wenn ich zur Tür reinkam, hast du immer gerufen: ›Jetzt steigt die Sonne auf!“
Plötzlich zuckt ihr Mund. Dann zieht er sich in die Breite. Dann hängt er sich an zwei Falten unter den kahlen Wangen auf. Meine Mutter schmunzelt.
Das Schmunzeln ist einer der wahrhaftigsten Momente im Leben eines Menschen. Man kann es sich nicht vornehmen und man kann es nicht verhindern. Es entsteht im limbischen System, dem Lust- und Unlustzentrum zwischen Großhirn und Hirnstamm, und reagiert auf gefühlsmäßige Reize aus der Umwelt. Endorphine werden ausgeschüttet, körperliche und seelische Schmerzen gelindert. Das Wohlbefinden steigt. Wer schmunzelt, ist bereit, Kontakt aufzunehmen und sich in Situationen zu begeben, die er bislang gemieden hat. Zeiten des Schmunzelns sind entwaffnende Zeiten. Der Mensch lässt etwas zu. Vertraut. Und ist stillvergnügt erheitert darüber, gerade mal nicht gegen etwas anzukämpfen.
Als ich ein bockiges Kind war, hat meine Mutter mich zum Schmunzeln gebracht. Ich habe das gehasst. Ich war in einen Plan verbissen und sie hat mir die Lippen auseinandergezogen. Irgendwann bekam ich die Geschichte vom Soldaten erzählt, der einst auf dem Kampffeld plötzlich seinen Feinden gegenüberstand. Er musste dringend handeln, doch es gelang ihm nicht, die Waffe zu laden. Vielleicht, weil es auf sonderbare Weise um Leben und Tod ging, vielleicht weil dies ein seltener, unverfälschter Moment des Daseins war, musste er schmunzeln. Sein Anblick überwältigte die Feinde. Auch sie schmunzelten. Und senkten die Waffen.
Im Duden steht das Verb „schmunzeln“ zwischen „schmulen“ und „schmurgeln“. Es folgt auf etwas Unerlaubtes und führt zu etwas, das in der Pfanne gebraten wird. Es hat etwas Beunruhigendes an sich. Es ist das Wort der Unverzagten und derer, die sich hinreißen lassen. Aller, die sich verlieben. Es findet selten, eher versehentlich Gebrauch.
Es ist schon eine Weile her, dass ich meine Mutter in das Haus am Stadtrand gebracht habe, wo sie professionell und liebevoll betreut wird. Nach allem, was ich mit ihr erlebt hatte und über ihre Krankheit wusste, hätte mir die Entscheidung leichtfallen sollen. Ich hatte mich mit Ärzten, Juristen und Pflegern beraten, eine Ethikkommission aufgesucht, war Dauergast bei der Alzheimergesellschaft. Ich hatte mir quälende Fragen gestellt und die Antworten meinen Zweifeln ausgeliefert. Mein Gewissen stand mir im Weg, ich habe ihm zugehört, bis es mich vorbeiließ.
Aber die Entscheidung war schwer. Denn obwohl es sich so anfühlte, war ich nicht allein auf der Welt. Meine Mitmenschen verlangten Erklärungen. Ich habe mich verausgabt, dann Widerspruch eingesteckt, der gar nicht auf das einging, was ich gesagt hatte. Ich erfuhr, was „man tut“ und was „nicht geht“ und was man „schon immer so gemacht“ hat. Ich rang mit Auffassungen, Vorbehalten, Gepflogenheiten und Konfessionen. Ob ich das für angebracht hielt oder nicht: Es ging um die Erlaubnis, das zu tun, was ich nach gründlichem Bedenken für gut und richtig hielt. Die Gesellschaft hat sie mir nicht erteilt. Wenn ich berichtete, dass der Absturz in die Demenz sich in dem Haus am Stadtrand verlangsame, glaubte man mir nicht. Letztlich hatte der Umzug der Kranken, deren Gehirn zwar Dinge registrieren, aber nicht mehr verarbeiten konnte, „gegen den Willen“ meiner Mutter stattgefunden.
Wenn ich sie fortan besuchte, weinte sie und fragte: „Warum bin ich hier?“ Das Panorama vom Dresdner Elbufer, das ich an der Wand ihres Zimmers befestigt hatte, war zwar ihre Kindheit, jedoch nicht ihre Heimat. Ich hatte sie von ihrem Mann getrennt, obwohl eine Tochter keine Ehe scheiden darf. Mein Stiefvater, der mich dafür bei der Polizei anzeigte, handelte nach üblichen Ansichten. Ich hätte antworten können: „Weil ich es wollte, Mama.“ Aber ich war so furchterregend allein.
Einmal, als ich das Haus meiner weinenden, fragenden Mutter nach einem morgendlichen Besuch verlassen hatte, war ich ziellos durch die Stadtrandlandschaft gelaufen. Es war Februar. Ich kam über Wiesen, die unter den Schritten knirschten, dann in einen froststarren Wald. Hinter kahlem Dickicht lag plötzlich ein See. Ich setzte mich auf einen Stein am Ufer und sah zu, wie sich schwächliche Atemwolken über dem Wasser auflösten, das so farblos war wie der Himmel. Und sich plötzlich verfärbte. Denn über den hohen Bäumen, die das Gewässer säumten, wurde – blassgelb – Licht. „Jetzt steigt die Sonne auf!“ Und sie spiegelte sich – ich habe keine Ahnung, warum – im See gleich zweimal.
Es gibt Momente, die scheinen zu dem Leben, das wir gerade führen, nicht zu passen. Da ergibt sich ein Blick, da tut sich Schönheit hervor, da vollzieht sich mitten im Stillstand der Gang der Dinge. Ich starrte die drei Sonnen an. Ich wusste, sie würden nicht lange bleiben und fotografierte sie. Ich war immer noch allein, wenn ich das Bild wieder und wieder betrachtete, doch in meinem angespannten Gesicht zeigte sich eine Möglichkeit. Wer ist da bei mir?, habe ich mich im Stillen gefragt. Die tonlose Antwort war: der Schmunzel.
Er und ich sind seitdem ein Paar. Ich weiß nicht, wo er sich gerade aufhält, er kommt im entscheidenden Moment. Er stammt aus dem spätmittelhochdeutschen Wortschatz, ist uralt, zugleich eine angemessene Idee für das Heute. Er nicht der Ernst und nicht das Lachen, sondern eine Möglichkeit. Er ist keine strategische Antwort, sondern eine offene Frage: Wie könnte das Leben sein? Und er drückt immer ein Auge zu. An schlechten Tagen muss ich mich daran erinnern, dass es ihn gibt, dann male ich ihn in mein Tagebuch oder mit dem Finger in den Sand – so rasch, wie man das heutzutage macht: mit einer geschwungenen Linie und einem Punkt.
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Unser Alltag besteht aus Erziehung und Politik, aus Urteilen, Regeln, Trends, aus Dingen, die man tut, weil man sie zu erledigen hat, und Dingen, die man unterlässt, „weil man das so nicht macht“. Er ist ein Kampfplatz. Wir legen Vorhabenlisten an, die sich wie Schlachtpläne ausnehmen. Wir verschmähen den Zufall, vor allem das Unabwägbare. Wenn wir jemandem begegnen, finden wir heraus, ob es „der Richtige“ ist. Auf keinen Fall wollen wir „das Falsche“ tun. Anstatt die Exzesse des Nachdenkens zu riskieren, halten wir uns Meinungen. Der massive Einfluss auf das, was in uns vorgeht und mit uns geschieht, bringt uns, so scheint es zuweilen, um den Verstand.
Wir kümmern wir uns um unsere Ernährung und unsere Kondition, um den Rücken, die ganze Körperhaltung, um Entspannung, sogar um den Atem. Wir ringen um „Body Balance“, ziehen uns achtsam ins „im Hier und Jetzt“ zurück, haben persönliche Vorsätze und wünschen Vollzug. Wir sind bewaffnet. Und genaugenommen hat jeder von uns sehr viele Feinde. Denn bei unserem Kampf kommt es darauf an, „ich“ zu sagen und der gemeinschaftlichen Realität die Stirn zu bieten. Es geht nicht ums Miteinander, sondern um das Selbst.
Wann immer wir nicht weiterwissen, überfordert, angegriffen oder alleingelassen werden: Das Selbst ist uns sicher, denn es ist immer da. Es ist sinnvoll, sich diesem treuesten aller unserer Freunde zu widmen, seine Wünsche und Möglichkeiten zu kennen. Jedoch wissen wir auch über diesen Gefährten nur das, was wir wissen können. Er gilt als das „wahre“ Ich hinter der Maske, dabei ist er nur die Vorstellung, die wir davon haben, wer wir sind. Und vielleicht ist er eine Illusion.
Dennoch scheint es so, als wären wir alle nur unterwegs, um uns selbst zu finden. Der Alltag ist ein Kriegsschauplatz, der Schlachtruf lautet: Alles, was mich umgibt, korrumpiert mich nur! Dabei kann es das Ich ohne das Du gar nicht geben. Vielleicht wissen wir das ja insgeheim. Vielleicht treffen wir deshalb immer mal wieder gern andere Menschen. Sitzen zusammen und reden. Eigentlich geht es dann immer irgendwie um unser aller Leben. Aber allzu oft kurvt ein jeder von uns mit Meinungen und Allüren durch diese Gespräche und es prallt, wie beim Autoscooter, ein Ich aufs andere.
An guten Tagen, die anders sind als heute, wenn die alte Frau mit der weichen Haut und der durchsichtigen Frisur von ihrem Stuhl aufsteht, gehe ich mit ihr spazieren. Wir laufen direkt nebeneinanderher und kommen doch durch verschiedene Welten. In ihrer gibt nur den haltlosen Moment, weder die Zeit, aus der er hervorging noch das, was folgt. Weil sie nichts mehr kennt, fürchtet sie sich. Holt zur Abwehr beliebige Worte aus dem laschen Hirn, verteilt sie auf Gartenzäune, das Schilf, Boote, Bäume, einen Mann mit Hund. Dann scheucht sie die Ente, die sich gerade aus dem Fluss hangelt, ins Wasser zurück. Anfangs habe ich ihr ihre Welt ausgeredet und erklärt, was wirklich ist. Während ich sprach, bewegte sie sich hastig und ihr Blick schoss durch die Gegend. Mittlerweile experimentiere mit ihren ulkigen Vokabeln, vervollständige ihre sinnlosen Halbsätze, und übe ich mich in ihrer merkwürdigen Art, über das, was sich ringsum zeigt, zu sprechen. Währenddessen hält sie sich ganz ruhig an meiner Seite und schmunzelt.
In vielen Teilen des deutschen Sprachraumes ist „schmunzeln“, zumindest als gesprochenes Wort, aus der Mode gekommen. Man mag es nicht so, es ist ein Wagnis, eine Art Vertrauensvorschuss, dem man sich besser nicht hingeben sollte – ein Schmunzel eben, der andeutet, dass sich mit dem Niederlegen der Waffen vielleicht etwas Gutes ergeben kann. Ich war kein bockiges Kind mehr, als mir meine Mutter den zweiten Teil der Geschichte vom Soldaten erzählte: Während seine drei Feinde mitten auf dem Kampffeld über ihn schmunzelten, gelang es ihm nach und nach, Munition in seine Waffe zu schieben. Und dann hat er sie erschossen.
Es ist schon Abend, ich sitze immer noch neben meiner Mutter, sollte aber langsam nach Hause gehen. Man bittet mich, ihre gute Laune auszunutzen und mit ins Badezimmer zu kommen, denn sie hat sich seit drei Tagen nicht waschen lassen. Sie lässt sich ausziehen, doch als das Wasser angeht, schlägt sie um sich. Ich reiße mir die Sachen vom Leib, schlüpfe zu ihr unter die Dusche, zeige ihr meine vielen blauen Flecke. Vielleicht ist da noch irgendeine Erinnerung. Sie drückt einen Kuss auf jeden. Doch plötzlich wischt man mit einem Schwamm über ihren Rücken. Sie holt nicht groß aus, aber ihre Faust trifft mein Gesicht, Blut tropft auf die Fliesen. Als ich zum Bahnhof laufe, halte ich mir immer noch die Mullkompresse vor den Mund. Wer ist bei mir?, frage ich mich schon wieder. Manchmal wird man auf die eine oder andere Art erschossen. Aber man ersteht wieder auf. Und wenn man den Schmunzel, diese ergiebige Möglichkeit, erst einmal kennt, dann ist das was für immer.
Nadja Klinger