Irgendwann gerät so gut wie jeder Mensch an so einen Ort. Der eine, ohne dass er eine Tür öffnen und hindurchgehen muss, der andere, ohne überhaupt zu bemerken, was geschieht. Denn im Grunde muss sich der Schauplatz seines Lebens nicht verändern, nur er selbst. Sagen wir es so: An dem Ort, um den es hier geht, bewegt sich der Mensch nicht mehr auf dieselbe Art und Weise in der Kulisse wie bislang.
So wie der Mann, dem die Fotografin Sophie Kirchner an einem Sommertag am Ostseestrand begegnete: Er sah nicht aus wie ein Urlauber, der mal ein Typ auf einem Pferd sein wollte; er war im Zweitakt des Galopp unterwegs, bei dem das stolze Tier den Kopf hoch hält und nach jeweils zwei Bodenberührungen in eine kurze Schwebephase geht, in seinem Leben unterwegs. Sie sprach ihn an. Sie fotografierte ihn. Dann folgte sie ihm ein paar hundert Kilometer nach Süden, dorthin, wo er wohnt. In den Wald.
Die Stadt Dresden ist einst so in die Landschaft gesetzt worden, dass die Elbe sie durchkreuzt. Der breite Strom schlägt von Südosten nach Nordwesten genüsslich ein paar Bögen. Auf der Wasseroberfläche liegt der Himmel wie ein bequemer Läufer, der sich zwischen den Stadtteilen Blasewitz und Loschwitz, Friedrichstadt und Pieschen, zwischen Altstadt und Neustadt durch den Talkessel schlängelt. Meist ist der Fluss so schnell, dass er an den Spiegelbildern der Wolken zerrt. Wer auch immer am Elbufer der Stadt steht, sieht, in welche Richtung es weg von hier geht. Und wenn das Wasser zuckt oder buckelt, dann sind das die Strömungen. Wo sie in der Tiefe aufeinandertreffen, entstehen gefährliche Wirbel. Das weiß der Dresdner. Er weiß, dass sich das Wegkommen schwierig gestalten kann.
Aber muss man denn weg? Keineswegs. Nicht unbedingt. Vielleicht doch. Es ist wie überall: Der Mensch lässt die Gedanken kreisen, stößt so aber niemals auf eine Idee, die außerhalb des Radius liegt. Er spricht von dem Leben, das er sich wünscht, ohne das Satzzeichen zu setzen, hinter dem es beginnen kann. Oder er hat sich die Kulisse, in der er sich aufhält, selber gebaut – Jahr um Jahr und Tag für Tag. Er müsste sich dem eigenen Lebensentwurf widersetzen, eine Tür öffnen, durch die er dann geht und die er hinter sich zuzieht, um von einer Geschichte in die andere zu gelangen. So wie Romeo Kowalke.
Er kam 1959 in Dresden zur Welt. Die Familie lebte in Weixdorf, im äußersten Norden der Stadt. Er gab noch zwei Brüder und eine Schwester, doch keines der anderen Kinder hatte einen Vornamen, mit dem es sofort auffällig war. Die Eltern hatten den mittleren Jungen nach Romeo Venturelli benannt, einem italienischen Radrennfahrer mit großem Talent, der 1960 tatsächlich den Giro d’Italia gewann. Wer im Internet nach dem Grund sucht, warum der Hoffnungsträger dennoch kurz darauf seine Laufbahn beendete, findet die Erklärung, dass der Mann sich in der Welt des Profiradsports nicht zurechtfand.
Sollten Romeo Kowalkes Eltern Hoffnungen gehabt haben, so er sie wohl erfüllt. Seine Vergehen waren: einen Apfel aus der Auslage vorm Lebensmittelladen klauen. Oder: so viele leere Flaschen aus den Kisten nehmen, dass das Pfandgeld für Bonbons reichen würde. Seine Ängste: der umherstreifende Polizist, der das mit dem Apfel hätte sehen können, sowie der Verkäufer, der beim Angreifen einer leeren Flasche merken konnte, dass sie nicht in einer Tasche hergebracht worden war, sondern draußen in der Kälte gestanden hatte. Ansonsten verhielt Romeo sich stets wie vorgesehen. Ging bis 1976 zur Schule, dann wurde er Triebfahrzeugschlosser, war sogar ein guter Lehrling, denn, um eines Tages im Bahnbetriebswerk die Loks reparieren zu können, sah er im Lernen endlich sogar einen Sinn. Zudem hatte er die Maxime seiner Erziehung verinnerlicht: Welches Rennen es auch immer zu gewinnen gibt, all deine Kraft gehört in die Familie. „Das war, was sich mein Vater unter einem guten Leben vorstellte“, sagt Romeo heute, „also habe ich es so gemacht wie er.“
Anders gesagt: Er hat sein Dasein nach einer Idee gestaltet, die nicht seine war. Hat aufgebaut und aufgebaut und aufgebaut. Bis er eines Tages in Gefahr geriet, weil das, was er da schuf, zwar für andere, aber nicht für ihn selbst gut war.
Bevor sein erster Junge zur Welt kam, hat Romeo dessen Mutter geheiratet. Alles muss seine Ordnung haben. Auch dazu wurde er erzogen. Er war 19. Sechs Wochen wurde das Baby gestillt, danach nahm er es mit ins Werk, stellte den Kinderwagen auf die Wiese, zog sich um, arbeitete, bis die Zeit ran war, zog sich wieder um, ging in die Kantine, wo man ihm die abgepumpte Milch aufwärmte. Eines Tages kam der Meister vorbei, als das Baby im Arm des Jungfacharbeiters an der Flasche nuckelte. Kneif mich mal!, rief der. Bleib zu Hause und kümmere dich um dein Kind! Kurz darauf tauchte daheim eine Kollegin auf. Man hatte dem Baby einen Krippenplatz besorgt.
Auch an die Wohnung war das junge Ehepaar übers Bahnbetriebswerk gekommen. Hier lag die Ehefrau nicht nur mit ihrem Chef im Bett, als der Ehemann heimkam, sie hatte sich auch noch verliebt. Scheidung, Besuchsrecht. Alles für die Familie! Wenn er mit dem Sohn eine Weile durch den Zoo gelaufen war, fühlte Romeo sich nicht mehr wie ein Exmann, der alle 14 Tage pünktlich an seiner ehemaligen Wohnungstür klingelte und pünktlich wieder dorthin zurückkehrte, sondern immer noch wie ein Vater. Bis der vierjährige Junge das tat, wozu man ihn zu Hause erzog, und ihn „Onkel Romeo“ nannte.
Kurz bevor im Mai 1983 der Einberufungsbefehl zur NVA kam, hatte Romeo im Park eine Freundin geküsst, die er von früher kannte. Wenn ich sie vor der Armeezeit heirate, dachte er, habe ich danach eine Frau. Vielleicht hat die Idee Kraft für die Kaserne gegeben, vielleicht hat er deshalb beim Manöver so gut ausgesehen, dass man ihm eine Nacht Sonderurlaub schenkte. Da es daheim kein Telefon gab, konnte er sich nicht ankündigen. Deshalb lag, als er spätabends eintraf, schon jemand auf seiner Seite des Ehebetts. Er verprügelte den Konkurrenten, gegen den er schon verloren hatte, mit dem Koppel, dann verschloss er hinter ihm die Tür. Zumindest diese Idee ging auf: „Zur Strafe lag sie eine Nacht neben dem Mann im Bett, den sie nicht mehr liebte.“ Für den Termin vor Gericht gab’s den nächsten Sonderurlaub. Und die Gewerkschaft machte sich für ihn stark: Wer das Vaterland verteidige, dem stehe nach der Scheidung die Wohnung zu.
Schon vor der Armeezeit war Romeo vom Bahnbetriebswerk zur Deutschen Post gegangen. Rückblickend ist es leicht, Ereignisse als Teil einer Geschichte zu sehen. Halten wir wenigstens fest: Anstatt in der Werkhalle, war er nun draußen unterwegs, er wusste also bereits, was ihm nicht wirklich guttut. Es zog ihn ins Freie.
Und dann: Hatte er neben der leeren Wohnung auch noch eine ihm unbekannte Tochter? Das Kind war in der Zeit der Ehe entstanden, er wollte einen Test, dem Gericht genügte das Nein der Mutter. 1997 jedoch sollte er es plötzlich zur Adoption freigeben. Die Exfrau fing ihn vorm Gerichtsgebäude ab. Er möge drinnen bitte nicht die Nerven verlieren. Romeo sagte Guten Tag!, als er vor dem Mädchen stand, das aussah wie er, ihn aber nicht mal richtig anschauen wollte. Die Idee, andere wichtiger zu nehmen als sich selbst, war natürlich ebenfalls anwesend „Ich hätte kämpfen können“, sagt er. „Aber hätte sie das glücklich gemacht?“
Indes war er längst dabei, das, was er für seine Lebensaufgabe hielt, zu verwirklichen, denn er lebte in einer Familie. Die dritte Ehefrau hatte einen Sohn mitgebracht, ein weiterer Junge war geboren worden.
Sie wohnten in einem Mietshaus, Stube, Küche, vier Betten im Schlafzimmer – bis Romeo die Trennwand fertig hatte. Er baute auch die Badewanne ein. Den Wasserboiler. Dann tauschten sie die Wohnung gegen zwei kleine. Er machte eine große draus, baute eine Innentoilette. Zur Arbeit fuhr er auch jeden Tag. Das neue Frachtzentrum der Post lag vor der Stadt. Dort entstand eine Wohnsiedlung. Die Familie mietete ein Haus. Viel Baufläche. Während die Nachbarn in den Vorgärten saßen, zog Romeo Wände hoch und setzte Türen ein. Nach anderthalb Jahren musste er die Wände wieder einreißen, weil sie im Nachbardorf eine Doppelhaushälfte erworben hatten. Nun schaufelte er Gräben, verlegte Wasser-, Abwasser- und Stromleitungen, errichtete eine Garage, deckte das Dach, baute den Boden aus und einen Balkon an, während seine Frau die Woche über in Bonn arbeitete. Vielleicht vermisste er die Zweisamkeit. Rückblickend jedoch war er mit einem alltäglichen Kampf befasst: Freitagabends, wenn sie heimkam, sollte sie sehen, wie weit er schon wieder vorangekommen war.
Es gab Zeichen dafür, dass dies kein gutes Leben war. Er bemerkte sie. Und wiederum nicht. Um dem Hund, den seine Schwester loswerden wollte, das Tierheim zu ersparen, nahm er ihn an sich – obwohl er gar keinen Hund haben wollte. Nun war auch noch zweimal am Tag das Gassi gehen zu erledigen. Die Wege in der Natur führten durch einen großen Raum jenseits des Augenblicks. Romeos Gedanken gerieten in die Vergangenheit: Mit den Eltern war er oft durch die Dresdner Heide und das Elbsandsteingebirge gelaufen, hatte gesehen, dass Licht und Schatten wechseln, dass alles wächst, dass sich das Elbwasser unbeirrt nicht nur den Weg durch die Stadt, sondern auch um die Felsen herum bahnt. Aus der Distanz heraus blickte er auch auf die Gegenwart: Er meinte, sich des Tieres wegen von daheim entfernen zu dürfen, bemerkte nun aber, dass ihm dort niemand je das Weggehen versagt hatte – nur er sich selbst.
Vorankommen. Das Wort, das er häufig benutzte, bedeutete nicht: Schritte ins Moos setzen, vom Dickicht auf die Lichtung treten, über den Bach steigen. Die Natur fühlte sich an wie eine Chance. Er nahm das Fahrrad, der Hund tobte nebenher, am Gelände des Dresdner Flughafens machten sie Halt. Romeo setzte sich ins Gras. Und sah den startenden Maschinen hinterher.
Er hatte einen Tagtraum. Bilder aus alten Zeiten, die er selbst nicht erlebt hatte. Schlichte Lebensverhältnisse, kein Strom, die ganze große Familie lebt in einem Zimmer, morgens gehen alle zusammen mit den Sensen aufs Feld. Wenn er als Kind bei den Großeltern war, fiel ihm ein, haben sie abends immer gewürfelt.
Ein weiteres Zeichen: Aileen. Sie war Anfang 20, kam ins Haus, weil sie die Freundin des älteren Sohnes war, saß immer noch mit am Tisch, als der längst mit einer anderen Frau umherzog. Vielleicht hatte sie sich nie mit einer Idee vom Leben abgegeben. Oder der Anblick einer solchen kam ihr gleich verdächtig vor. Sie sah, was Romeo selbst entging: dass seine Energie schwand, bis er regelrecht leer war – gerade jetzt, da er und seine Frau die andere Haushälfte dazugekauft hatten und er dort baute, um sie zu vermieten. Aileen bemerkte, wenn er loslegen wollte und nicht konnte. Und sie wusste, er würde nur zufrieden sein, wenn er viel „geschafft“ hatte. Sie sagte: „Komm, wir drehen eine Runde!“
Romeo erinnert sich: „Bislang hatte es geheißen: ›Komm, stell dich nicht so an!‹“ Gut möglich, dass ihm niemand anderes, sondern er selbst sich das gesagt hatte. Er spazierte mit Aileen los, im Winter nahmen sie die Skier, waren zusammen, wenn er „seine“ Zeit hatte, er brachte ihr das Autofahren bei. Und dann bekamen sie es mit der Liebe zu tun.
Die Liebe ist kein Zeichen. Sie ist bereits passiert. Romeo war knapp über 50. Für den jüngeren Sohn war er sofort gestorben. Romeos großer Bruder sagte: „Das alles hier setzt man nicht aufs Spiel!“ Sein kleiner Bruder: „Du hast ein Haus!“ Und er dachte: „Aber es nimmt mich nicht in den Arm und sagt: Komm, heul dich bei mir aus!“ Wenn Mut da war, dann reichte er nicht, um zu gehen – nur bis zum Wohnwagen, den er sich in den Garten stellte. Zum Duschen und zur Toilette durfte er ins Haus. Dann fand sich eine kleine Wohnung. Dort merkten Aileen und er, dass es ihnen nicht guttat, jeden Tag aufeinander zu hocken. Romeo brach zusammen. Wann genau das war? Sein Zeitmaß sind Baustellen. „Ich hatte den Anbau fertig, nur der Putz fehlte noch“, sagt er. Und fügt hinzu: „Man baut sein Leben, anstatt zu leben.“
Ehe er an den Ort kam, wo seine Geschichte enden und eine neue Geschichte beginnen konnte, nahm er noch einen gruseligen Umweg. Er suchte seine Lieblingsplätze in der Natur auf, um zu sehen, ob er sich dort erhängen konnte. In Kleinsaubernitz am See war es immer so schön gewesen, dort starrte er die Trauerweide an, die auf dem Damm steht. Er prüfte Bänke im Wald, die Tische für die Wanderer, nachts im Traum verschlug es ihn nach Weixdorf, wo er die Bodentreppe des Elternhauses in den Blick nahm, bis er irgendwann hochschreckte, zum Telefon griff und in der geschlossenen Abteilung des Krankenhauses landete, in dem er geboren worden war.
Ein halbes Jahr später, nach einem Aufenthalt in der Klinik, blieb ihm wieder nur: der Wohnwagen auf der Wiese im Rücken des Lebens, das ihn fast umgebracht hatte.
Morgens floh er in die Natur, fuhr mit dem Rad durch die Dresdner Heide, einen der größten deutschen Stadtwälder, der sich zwischen dem Zentrum und der östlichen Stadtgrenze ausbreitet und zur Elbe hin sanft abfällt. Er ist aus Dickicht, hohen Laub- und Nadelbäumen sowie dünenartigen Sandablagerungen gemacht und voller gefährdeter Pflanzenarten. An vielen Stellen quellt Wasser aus dem Boden, Bäche kriechen kilometerweit und versickern. Rotfüchse leben hier, Dachse, Marder, Wiesel, Hasen, Igel, Eichhörnchen, Rothirsche, Rehe, Wildschweine, Fledermäuse, Libellen, Falter, Käfer. Über einen der Wanderwege, die zusammen mehrere 1000 Kilometer lang sind, kam er an das Flurstück, auf dem er später – manchmal tonlos, stets ungefragt, diesen Satz aussprechen würde: „Wie schön die Welt ist!“
Im Oktober 2012 hat Romeo Kowalke seinen Wohnwagen auf die Langebrücker Hofewiese gestellt: dicht neben ein altes Gutshaus, unweit von einem verfallenen Gasthof, den ein paar Dresdner gerade zu retten versuchen, gegenüber von Koppeln, direkt bei den Unterständen der fast 50 Pferde. Was woanders Mietvertrag heißt, formulierte er gegenüber der Frau, die mit Tochter und Sohn im Gutshaus lebt, selber: „Ich arbeite hier mit, du bringst mir das Reiten bei.“
Wieder begann er zu bauen. Aber mit einer Idee, die seine eigene war. Alle Kraft, die er investierte, floss zu ihm zurück: als der Koppelzaun stand; als die Buchten für die Pferde repariert und mit Dächern vervollkommnet waren; als er alte Straßenlaternen eingesammelt, mit dem Auto hergebracht und installiert hatte und es im Dunkeln auf dem Reitplatz hell war. Als er der Reitlehrerin, die ein Kind bekam, den Wickeltisch, später eine Spielecke baute. Auch sein Geld hat er in die Idee gesteckt, denn nicht immer fand sich Material im Wald. Jedes Jahr zur Heuernte gehen die Hofewiesenbewohner gemeinsam auf die Wiesen: mähen, wenden, schwaden, pressen, reinholen. Dann lebt Romeo in seinem seinen Tagtraum von den früheren Zeiten. Und ist abends einfach nur herrlich müde. „Mir geht geht nicht mehr durch den Kopf, wie weit ich ›vorangekommen‹ bin und was ich ›den Kindern hinterlasse‹“, sagt er.
Er hilft, wenn abends die Pferde von der Koppel getrieben oder verarztet werden müssen. Hat im Gutshaus ein Gemeinschaftszimmer eingerichtet. Falls er nicht mit anpacken oder mit den anderen zusammensitzen will, sagt er Nein. Er hat Holz aus dem Wald geholt, nach dem Sturm die gebrochenen Stämme gesägt, seinem Wohnwagen eine Art Kokon gebaut – mit Nistplätzen für Vögel. Seine eiskalte „Badewanne“ ist dort, wo sich der Bach staut, da schwimmen auch die Enten, die er jeden Morgen füttert. Zur handgefertigten Waldtoilette muss er, zuweilen mit Taschenlampe, ein paar Minuten laufen. Kälte stört ihn schon längst nicht mehr, er war ja immer auf Baustellen. Der Winter, der die Heide erstarren lässt, ist ein Wunder: „Gigantisch, was der so alles zaubert.“ Er lebe am schönsten Flecken von Dresden, sagt Romeo. „Nein! Ich lebe im Paradies!“
Nur ein einziger schwerer Gedanke ist ihm in den Wald gefolgt. Er sitzt im Hinterkopf, kommt manchmal hervor: „Warum bleiben die Menschen so lange in Situationen, in denen sie nicht gut aufgehoben sind; warum tun wir uns so schwer mit Veränderungen?“
Zum Wohnwagenkokon gehört auch eine kleiner Vorraum, wo er kocht, Kleidung aufhängt und wo Samy, der Kater, der ihm zugelaufen ist, seinen Schlafplatz hat. Was andere Menschen für Luxus halten oder bequem nennen, findet sich hier nicht. Eher von beidem das Gegenteil. Das Erstklassige an dem Ort, an den sich Romeos Geschichte durchgeschlagen hat, um neu zu beginnen, ist: mit Tieren zu leben. Den Tieren ist er nichts “schuldig“, er hat mit ihnen „keine Rechnung offen“ und wenn sie sich ihm zuwenden, dann bedingungslos. „Das ist mir in meinem Leben kaum passiert.“ Wenn auf der Hofewiese nichts ansteht oder er verreist, ist Romeo auf Apollo unterwegs, dem Pferd, das er gekauft und hierhergebracht hat. Der Wallach hat ihn angeschaut und ist ihm nachgegangen. „Pferde testen: Sieht er mich? Wie weit kann ich mich auf ihn einlassen, ohne Schaden zu nehmen? Sie machen das viel besser als wir Menschen.“
Fünfmal die Woche fährt Romeo zum Schichtdienst bei der Post. Das Paketzentrum ist neun Kilometer von „meinem Wald“ entfernt. Im Frühjahr hat man ihn zum Teamleiter gemacht, es hieß, er wäre der einzige, der das kann. Jetzt baut er Dienstpläne, vor allem aber muss er reden. Ernste Worte an langjährige Kollegen zu richten, das ist nichts, was guttut, das fällt ihm schwer. So wie – mittlerweile – auch die Nachtschichten. Sie sind das Gegenteil vom Leben mit der Natur. Wenn er heimkommt, ist er fix und fertig, wacht aber nach drei Stunden im Bett wieder auf.
Die Heimwege in der Nacht sind die schönsten. Er fährt durch den finsteren Wald und denkt daran, dass sein Pferd im Dunkeln viel mehr sieht als er. Und daran, wie schön es ist, ohne Sattel zu reiten, den kraftvoll wankenden Körper des Tieres, das Kontrahieren der Muskulatur zu spüren. Dabei starrt er in den Lichttunnel, den die Autoscheinwerfer in die Dresdner Heide rammen und der ins schwarze Nichts taucht, wo alles zu Ende zu sein scheint, aber doch ein Anfang ist.
Wo Samy und Apollo sind. Die Enten. Die anderen Pferde. Wo an Aileen wartet. Manchmal. An anderen Tagen bleibt sie in ihrer Wohnung am Rand der Heide. Sie schätzen das Zusammensein und das Alleinsein gleichermaßen. Begegnen sich immer wieder neu. Wie haben sie das hingekriegt? „Vielleicht, weil sie so ungewöhnlich jung ist“, sagt Romeo, „dass ich gar nicht erst auf die Idee gekommen bin, dass an meiner Partnerschaft etwas ›normal‹ sein sollte.“ Oder weil die Liebe, dicht gefolgt vom Winter, das gigantischste Wunder von allen ist?
Nadja Klinger